zwischen den jahren

Sturm. Spaziergang gegenan.
Der königliche Park verliert
Was brüchig ist

Fisch am Morgen. Den Krähen
Zugeschrien. Den Cäsaren
Einen Joggergruß

Wo reisen wir hin
Schon schielen wir zurück
Die Sichel am Himmel
Hat ihre Arbeit getan
Noch vor kurzem hörten wir
Den Engel sagen Fürchtet euch nicht
Denn siehe
(Rolf Haufs: Neujahrstag)

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Religiösen, dass in seinen periodisch wiederkehrenden Festen nicht nur ein Gedenken, ein Denken-an praktiziert wird, sondern in der festlich-rituellen Praxis tatsächlich die Wiederholung des Gefeierten sich ereignet. Zeitlich ist das religiöse Fest nicht linear („von-bis“) strukturiert, sondern zyklisch: Jedes Jahr zu Weihnachten legen wir mit neuem heiligem Ernst das Kind in die Krippe als wäre es das erste Mal – und wir tun dies nicht zur Illustrierung einer Geschichte, welche jedem, der ausschließlich den Vorgang verfolgt, zunächst einmal bekannt sein muss, sondern wir tun es, damit es sich tatsächlich und jetzt ereignet: Gott wird Mensch, wir legen das Kind – keine Puppe – in die Krippe! Wie anders käme uns Rührung, wenn wir nicht das äußerlich nüchterne Als-ob des Vorgangs emotional als Gewissheit eines wirklichen Ereignisses wahrnähmen. (Auf diesen Effekt bauen im Übrigen zweieinhalbtausend Jahre europäischer Theaterkultur.) So gibt es während eines Festes auch kein Damals und Heute, kein „vor 2000 Jahren“. In der Aktualität des Festes fällt die lineare Zeit, die nur gestern, heute, jetzt und morgen kennt, in sich zusammen. Das Fest bildet in seiner Zyklizität alle Zeiten in einem Moment ab. Das Fest existiert nur im Feiern.(1) Und aus all diesen Gründen durfte zu Beginn dieses am Silvestertag erscheinenden Textes ein Gedicht zum Neujahr stehen, ein Gedicht, das in seinem Schluss vom Voranfang kündet.

Zugegeben: Das Räsonieren über Anfang, Ende, Gleichzeitigkeit, über linear-profane und zyklisch-heilige Zeit ist kompliziert, und was bringt es? Eigentlich aber ist es einfach: Aus der Zeit gefallen, in einen geheimnisvollen Modus des Gleichzeitigen und außerhalb der alltäglichen Wahrnehmung gesetzt empfinden wir uns anscheinend alle, so, wenn wir im Deutschen von der „zeit zwischen den jahren“ sprechen. Das ist eine merkwürdige Wendung. Was bedeutet sie?

Gemeint sind die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Auf den Umstand hinweisen, dass die Ostkirche Weihnachten immer auf Epiphanie, also am 6. Januar feiert und somit unser Weihnachten 2020 in Griechenland, Russland oder auch in Spanien das Weihnachten 2021 ist, wir also am 31. Dezember zwischen den Kirchenjahren Ost und West hingen, wäre banal und träfe es auch nicht. Denn die Geburt Jesu wird auch in Athen, Moskau oder Madrid in der Nacht auf den 25. Dezember angenommen. Der Unterschied besteht lediglich in der Auszeichnung des Hauptereignisses um die christliche Idee der Menschwerdung Gottes: Ist dies die Geburt Jesu im Dezember oder die Erscheinung desselben Herrn im frühen Januar?

Mit Hinweis darauf, dass die tatsächliche Geburt des Jesus von Nazareth in einem Frühjahr zwischen 7 bis 4 ‚vor Christi Geburt‘‘ stattgefunden haben muss: Da wir alle bezüglich seines Geburtstags am Dezembertermin vor jetzt 2020 Jahren festhalten, so haben wir uns schon aus dem Profanen, Sachlichen, Historischen in einen Meta-Raum, in einen geistigen Raum des Über-Profanen etc., mit anderem Wort: in einen Raum des Heiligen begeben. Wir halten an einem Datum fest, das zwar nicht sachlich, aber rituell richtig ist. In der Rede von der „zeit zwischen den jahren“ liegt nun die grundlegend religiöse Struktur eines jeden Festes offen. Die Art und Weise, wie wir unsere Zeit einteilen oder auf ein Ziel hin produktiv sind, setzen wir „zwischen den jahren“ außer Kraft. Wenn wir uns „zwischen den jahren“ befinden, dann sind wir für den Moment nicht von dieser Welt und in einen zeitlosen Raum getreten. Da ist alles möglich, denn ohne Zeit ist alles eins. In der Heiligen Nacht können deshalb die Tiere mit den Menschen reden und die Menschen mit den Tieren, heißt es:

Zaunkönige, her, wo seid ihr?
Jaja,
da sitzt ihr verdutzt und
verlegen
in euren Gehegen
ob euren Kollegen,
den drei Mäjestäten
aus Saba und Scheba,
weit weit hinter den schimmernden
Mondstein- und Goldwasserflüssen.
Was haben die durchmachen müssen,
eines Kindes wegen
in einer der niederen Backsteinhütten
im Lande Juda!
Sind durch Steppen und Schluchten
ohne Wasser geritten,
mit nichts
als der Suche nach Gott
im brennenden Geist.

Wer weiß,
was das heißt?

Und dann,
ankommen und hinknien,
die Krone herunter
und staunen und anbeten,
jaja, widiwi! –
auf dem Knie hat er sie!
Wer von uns,
ehrlich, meine kleinen Brüder,
kniete schon nieder
und hat das schon mal mit seiner
Krone
in der heiligen Nacht
gemacht
vor dem Kind?
Da seht ihr, wie gottlos wir
sind.
Widiwitsch-gottlos und taub und
verfinstert und blind!
(Silja Walter: Aus einer Weihnachtspredigt des Heiligen Franziskus an die Vögel)

Nach der Heiligen Nacht kommen die Rauhnächte. Sind sie rauh gleich pelzig, wie die tierhaften Dämonen, welche sie angeblich begleiten? Werwolfnächte, die ein in dieser Zeit Geborenes zu einem solchen werden lässt (so sagt der Aberglaube)? Oder sind sie die Rauchnächte, rauchig wie der mit Weihrauch, dem Zeichen der Göttlichkeit des Menschensohns von Übel und Dämonen gereinigte Kirchenraum? Oder sind mit ihnen nur die härtesten, die dunkelsten, die kältesten Nächte des Jahres gemeint? Wie viele sind es? Sind die Rauhnächte mit Neujahr beendet oder sind sie mit den sogenannten Zwölften identisch: dauern sie also bis Epiphanie? Wie immer wir es nehmen – die rauhen Nächte auf die lichteste Nacht folgen lassen, heißt so viel wie die Ankunft (Adventus) kalendarisch an das Ende und vor den Anfang eines Jahres legen. In der Neujahrsnacht sind Anfang und Ende zweier Jahre eins. Für den Verstand gibt es kein Dazwischen. Aber diese zeitlose Indifferenz denken, heißt zwischen den jahren sein, nenn’s Ewigkeit.

Wie heimlicher Weise
Ein Engelein leise
Mit rosigen Füßen
Die Erde betritt,
So nahte der Morgen.
Jauchzt ihm, ihr Frommen,
Ein heilig Willkommen,
Ein heilig Willkommen!
Herz, jauchze du mit!

In Ihm sei’s begonnen,
Der Monde und Sonnen
An blauen Gezelten
Des Himmels bewegt!
Du, Vater, du rate!
Lenke du und wende!
Herr, dir in die Hände
Sei Anfang und Ende,
Sei alles gelegt!
(Eduard Mörike: Zum neuen Jahr)

(1)  siehe zu all dem Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Reinbek bei Hamburg 1957.

Bildnachweis:
hilly-2572197_1920 Pixabay StockSnap, gemeinfrei

31. Dezember 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers und Germanisten Markus Juraschek-Eckstein