Erich Kästner als Humorist und Moralist
Erich Kästner (1899–1974) gilt als einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der – ähnlich wie Thomas Mann (1875–1955), Hermann Hesse (1877–1962) und Bertolt Brecht (1898–1956) – weltbekannt war und es auch geblieben ist. Anders aber als die drei anderen Autoren verdankt Kästner seinen Ruhm hauptsächlich einer literarischen ‚Sondergattung‘: dem Kinderbuch. Als der am 23. Februar 1899 in Dresden geborene Kästner 1929 in deutschen Landen und auch in anderen Ländern ebenso schlagartig wie nachhaltig berühmt wurde, lag das vor allem an einem Buch: „Emil und die Detektive“. Wahrscheinlich hat seit den 1930er Jahren jede Generation und jedes Kind diesen spannenden Kinderkrimi gelesen und/oder eine der mittlerweile acht Verfilmungen gesehen – die erste von 1931 (an der Kästner selbst mitgewirkt hat), die letzte von 2001.
Während Kästners Renommee als Kinderbuch-Autor ungebrochen scheint – unter anderem durch die dem „Emil“ folgenden Kinderbücher, die auch heute noch viele Kinder lesen oder vorgelesen bekommen (wie „Pünktchen und Anton“, „Das fliegende Klassenzimmer“ oder „Das doppelte Lottchen“), droht ein wenig in Vergessenheit zu geraten, dass er mit „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ (1931) auch einen bedeutenden Berliner Großstadtroman vorgelegt hat sowie zahlreiche hellsichtige und hintergründige Gedichte, die ihn als Humoristen und Moralisten, mitunter auch als versierten Sprachartisten ausweisen.
Muttersöhnchen und Musterschüler
Die Basis seines Erfolgs werden bereits in seiner Kindheit von seiner ehrgeizigen Mutter, Ida Kästner (1871–1951), gelegt, die – seit 1892 mit dem vier Jahre älteren Sattlermeister Emil Richard Kästner (1867–1957) verheiratet – ihr einziges Kind Erich lebenslang vergöttert hat, und dieses sie. Sie sorgte dafür, dass aus dem Muttersöhnchen ein Musterschüler wurde und aus diesem ein Vorzeigelehrer werden sollte. Aber daraus wurde nichts – denn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914–1918) bedeutete einen tiefen Einschnitt, den Kästner in seinen autobiographischen Erinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“ (1957) folgendermaßen kommentiert: „Der Weltkrieg hatte begonnen, und meine Kindheit war zu Ende.“ Wie traumatisch diese Zeit gewesen sein muss, in der viele seiner Klassenkameraden zum Kriegsdienst eingezogen wurden – gleichsam von der Schulbank in die Schützengräben – bringt Kästner später in dem Gedicht „Primaner in Uniform“ (1930) zur Sprache, dessen erste Strophe bereits den desillusionierenden Ton für die folgenden neun Vierzeiler anschlägt:
„Der Rektor trat, zum Abendbrot,
bekümmert in den Saal.
Der Klassenbruder Kern sei tot.
Das war das erste Mal.“
Dem Lebensgefühl seiner durch den Krieg geschädigten Generation hat Kästner – der 1917, 18-jährig, zum Militär einberufen worden war und, da er exzessiv exerzieren musste, ein langwieriges Herzleiden davontrug – in dem Gedicht „Jahrgang 1899“ eindrucksvoll Ausdruck verliehen. Nach dem Krieg legte er 1919 das Abitur (mit Auszeichnung) ab und wurde nach dem Studium in Leipzig 1925 zum Dr. phil. promoviert (wieder mit Auszeichnung).
Verseschmied und Erfolgsautor
Neben und nach seinem Studium hat Kästner als Journalist und Theaterkritiker für die ‚Neue Leipziger Zeitung‘ zahlreiche Artikel verfasst und Gedichte geschrieben – meist, wie später auch, in Kaffeehäusern. 1927 aber wurde dem als zu (sozial-)kritisch geltenden Kopf gekündigt. Vorwand bot ein ‚erotisches‘ Gedicht, das „Abendlied des Kammervirtuosen“, zu dem sein Freund Erich Ohser (1903–1944) eine die Gemüter aufregende Zeichnung beigesteuert hatte: Beiden – dem Dichter wie dem Zeichner (dem auch gekündigt worden war) – wurde ‚Frivolität‘ vorgeworfen. Seine in diesen Jahren vielfältigen Erfahrungen in amourösen Angelegenheiten, die Kästner oft in zweideutigen Versen und Strophen gefasst hat, die von vielen (nicht nur seiner) Zeitgenossen als (zu) freizügig empfunden wurden, katapultierten den aufstrebenden Journalisten aus der Redaktionsstube der ‚Neuen Leipziger Zeitung‘ in das oft als Babylon bezeichnete Berlin von 1927. Dort stellte sich der Erfolg ein, den er (und seine Mutter) sich so sehnlich gewünscht hatte(n): Denn 1929 erscheint sein erstes Kinderbuch – das wie viele seiner Kinderbücher – von seinem Freund Walter Trier (1890–1951) illustriert wurde: „Emil und die Detektive. Roman für Kinder“ galt als ein sehr modernes Buch, da es für die damalige Kinderliteratur äußerst ungewöhnlich war, dass ein Roman in der Gegenwart und größtenteils in einer Großstadt spielte: in Berlin – rund um den Potsdamer Platz, den Alexanderplatz und den Nollendorfplatz, aber auch entlang des Kurfürstendamm und Unter den Linden. Die genannten Straßen und Plätze, einige Cafés und Hotels lernt der 12-jährige (Muster-)Schüler Emil Tischbein kennen, nachdem ihm während seiner Bahnreise von seiner Heimatstadt Neustadt nach Berlin ein Dieb die 140 Mark gestohlen hat, die ihm seine verwitwete Mutter, die sich – wie Kästners Mutter – als Friseuse verdingt, für seine in der preußischen Hauptstadt lebende Großmutter mitgegeben hat.
Da Emil, der im Zug eingeschlafen war, den Diebstahl immerhin bemerkt, beschließt er, den Bösewicht vom Bahnhof aus zu verfolgen. Bei seiner Verfolgungsjagd lernt er einige gleichaltrige Berliner Jungen kennen, die dem Dieb quer durch Berlin folgen – und ihn schließlich auch ‚stellen‘ und der Polizei übergeben können. Dass sich aus einer spannungsgeladenen Handlung, mit amüsanten Dialogen und kindgerechten ‚Erzählerreflexionen‘ – und nicht mittels eines erhobenen Zeigefinger – auch viele Einsichten ergeben (übrigens nicht nur für Heranwachsende, sondern auch für Erwachsene), macht die besondere Qualität dieses Kinderkrimis in pädagogischer und literarischer Hinsicht aus. Da „Emil und die Detektive“ ein riesiger Erfolg wurde, versucht Kästner daran anzuschließen und legt mit „Pünktchen und Anton“ (1931) und mit „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933) zwei weitere in der damaligen Gegenwart angesiedelte Kinderbuchklassiker vor. Ihnen allen gemeinsam sind die vielen – vor allem moralischen – Diskussionen, die der Autor Kinder führen lässt, um sie dann zu wohl überlegten Entscheidungen gelangen zu lassen.
Pazifist und Provokateur
Aber Kästner profilierte sich in der ‚Weimarer Republik‘ nicht nur als ein erfolgreicher Kinderbuchautor – er schrieb auch Artikel um Artikel über den Kulturbetrieb der ‚Goldenen Zwanziger‘ Jahre und erzählt von der Großstadt Berlin und ihren Bewohnern und Besuchern. In seinem ersten Gedichtband „Herz auf Taille“ (1928) scheint ein zorniger (nicht mehr ganz) junger Mann zu dichten und seine Verse gegen die Älteren zu richten, die seine Generation um ihre Zukunft betrogen hat:
„Wir sind die Jugend, die an nichts mehr glaubt,
und trotzdem Mut zur Arbeit hat. Und Mut zum Lachen.
Kennt Ihr das überhaupt.“
Im Band „Ein Mann gibt Auskunft“ (1930) wird die zunehmende Illusionslosigkeit angesichts der sich abzeichnenden politischen Entwicklungen und dem Aufstieg der Nazis thematisiert. Als symptomatisch für diese Stimmungslage kann man das berühmte Gedicht anführen, dessen Titel als Frage formuliert ist:
„Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“
Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
‚Herr Kästner, wo bleibt das Positive?‘
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.
Die Ängste vor dem stetig steigenden Einfluss der braunen Barbaren verbinden sich bei Kästner auch in dem Band „Gesang zwischen den Stühlen“ (1932), der eine prinzipiell pessimistische Einschätzung bezüglich der menschlichen Entwicklung verrät, wie seinen folgenden Versen unschwer zu entnehmen ist:
„Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon.
Und es herrscht
noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.“
Mit seiner ‚Gebrauchslyrik‘ avanciert Kästner zur wichtigsten Stimme der ‚Neuen Sachlichkeit‘ – die nichts beschönigen oder gar verklären, sondern objektiv darstellen will, was wirklich zu sehen und zu hören, zu denken und zu fühlen ist. Er betrachtete die Produktion von Gedichten als Handwerk, dem er allerdings mit höchsten Ansprüchen nachging und dessen oberste Maßstäbe die Qualität der Artefakte waren – also Kunsthandwerk im besten Sinne.
Macht und Moral
Aber auch als Romancier für Erwachsene feierte Kästner beachtliche Erfolge: „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ (1930) bietet eine Art Sittengemälde der damaligen Gegenwart im Zeichen politischer, sozialer und kultureller Gegensätze. Der Roman, der in fast filmischer (Montage-)Technik geschrieben ist – mit impulsiven Momentaufnahmen und markanten Figurenporträts –, beschreibt, meist aus dem Blickwinkel des promovierten Germanisten Jakob Fabian, der zunächst als Werbefachmann angestellt ist und – nach seiner überraschenden Kündigung – als Arbeitssuchender durch Berlin streift, sowohl die turbulente Atmosphäre der Zeit als auch den sich abzeichnenden Niedergang der ‚Weimarer Republik‘. Kästner hatte seit den 1920er Jahren – so lange es ging – versucht, mit dichterischen Mitteln vor einem neuen Krieg zu warnen, etwa mit einem seiner bekanntesten Gedichte (von 1928), dessen Anfangszeilen einigermaßen bedrohlich klingen:
„Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!“
Aber im Gegensatz zu fast allen seinen regimekritischen KollegInnen emigrierte Kästner nach der ‚Machtergreifung‘ am 30. Januar 1933 nicht. Er begründete diesen Schritt unter anderem damit, dass er vor Ort Chronist der Ereignisse sein wolle; ebenso wichtig dürfte gewesen sein, dass er seine Eltern nicht alleine in Deutschland zurück lassen wollte. Mit seiner „Notwendigen Antwort auf überflüssige Fragen“ lieferte er ein sehr persönliches Bekenntnis:
„Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen.
Mich läßt die Heimat nicht fort.
Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen –
wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.“
Kästners Leben und Schreiben im sogenannten ‚Dritten Reich‘ (1933–1945) ist ein noch immer sehr umstrittenes und auch unerforschtes Kapitel, das weiterzuschreiben sicher ein lohnenswertes Unterfangen wäre. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 lebte Kästner vorwiegend in München, wo er bis 1948 das Feuilleton der „Neuen Zeitung“ leitete, die Kinder- und Jugendzeitschrift „Pinguin“ herausgab und gleichzeitig Texte für das literarische Kabarett verfasste. Der Optimismus, den Kästner in der unmittelbaren Nachkriegszeit hegte, wich immer mehr der Resignation, da er feststellte, dass die Nachkriegsdeutschen mit Währungsreform und Wirtschaftswunder versuchten, zur Tagesordnung überzugehen und die Vergangenheit zu verdrängen. Als eine für Kästner typische Einschätzung gesellschaftlicher Wirklichkeit und individueller Schicksalhaftigkeit kann man „Das Eisenbahngleichnis“ zitieren:
„Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug
und keiner weiß, wie weit.“
Der Lebensweg des Erich Kästner endete am 29. Juli 1974 in München; seine letzte Ruhestätte hat er auf dem Friedhof in München Bogenhausen gefunden. Seine Bücher, Gedichte und Gedanken haben ihn ‚überdauert‘ – und viele von ihnen sind auf beunruhigende Weise aktuell geblieben.
Fotos und Illustrationen: gemeinfrei/wikimedia.com
16. Mai 2020 || ein Beitrag von Dr. Jürgen Nelles, Germanist und Literaturwissenschaftler