Nur eine Rose als Stütze – Die Wurzeln des Hildesheimer Domes

Merkwürdigerweise fällt mir, wenn ich an die Gründungslegende des Hildesheimer Domes denke, ein Vers von Hilde Domin ein. „Nur eine Rose als Stütze“ – unter diesem Titel beschreibt die Dichterin ihr Gefühl des Unbehaustseins in der Welt. „Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft … wie ein Nest im Wind auf der äußersten Spitze des Zweigs“. Ein größerer Gegensatz zum steinernen, tief in der Erde gründenden und seit vielen Jahrhunderten betende Menschen bergenden Dombau lässt sich kaum denken. Dennoch evoziert die oft erzählte Legende von der Stiftung der ersten Marienkapelle an Stelle des späteren Domes in meiner Vorstellung ein ähnlich poetisches Bild wie Domins Verse: Die Jagdgesellschaft Ludwigs des Frommen feierte in der Waldeinsamkeit einen Gottesdienst. Beim Aufbruch vergaß der Kaplan das in einen Strauch gehängte Marienreliquiar. Als er es tags darauf holen wollte, war es bereits so eingewachsen, dass es sich nicht mehr vom Geäst lösen ließ. An dieser Stelle gründete Ludwig der Fromme um 815 eine Kapelle als Keimzelle des neuen Bistums Hildesheim.

Abb. 1 Der tausendjährige Rosenstock

Mitte des 17. Jahrhunderts schrieb der Hildesheimer Jesuit Georg Elbers: „Viele sind überzeugt, dass der Strauch der Waldrosen, welchen man hinter dem Chore der Kathedrale erblickt derselbe sei, an welchem die Reliquien aufgehängt gewesen. Es ist nämlich einem Wunder nicht unähnlich, dass er nach so vielen Jahrhunderten über-standen hat, und nachdem er seine Wurzeln unter dem Altar der Gottesmutter selbst herausgeführt und von Hezilo, dem 17. Bischof, vor beinahe sechshundert Jahren mit einer dicken Mauer umschlossen wurde, dennoch jedes Jahr grünt und blüht.“
Obwohl einem naiven Wunderglauben bereits entwachsen, stand doch auch für Elbers der Zusammenhang zwischen Domgründung, tausendjährigem Rosenstrauch und dem Marienaltar in der Krypta außer Frage. Auch die 2014 abgeschlossene Sanierung des Domes hat diese Bezüge wieder augenfällig gemacht.

Doch zunächst konnten, bedingt durch die Baumaßnahmen, in den Jahren 2010 bis 2013 erst einmal Grabungen durchgeführt werden. Tatsächlich gelang es, die Fundamente der ersten karolingischen Marienkapelle und den Erdabdruck der ältesten Altarstelle des Bistums unter der romanischen Krypta freizulegen. Ein kleines Video erlaubt Ihnen, diese Entdeckung mitzuerleben, die den wahren Kern der Gründungslegende bestätigt.

Auch diese wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden bei der liturgischen Neuausstattung der Krypta berücksichtigt. Doch nicht nur die Krypta, sondern der gesamte Dom erhielt im Zuge der Sanierung ein neues Gesicht. Kern der insgesamt 37,2 Millionen € teuren Maßnahmen war die Sicherung der Bausubstanz. Der Hildesheimer Dom war, zusammen mit der einzigartigen Altstadt, am 22. März 1945 fast völlig zerstört worden. Der Wiederaufbau erfolgte in den notwendigerweise bescheidenen und bewusst kargen Formen der Nachkriegszeit.

Abb. 2 Die Schlichtheit der Nachkriegszeit – Der wiederaufgebaute Hildesheimer Dom vor der Sanierung

Ich muss gestehen, dass mir diese inzwischen fast ins Schäbige abgleitende Schlichtheit der 50er Jahre ans Herz gewachsen war. Sie leugnete nichts. Sie versuchte nicht, die tiefen Wunden, die der Krieg geschlagen hatte, und die unwiederbringlichen Verluste vergessen zu machen. Die Betondecke und der Fußboden, der gleich als neu zu erkennen war, weil er die Säulenbasen verdeckte, waren ehrlich. Lediglich der Apsis verlieh ein modernes Mosaik von Ludwig Baur eine unaufdringliche Pracht. Letzteres ist nun ebenso wie die Betondecke unter einheitlich hellem Putz verschwunden. Überhaupt erschien der gesamte Kirchenraum bei seiner Wiedereröffnung am 15. August 2014 strahlend hell. Ein Bekannter meinte etwas ironisch, Hildesheim habe nun einen großartigen protestantischen Dom. Auf diesen Gedanken konnte jemand kommen, der bunte Bilderfülle und geheimnisvolles Dämmerlicht für typisch katholisch hält. Wenn Sie den neugestalteten Dom corona-conform von daheim aus erleben möchten, sei Ihnen der digitale Rundgang empfohlen, der auf der Homepage des Hildesheimer Domes zur Verfügung gestellt wird:

„Die Dinge sichtbar machen“
Mit der Neugestaltung des Domes wurde das Kölner Architekturbüro Schilling beauftragt. Johannes Schilling fasste das Konzept knapp zusammen: „Den Raum klären. Die Liturgie ordnen. Die Dinge sichtbar machen.“ In der Tat gewann der Dom eine wunderbare Klarheit und Ordnung. Die große West-Ost-Achse wird durch wichtige Ausstattungsstücke neu betont. Im Westen empfängt den Besucher das romanische Bronzetaufbecken. Hier beginnt der christliche Lebensweg. Der große Heziloleuchter kehrte ins Mittelschiff zurück.

Abb. 3 Klarheit und Ordnung – Der romanische Heziloleuchter nun wieder im Mittelschiff des Domes

Ihm antwortet im Osten der kleinere romanische Thietmarleuchter, der aus der benachbarten Antoniuskirche nun in den Chor des Domes übertragen wurde. Wichtigster Ort auf dieser Achse ist jedoch der neue Altar, den Ulrich Rückriem aus mächtigen Steinblöcken schuf. Hinter ihm steht nun die einst wohl als Osterleuchter verwendete Irminsäule, die nun statt eines Marienbildes ein schlichtes Bergkristallkreuz aus der Werkstatt von Ulla und Martin Kaufmann in Hildesheim trägt. Die Säule aus römischem Kalksinter hielt man ehedem für ein heidnisches Kultbild, das nun mit dem Triumphzeichen des Christengottes bekrönt ist. Doch hier endet die West-Ost-Achse noch immer nicht. Die nun farblos verglasten neuen Fenster lassen nicht nur viel Licht einströmen, sondern sie lassen auch schemenhaft den tausendjährigen Rosenstock erahnen, der die Außenseite der Apsis umrankt. Innen im Kirchenraum wird im aufleuchtenden Kristallkreuz der Irminsäule das Zeichen des Todes zu einem Symbol des Lebens. Doch auch der Rosenstock draußen an der Mauer ist, spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ein Symbol der Hoffnung – auch für nicht gläubige Menschen. Unter dem Schutt begraben und verdorrt, wähnte man die Rose erstorben. Aber inmitten aller Verwüstung und Zerstörung begann sie 1945 wieder zu treiben und schließlich zu blühen. Der durch die neuen Fenster hergestellte Bezug zwischen innen und außen ist meiner Meinung nach sehr überzeugend und macht den Osterglauben sinnfällig. Die beschriebene, im Übrigen ganz traditionelle Blickachse von Westen nach Osten erschließt sich dem Eintretenden unmittelbar.
Eine andere Achse, die fast als Zeitstrahl zu beschreiben wäre, bleibt hingegen zunächst unsichtbar. Der aufmerksame Betrachter mag sich aber vielleicht fragen, warum ausgerechnet die Unterseite des neuen Zelebrationsaltares von Ulrich Rückriem vergoldet wurde. Die mächtige steinerne Mensa liegt auf zwei seitlichen Stützen auf, deren Innenseiten im Glanz des aufgelegten Blattgoldes strahlen. Woher rührt dieses imaginäre Licht? Es ist gleichsam der Reflex des goldenen Godehardschreines, der direkt unter dem Altar in der Krypta steht. Der Schrein des ersten als Heiliger verehrten Bischofs von Hildesheim ist als Sepulchrum gedacht, das normalerweise in die Altarplatte oder den Stipes eingelassen wird. Aber in der Frühzeit der Kirche wurden die Altäre tatsächlich über den Gräbern der Märtyrer errichtet. In mittelalterlichen Kirchen ruht der Altar oft auf einem steinernen Pfeiler, der auf dem Heiligengrab in der Krypta gründet. Bei der liturgischen Neuordnung des Hildesheimer Domes wurde dieser uralte Bezug mit künstlerischen Mitteln sinnfällig gemacht.

Abb. 4 Die Krypta des Hildesheimer Domes

In der Hildesheimer Domkrypta weist die West-Ost-Achse schließlich auf den modernen Marienaltar und die Stele dahinter, die eine gotische Sitzmadonna trägt. Der sehr schlichte Altartisch steht in der Nachfolge des ersten Marienaltares des frühen 9. Jahrhunderts, dessen Erdabdruck bei den jüngsten Grabungen aufgedeckt wurde. Er markiert den Ort, wo die Geschichte des Bistums vor mehr als 1200 Jahren begann. Der Grundriss der ersten Marienkapelle ist an der Verlegung des neuen Fußbodens abzulesen. Ich persönlich hätte mir für den Altar eine massiver wirkende Form gewünscht, wenn man schon nicht den Vorgänger erhalten wollte. Durch die Madonnenskulptur ist die Patronin des Domes im Bild anwesend. Eine viel unmittelbarere Präsenz bietet das in die Stele eingelassene Reliquiar.

Abb. 5 Das Heiligtum Unserer Lieben Frau – Die karolingische Reliquienkapsel mit der gotischen Fassung

Hierbei handelt es sich um das Herzstück des Hildesheimer Domschatzes, das sogenannte Gründungsreliquiar oder „Heiligtum Unserer Lieben Frau“. Traditionell wird es mit dem Behältnis identifiziert, das der vergessliche Kaplan Ludwigs des Frommen im Geäst des Rosenstrauches zurückgelassen haben soll. Merkwürdigerweise ist nicht belegt, welche Reliquien es ursprünglich enthielt. Im Jahre 1680 wurde es nämlich entwendet und seines Inhalts beraubt. In das wenig später wiedererlangte leere Behältnis wurden Herrenreliquien („vom Blute des Herrn, vom heiligen Kreuzholz, vom Grabe des Erlösers“) sowie Partikel von Haaren und Gewändern Mariens aus dem Bestand des Domschatzes eingefügt. Vermutlich enthielt es auch vor der Beraubung Marienreliquien, da vor allem an Marienfesttagen Prozessionen mit dem Reliquiar veranstaltet wurden. Wenn der Bischof es hoch zu Ross in die umliegenden Ortschaften trug, bediente er sich eines Riemens, auf dem die Anfangsworte des Ave Maria zu lesen waren. Eine Fassung mit sichernden Zierbändern und ein Fuß wurden im späten Mittelalter hinzugefügt. Es handelt sich um einen Anachronismus, wenn eine historische Darstellung der 1367 stattgefundenen Schlacht bei Dinklar das Objekt mit dem wie ein Kelchfuß aussehenden Ständer zeigt. Damals soll Bischof Gerard das Schlachtenglück zu seinen Gunsten gewendet haben, indem er das Marienreliquiar, sicher noch ohne den gewiss hinderlichen Fuß, „aus seinem weiten Mawen“ (Ärmel) gezogen habe. Die neuerdings in der Krypta aufgestellte Sitzmadonna könnte mit einem von Bischof Gerard gestifteten Marienbild identisch sein.

Abb. 6 Gotische Madonnenfigur in der Domkrypta

In die Stele unterhalb der Figur ist in einer kleinen Vitrine nur die karolingische Silberkapsel ohne Fassung und Fuß zu sehen. Sie wurde bei der liturgischen Neuordnung der Krypta gewissermaßen als Sepulchrum des Marienaltares interpretiert. Das Behältnis zeigt symmetrisch angelegte Ranken, die ein Lebensbaummotiv bilden. Die äußere Form scheint merkwürdig. Sie ließe sich vielleicht am ehesten als Hälfte eines runden Broten beschreiben, das auf dem Anschnitt liegt.

Abb. 7 Das Gründungsreliquiar ohne Fassung in der Vitrine – „Die Dinge sichtbar machen“

Auf der abgerundete Oberkante ist ein Vers aus dem Alten Testament kaum noch zu entziffern: CORPORA SANCTORVM IN PACE SEPVLTA SVNT (Die Leiber der Heiligen sind in Frieden bestattet). Die Inschrift scheint nur schlecht zu einem Marienreliquiar zu passen, so dass von der Forschung eine Zweitverwendung eines früh-karolingischen Stückes in Erwägung gezogen wurde. Das Heiligtum Unserer Lieben Frau spielte im Rechtswesen des Bistums eine wichtige Rolle. Es vertrat gewissermaßen die Gottesmutter selbst, wenn Bischöfe und Domherren vor den Reliquien ihren Eid ablegten. In alten Zeiten, als ein neu erwählter Bischof zum Zeichen seiner Inbesitznahme des Bistums noch auf den Altar gesetzt wurde, reichte man ihm anschließend das Gründungsreliquiar, das er ehrerbietig so lange „bis der ambrosianische Lobgesang abgesungen war“ in Händen hielt. Auch bei der Bischofsweihe von Dr. Heiner Wilmer 2018 wurde dem frisch Inthronisierten das Gründungsreliquiar in die Hand gegeben.
Dieses religiös und historisch bedeutende Objekt bildet nun den Schlussakkord im Osten der Domkrypta, wodurch „ein Ding sichtbar gemacht“ wurde, wie es Johannes Schilling vielleicht ausdrücken würde. Aber auch hier kann man, wie in der Apsis des Domes selbst, den Rosenstock jenseits der farblos verglasten Fenster ahnen. Damit verflechten sich Rose, Reliquiar und Marienaltar zu einem Bild der Gründungslegende. So gesehen und verstanden hat das Heiligtum Unserer Lieben Frau wirklich „nur eine Rose als Stütze“.

Bildnachweis:
Titelbild: © Euromediahouse Hannover (M. Zimmermann)
Abb. 1 Foto: Michael Fiegle, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported licence
Abb. 2 Foto: Dronkitmaster, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported licence
Abb. 3 u. 6 Foto: Arnoldius, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International licence
Abb. 4 Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International licence
Abb. 5 Foto: Bistumsarchiv Hildesheim, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported licence
Abb. 7 Foto: Rabanus Flavus, Creative Commons CCO 1.0 Universial Public Domain Dedication

31. März 2021 || ein Beitrag der Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters