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Pavel Haas – Ein jüdischer Musiker aus Brünn

Neben Prag ist Brünn (Brno) als Hauptstadt Mährens der zweite Brennpunkt des tschechischen Musiklebens, das sich im 20. Jahrhundert nicht nur auf die Namen Bohuslav Martinu, Leos Janácek und Josef Suk beschränkt. Viele begabte Musiker haben hier die zweistufige Komponistenausbildung durchlaufen, sind heute aber größtenteils vergessen.

Brno: Postkarte 1892 (CC gemeinfrei, Autor unbekannt)

LEOS JANÁCEK wirkt in der Zwischenkriegszeit als strenger Lehrer an seiner „Meisterschule“ für Absolventen des Brünner Konservatoriums und der Schauspielschule. Seine Hörer regt er – nebst den Unterweisungen anhand der Werke klassischer Meister – zu eigenen Kompositionsübungen an und der rege Opern- und Konzertbetrieb in Brünn leistet das Seinige zur Förderung der jungen Talente.

Pavel Haas als Schüler von Leos Janácek

Pavel Haas (mit freundl. Genehmigung der OrelFoundation)

1899 als Sohn eines Schuhmachers und einer russischen Mutter geboren ist dem Buben schon früh eine Pianisten-Laufbahn vorgezeichnet und als Teenager hebt er bereits zur großen Komponisten-Geste an. Sein Wurf mit 13 Jahren: das „Konzertstück“ für Klavier. Es folgen kleine Werke für Kammermusik und die „Lieder im Volkston“ op. 1. Nach dem Abschluss des Konservatoriums wird er in Janácek’s Meisterklasse an der Hochschule aufgenommen und schafft unter dessen Führung sein Opus 3 – das Streichquartett Nr. 1. Haas wagt sich früh an die „Königsdisziplin“, galt doch das Streichquartett bei großen Meistern wie Brahms, Debussy oder Ravel als Hürde, die große Reife voraussetzt. Haas‘ Quartett zeigt bereits eine breite Palette des Ausdrucks: Auf eine klassische Fuge (lento) in cis-Moll aus Haltetönen im Sekundenschritt folgen heftig rhythmisierte Abschnitte, mit penetranten Synkopen dramatisch gesteigert, dann wiederum sphärenhafte Klangwolken in höchsten Lagen mit dominantem Cello als Melodie-Träger. Den Schluss des einsätzigen Werks bildet die Reprise der langsamen Einleitungsfuge, mit einem pp-Pizzicato-Akkord – dies der Eingriff seines Lehrers, denn das Stück sollte einem symmetrischen Bauplan entsprechen.
Janácek’s Fußabdruck findet sich ebenso deutlich in Haas‘ Abschlussarbeit der Meisterklasse, der symphonischen Dichtung Scherzo triste op.5: ein pulsierendes Gefüge aus synkopierten Kopfmotiven in den Oberstimmen über den Bass-Ostinati, Pauken inklusive, dazwischen ein Innehalten mit filigraner Sehnsuchtsmelodik in den Streichern. Das Werk erreicht – überdies ohne Fortissimo-Effekt – die ganze Fülle des Orchesterklangs, schließt sodann im hochromantischen Dur, als Pianissimo-Ausklang von Mahler’scher religiöser Tiefe.

Schwieriger Karriere-Start

Dem jungen Komponisten winkt vorerst noch keine Karriere in Brünn. So verdient er seinen Lebensunterhalt als Mitarbeiter im väterlichen Schuhgeschäft. Daneben liest er deutsche Literatur und verbessert sein Deutsch, das er schließlich besser spricht als tschechisch. Gelegenheitskompositionen fürs Theater (z.B. Bühnenmusik zu „Wozzek“) bleiben ohne Nachwirkung. Einen ersten Erfolg des von Janacek emanzipierten Musikers stellt sich mit dem Liedzyklus Fata Morgana op. 6 (1923) ein, für Bariton und Klavierquintett auf Texte von R. Tagore. Auf einen impressionistisch anmutenden Einstieg folgt der Dialog zwischen Sänger und Musiker, gespickt mit Dauerwechseln zwischen Dur und Moll und mit polyrhythmischen Einschüben, ein Werk von tiefer Emotionalität, inspiriert durch eine persönliche Liebesenttäuschung.

Zeit der Reife

Nach einem Sommeraufenthalt 1924 im mährischen Gebirge schreibt Haas sein zweites Streichquartett („Von den Affenbergen“) op. 7, ein tonmalerisches Kaleidoskop, Programm-Musik vom Feinsten, in Anlehnung an Smetanas „Ma Vlast“. Zu Beginn („die Landschaft“) kreist ein pulsierendes Ostinato der Mittelstimmen wie Herzrasen um das einfache Hauptmotiv aus Terz und Quarte, welches in seiner Erweiterung später ins Arioso des Mittelteils mündet, zu einem entzückenden Nachtigallengesang der 1. Violine über einem ruhig dahinfließenden es-moll-Akkord, gefolgt vom wiederum stürmendem Drängen der verzahnten Motive bis zum beruhigten Abschluss des 1. Satzes. Geradezu grotesk muten sodann die stöhnenden Glissandi des 2.Satzes an („der Kutscher und das Pferd“), wo der mühevolle Trott in den Galopp übergeht, mit dem Echo von mährischen Volkstänzen. Träumerisch danach das innige Largo („der Mond und ich“) mit schwebenden Unisono-Linien über dem tiefen Akkord-Teppich – ein emotionaler Höhepunkt. Gegen Ende wiederum das Nachtigallen-Motiv des ersten Satzes mit einem pp-Verklingen im Dunst der Landschaft. Mit dem letzten Satz konterkariert Haas das Vorhergehende: Schroffe Triller und harte synkopierte Tanzrhythmen erinnern an Bartok’sche Bauerntänze. Dazu eine fast karnevaleske Schlagzeug-Einlage, was bei der Uraufführung für Stirnrunzeln sorgt (Janácek hätte ihm so etwas niemals durchgelassen). Nach einem filigranen lyrischen Gesang endet der Spuk mit dem holprigen Rundtanz des Anfangs.

Prekäre Lebensumstände

Mitte der 1930er Jahre wird Pavel Haas Teil des Brünner Kulturlebens, mit Rundfunk- und Bühnenkompositionen, mit Filmmusik, mit der großen Oper Der Scharlatan (UA 1938) für das Brünner Landestheater. In diese Jahre fällt auch seine Heirat mit der Russin Sonja Jakobson und die Geburt der Tochter Olga 1937. Nicht zu vergessen die journalistischen Beiträge zur Brünner Kultur und zur neuen Musik für die Zeitschrift „Narodny noviny“. Durch den Aufstieg Nazi-Deutschlands und die Besetzung des Sudetenlandes 1938 verdüstert sich Haas‘ Zukunft. Diverse Versuche, sich ins Ausland abzusetzen (Teheran, Sowjetunion, USA, England) scheitern am Visum, im Gegensatz zu seinem Bruder, der als Schauspieler nach Amerika emigriert. Pavel muss als Jude das Schlimmste befürchten, vor allem seit dem Einmarsch der Deutschen 1939: Seiner Frau wird die ärztliche Praxis entzogen, doch über die „Idee“ einer formalen Scheidung gelingt es ihr – als nichtjüdische Russin – die Arbeit wieder aufzunehmen und so die Familie zu ernähren.


St. Wenzels-Choral (gemeinfrei)

Ab 1937 schleichen sich dunklere Töne in Haas‘ Kompositionen, und mehr und mehr schimmert die melodische Linie des uralten St. Wenzels-Chorals (13. Jhdt.) durch die Partituren, seine Art der Besinnung auf die tschechischen Wurzeln und als Ausdruck des Widerstands gegen die Besatzung. Zu den Werken dieser Periode gehören der Psalm 29 op. 12 (1932), die Klaviersuite op. 13 (1935) mit einem Eingangspräludium in Bach’scher Manier, ein erfolgreiches Stück dank der brillanten Aufführung seines Pianisten Freundes B. Kaff, eine Suite voller Überraschungen, dann die obgenannte Scharlatan-Musik, das 3. Streichquartett op. 15 (1938) mit Verweisen auf „Scharlatan“-Motive, an Janácek’s „Glagolitische Messe“ und – wie so oft – auf den St. Wenzels-Choral, insgesamt ein von Sehnsucht und religiöser Atmosphäre geprägtes Werk. Zu nennen auch die Suite für Oboe und Klavier op. 17 (1939), die instrumentale Umarbeitung einer Widerstands-Kantate gegen die Deutschen, wiederum mit Zitaten aus dem St. Wenzels- und dem Hussiten-Choral, am Ende eine unvollendete grosse Symphonie (1940/41), mit einer Karikatur des „Horst-Wessel-Lieds“ als Einlage, mit Anklängen an Chopins Trauermarsch und mit dem Hussitenlied „Die ihr Gottes Streiter seid“ – allesamt Elemente der sich auflehnenden Menschen, Ausdruck einer klagenden Volksseele.

Theresienstadt und Auschwitz

Noch vor Abschluss der Symphonie wird Pavel Haas am 2. Dezember 1941 nach Theresienstadt deportiert, wo er – gesundheitlich schwer angeschlagen und psychisch am Ende – mit anpacken muss, das Lager für die noch zu erwartenden Häftlinge einzurichten. Trotz aller Widerwärtigkeiten rafft er sich auf, hier im Ghetto wieder zu komponieren. Ein Lied der jüdischen Pioniere in Palästina gegen die feindlichen Araber inspiriert ihn zu seinem Chorwerk Al S`fod mit hebräischem Text, nach dem Motto „Weine nicht, klage nicht, arbeite!“ – eine Art jüdischen Gospelsongs, Geste des Widerstands und Durchhalteparole gleichermaßen.


Al S’fod – Titelblatt (CC BY-SA 3.0)

Im Ghetto gehörte Pavel Haas zur Crew des Musiklebens, mit Viktor Ullmann, Gideon Klein, Hans Krasa, Karel Ancerl, den Pianisten B. Kaff, R. Schächter u.v.a.- Sein vielleicht bedeutendstes Werk aus Theresienstadt, die Studie für Streichorchester (1943) wird vom Lagerorchester unter Karel Ancerl vor ausländischen Besuchern und viel SS-Prominenz aufgeführt (zu sehen als Ausschnitt des Propaganda-Films „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“). Das Stück rollt heftig an: Über die pulsierenden 6/8- Noten als Ostinato-Einleitung meldet sich das Hauptthema im 3/4-Takt, welches wenig später in eine Fuge mündet. Auffallend dabei die Motivarbeit innerhalb des Tritonus und die Zitate aus mährischen Volksweisen. Das Stück endet – nach zyklischem Konzept – mit den pulsierenden Elementen der Einleitung.

Haas verneigt sich nach der Aufführung seiner „Studie“ unter Karel Ancerl (aus dem Film von Kurt Gerron † 1944, wieder aufgenommen in „The Rest is Noise“ von Alex Ross, Kap. 9)

Im letzten erhaltenen Werk gießt Haas eine ganze Seele aus, in den 4 Liedern nach Worten chinesischer Poesie (1944) für Bassbariton und Klavier. Es sind Texte der Verlorenheit, der Sehnsucht nach Heimat, der Flucht in den Traum („Du Schlaf, gib mir einen Traum….über die Rückkehr nachhause…heim, heim“). Musikalisch erklingt hier ein Echo aus der früheren Suite für Oboe und Klavier von 1939. Die 4 Lieder werden zusammen mit anderen Werken, z.B. der „Partita im alten Stil“ (1944) noch öfters im Ghetto aufgeführt.
Nach Vollendung dieser Traumgesänge wird Pavel Haas im Oktober 1944 zusammen mit seinen Künstlerfreunden nach Birkenau verschickt, wo er sofort nach der Ankunft in Zweierformation vor Mengele anzutreten hat: der Schwächere wurde jeweils ins Gas geschickt, der Stärkere zur Arbeit. Haas steht zusammen mit Karel Ancerl vor dem Selektions-Tisch – Mengele zögert eine Weile… Da provoziert Pavel absichtlich einen Hustenanfall, um seinen besten Freund vor dem Gas zu retten.
Ancerl überlebt und widmet sich später den Werken von Pavel Haas.

Vor der Wende von 1989 war der Name Pavel Haas kaum bekannt, es sei denn da und dort ein Eintrag in einem Musiklexikon. Danach setzen Studien über die von den Nazis verfolgten Musiker ein. Als Hauptquelle für diesen Beitrag gilt die eingehende Biographie von Lubomir Peduzzi, 1996 auf Deutsch erschienen. Zeitgleich finden sich Platteneinspielungen kurz vor und vor allem seit 2000. Ein besonderer Verdienst geht an das 2001 gegründete „Pavel-Haas-Quartett“. Das hinreißende Spiel der vier jungen tschechischen Musiker hat sie auf die internationale Bühne gebracht und wesentlich zur Rezeption unseres Komponisten beigetragen.

Pavel Haas: String Quartet No.1 (1920)

DISCOGRAPHIE
„Pavel Haas Discography“: 38 CD’s, davon 5 ausschließlich mit Werken von P. Haas

BIBLIOGRAPHIE
Lubomir Peduzzi: Pavel Haas, Leben und Werk des Komponisten, Hamburg 1996
Diverse Lexika-Artikel

An dieser Stelle danken wir Herrn Dr. Zemp für die Bereitstellung seiner beeindruckenden Beiträge über großartige Musiker und deren Leben und Wirken in Theresienstadt.

Hier können Sie alle Beiträge noch einmal nachlesen:

Theresienstadt: Nazi-Zitadelle – Judenghetto – Hochburg der Shoah-Musik

Gideon Klein – das frühe Verstummen des jüdischen Musikers

Hans Krása – Von der Prager Bohème ins KZ

Pavel Haas – Ein jüdischer Musiker aus Brünn

16. November 2021 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.

Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.