Überall Richter!

Plötzlich war Gerhard Richter überall.

Irgendwann in den 2000er Jahren hingen seine Kerzen-Bilder als Postkarten bei Freunden an der Garderobe. Großformatige Farbfeld-Poster im Wohnzimmer wiesen die Bewohner als stilbewusst-hippe Bildungsbürger aus. Vermutlich war man zuvor etwas rat- und achtlos an Richters großformatigen, unscharf-verwischten Fotoabmalungen vorbeigegangen – ob sie nun nackte Frauen, Kerzen oder RAF-Terroristen zeigten. Auch Richters expressiv farbige Abstrakte Bilder aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren sowie die bereits parallel zu den Abmalungen in den 1960er Jahren entstandenen Farbtafeln mit ihren aneinander gereihten farbigen Rechtecken werden manchen fragend zurückgelassen haben.

Freilich hatten schon im Jahr 1988 zwei von Richters Kerzenmotiven das Cover der wegweisenden Platte Daydream Nation geziert, mit der die die avantgardistische No-Wave-Band Sonic Youth dem Grunge der 1990er Jahre den Weg bereitete. Nun aber schienen alle auf dem Richter-Trip zu sein. Man bemerkte anerkennend die allgegenwärtigen Reproduktionen seiner Meisterwerke, schaute versonnen auf die leicht einem Luftzug nachgebenden Kerzenflammen vor gleichbleibend grau-braunem Grund und freute sich am bunten Gewimmel der zahllosen kleinen farbigen Rechtecke.

Und dann bekam sogar der Kölner Dom „seinen Richter“ – sehr zum Missfallen des damaligen Erzbischofs, Joachim Kardinal Meisner, der grantelte: „Das Fenster passt eher in eine Moschee oder ein anderes Gebetshaus. Wenn wir schon ein neues Fenster bekommen, soll es auch deutlich unseren Glauben widerspiegeln. Und nicht irgendeinen.“

Der aus der evangelischen Kirche ausgetretene Richter, den die Medien als Atheist mit Hang zum Katholizismus charakterisierten, sah sich offenbar zu der Erklärung genötigt, dass er keine Beziehung zum Islam habe. Bedurft hätte es eines solchen Bekenntnisses wohl nicht, denn letztlich regelte sich die Angelegenheit nach kurzer Aufregung auf gut kölsche Weise. Der Kardinal habe zum Fenster eben seine Meinung, wie man insgesamt ja über Kunst streiten könne, ließ das Erzbistum verlauten. Jeder Jeck is anders. Und heute kann man sagen: Et hätt joot jejange. Das Richter-Fenster gehört so selbstverständlich zum Dom wie die rotgewandeten Domschweizer und dürfte nach dem Dreikönigsschrein die wichtigste Touristenattraktion der Kathedrale sein.

Gerhard Richter mit Joachim Kardinal Meisner, 2014

Dem Ansehen des Künstlers hat die Episode keineswegs geschadet. Seit Jahren gehört Richter zu den teuersten Gegenwartskünstlern. Mit einem geschätzten Vermögen von 700 Millionen Euro ist er zudem der reichste lebende deutsche Künstler. Seine Werke erzielen bei Auktionen regelmäßig Spitzenpreise: Der Rockmusiker Eric Clapton verkaufte Ende 2012 bei Sotheby’s Richters Abstraktes Bild (809-4) für 34,2 Millionen Dollar an einen anonymem Bieter. Wenige Monate später erzielte das Gemälde Domplatz, Mailand aus dem Jahr 1968 den bis dahin höchsten für ein Werk eines lebenden Künstler gezahlten Preis von 37,1 Millionen Dollar. Es war zugleich der bis dahin höchste jemals für ein modernes Kunstwerk gezahlte Betrag. Richter nahm es gelassen. Die Preisentwicklung am Kunstmarkt verglich er mit der Bankenkrise: Sie sei nicht nachvollziehbar und dumm.

Auch mit der medialen Aufmerksamkeit, die er mit seinen Erfolgen am Kunstmarkt in den letzten Jahren auf sich zog, hadert Richter. Dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck warf Richter vor, seine Lebensgeschichte im Spielfilm Werk ohne Autor (2018) „zu missbrauchen und übel zu verzerren“. Dem Erfolg des Films tat dies keinen Abbruch, und vermutlich wird erst der umstrittene Streifen zahlreiche Richter-Fans die bewegte Lebensgeschichte des am 9. Februar 1932 in Dresden geborenen Malers nähergebracht haben.

Mit der im Film dargestellten frühen Schaffensperiode in der DDR kann Richter indes nur noch wenig anfangen. Bereits vor Jahrzehnten wehrte er sich erfolgreich gegen die Restaurierung eines Wandbildes mit dem Titel Lebensfreude – immerhin seine Diplomarbeit aus dem Jahr 1956 – im Dresdner Hygiene-Museum. Nachdem Richter noch vor dem Mauerbau in die Bundesrepublik gegangen war, ließen verantwortliche Stellen in der DDR sein monumentales, über 60 Quadratmeter großes Gemälde erst 1979 übermalen. Als man es dann nach der Wende restaurieren wollte, lehnte sein Schöpfer dankend ab: Das Wandbild zähle „nicht zu den erhaltenswerten Kunstwerken auf der Welt“. Selbst zwei freigelegte Abschnitte mussten schließlich erneut übermalt werden.

Ausgerechnet ein frühes Werk sorgt in diesen Tagen unerwartet für Wirbel: Ein in den späten 1950er Jahren entstandenes Wandgemälde am Giebel eines Bürogebäudes in Görlitz wurde erst Ende Januar als Werk des noch weitgehend unbekannten Hochschulabsolventen Gerhard Richter identifiziert. Dass sich der Meister über dieses überraschende Geburtstagsgeschenk gefreut hat, darf bezweifelt werden. Allerdings zeigt dieses über Jahrzehnte unbeachtete Werk wieder einmal: Richter ist überall. Ganz besonders aber natürlich in Köln, wo der Künstler am heutigen Mittwoch seinen 90. Geburtstag feiert. Herzlichen Glückwunsch!

Bildnachweis

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9. Februar 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert