Richard Strauss’ letzte Lebensjahre in der Schweiz

Die frühen Triumphe führen den jungen Komponisten von München nach Dresden, Berlin und Meiningen, wo er Hans von Bülow und Johannes Brahms kennenlernt. Mit 22 Jahren (1886) dirigiert er bereits als Wagnerianer in Weimar und Bayreuth, bevor Berlin ihm einen Chefposten anbietet. Nach vielen Reisen (Griechenland, Italien, Frankreich) trifft er in Paris auf Hugo von Hofmannsthal, seinen künftigen Librettisten. Nach dem ersten Weltkrieg folgen Engagements in Wien und Salzburg (Gründung der Salzburger Festspiele).

Als Musiker von Weltruf wird er später das Aushängeschild der nationalsozialistischen Musik-Kultur. Seine Werke finden – neben Wagner – großen Anklang und Wilhelm Furtwängler trägt maßgeblich zur deren Verbreitung bei. Doch die nähere Bekanntschaft mit dem jüdischen Dichter Stefan Zweig (Libretto der „Schweigsamen Frau“) kostet ihn die Stellung, er fällt in Ungnade.

Am Kriegsende verlässt er mit seiner Frau sein Domizil in Garmisch-Partenkirchen. Die Amerikaner lassen den Schöpfer des „Rosenkavaliers“ in die Schweiz ausreisen, in das Land, das Strauss bereits als junger Mann kennenlernte, z.B. Zermatt und den Gornergrat, auf dessen Anhöhe er in Ekstase geriet, was ihn später zu seiner „Alpensymphonie“ inspirierte. Aber auch das Engadin zählte früher zu seinen Lieblingsaufenthalten. Kaum sind die Strauss in der Schweiz, wird in Garmisch ein Verfahren gegen den Komponisten als Kulturträger Nazi-Deutschlands eingeleitet. Doch davon bleibt am Ende bloß die Feststellung, dass er sich in naiver Weise hat instrumentalisieren lassen und ihm keine wirkliche „Schuld“ angelastet werden kann.

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Richard Strauss 1945, gemeinfrei

Eine Thermalkur in Baden, dem kleinen Kurort in der Limmat-Flussschleife unweit von Zürich, lässt ihn erst mal zur Ruhe kommen. Hier entsteht sein einsätziges Werk, die Metamorphosen.

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Baden an der Limmat, gemeinfrei

Metamorphosen (1945)

Das Werk für Streichorchester besticht durch die klangliche Klarheit, durch das ruhige Dahinfließen der sich kreuzenden Linien, wie das träge Wasser eines breiten Flusses, dazu ein mysteriöser Sound der tiefen Streicher und zwei Themen, die sich über die verschiedenen Register hinziehen:

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        Thema  1

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  Thema  2

Strauss hat seine „Metamorphosen“ nicht kommentiert. Ein Tagebucheintrag indes kündet von einer tiefen Resignation angesichts der Zerstörung der deutschen Kultur, was dem Werk die Bedeutung eines Requiems verleiht. Strauss-Spezialisten haben andererseits hier auf zahlreiche Quellen hingewiesen, wie auf Themen bei Mozart und Beethoven oder auf Texte von Goethe. Warum nicht den Metamorphosen-Gedanken auf das Fortspinnen des musikalischen Materials selber beziehen, auf das allegorische Bild eines Flusslaufs (nach dem Vorbild der „Moldau“ Smetanas), bei einem Komponisten, der sich schon früh der Programm-Musik verschrieben hat?

Auf das anfänglich träge Fließen folgen Sechzehntel- und Triolenfiguren, das Flussbett verengt sich und die Stromschnelle erzeugt muntere Wirbel im Auf und Ab der Violinen:

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  1. Violinen

In der folgenden Beschleunigung setzen die Bratschen zu einem Sechzehntel-Streckenlauf an, das Ganze gewinnt an Dramatik und durchläuft gleichzeitig einen komplexen Kontrapunkt, doch bald schon beruhigen sich die Wellen, eine homophone Akkordfolge leitet die Stille ein, wo sich unvermittelt ein Trauermarsch einschleicht (dazu steht „In Memoriam“), um sich letztlich auf den Schluss hinzubewegen, wo pp-moll-Akkorde sich langsam im Nichts auflösen …

Vier letzte Lieder (1848)

Strauss ist 84 Jahre alt. Auf den Kur-Aufenthalt in Baden folgen weitere Stationen in der Schweiz: Mit seiner Frau Pauline weilt er in Pontresina, als Stammgast im Hotel Sarratz, in St. Moritz und in Sils-Maria, dann wiederum in Ouchy bei Lausanne oder in Montreux. Er beschäftigt sich mit Lyrik und – nach einer persönlichen Begegnung mit Hermann Hesse und auf Anraten seines Sohnes – reift der Gedanke an eine orchestral angelegte Lied-Komposition für Sopran auf Texte von Hesse und Eichendorff.

  1. FRÜHLING (H. Hesse) – Juli 1948 in Pontresina

In dämmrigen Grüften

träumte ich lang

von deinen Bäumen und blauen Lüften,

von deinem Duft und Vogelsang.

Nun liegst du erschlossen

in Gleiß und Zier,

von Licht übergossen

wie ein Wunder vor mir.

Du kennest mich wieder,

du lockest mich zart,

es zittert durch all meine Glieder

deine selige Gegenwart!

Wenn die Gattung „Lied“ schon per se programmatisch ist, um wie viel mehr sind es diese vier „letzten Lieder“, wo Strauss an Stelle des Klaviers den grossen Orchesterapparat auslotet. Wie lässt sich übrigens die enorme Popularität dieses Werks erklären? Im Gegensatz zu seinen Opern, wo der Klangraum oft mit schrill-modernen Klangfarben ausgeweitet wird, bewegt sich Strauss hier gleichsam rückwärts, zu einer unverblümt romantischen Tonsprache – stellenweise jener von Brahms verwandt. Willi Schuh spricht bei diesen Spätwerken von einer „mozartschen Leichtigkeit“ und „Formklarheit“, gepaart mit „sinnbildhafter Größe der von Wagner herkommenden Orchestersprache“.

In Frühling startet das Orchester mit einer leichtfüssigen 6/8-Bewegung, die das Geschehen über alle Register vorantreibt. Die Solistin steigt erst mal aus der Tiefe des es-Tones („dämmrigen Grüften …) und erhebt sich binnen Kürze bis zum g‘: das Aufgehen der Knospen und der Blick hinauf zum blauen Himmel. Um sodann die Erregtheit des lyrischen Ichs zu unterstreichen („es zittert…) lässt Strauss unter der hohen Singstimme parallele Arpeggien aufschnellen. Als Ganzes bewegt sich das Lied auf der Basis der folgenden rhythmischen 6/8-Keimzelle:

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Hotel Sarratz in Pontresina zur Zeit R. Strauss‘, gemeinfrei

  1. SEPTEMBER (H. Hesse) – September 1948 in Montreux

Der Garten trauert,

Kühl sinkt in die Blumen der Regen.

Der Sommer schauert

Still seinem Ende entgegen.

Golden tropft Blatt um Blatt

Nieder vom hohen Akazienbaum.

Sommer lächelt erstaunt und matt

In den sterbenden Gartentraum.

Lange noch bei den Rosen

Bleibt er stehn, sehnt sich nach Ruh.

Langsam tut er die grossen

müdgewordenen Augen zu.

Ein flüchtiger Blick auf die Partitur erinnert an Bilder von Monet oder Pissarro mit den rieselnden Farbpunkten, den Lichtblitzen. In den Noten der vielen Register tummeln sich Sechzehntelschnörkel und Triolen, meistens den Klarinetten zugeteilt, die die Themenführung der hohen Lagen von unten abpolstern. Man sieht den feinen Nieselregen des Sommers, die fallenden Triolen der Violinen und Flöten mit Harfen-Unterlage evozieren Klänge wie Pastell-Töne. Nach einer Reihe von Modulationen erscheint der „Sommer“ in hellem Glanz als Dur-Klang. Beim Gang zu den Rosen vernimmt man im Orchester eine dramatische Sequenz, bevor der „sterbende Garten“ sich über eine Abwärts-Leiter vom d‘ zum d ankündigt, die Wogen sich glätten und der Klang sich verdünnt: die „müdgewordenen Augen“ schließen sich vor einem weit entfernten Horn-Solo über den letzten Haltetönen, dahinter thematische Einsprengsel im pp der hohen Register …

Die Lieder 3 und 4 verdeutlichen noch stärker die Thematik des Abschieds, eines Abschieds von der Kultur und von einem reich erfüllten Leben mit seiner Gattin Pauline, insgesamt gezeichnet von Resignation, doch ebenso von Gelassenheit, von Altersweisheit.

  1. BEIM SCHLAFENGEHEN (H. Hesse) – August 1948 in Pontresina

Nun der Tag mich müd gemacht,

Soll mein sehnliches Verlangen

Freundlich die gestirnte Nacht

Wie ein müdes Kind empfangen.

Hände, laßt von allem Tun

Stirn, vergiß du alles Denken,

Alle meine Sinne nun

Wollen sich in Schlummer senken.

Und die Seele unbewacht

Will in freien Flügen schweben,

Um im Zauberkreis der Nacht

Tief und tausendfach zu leben.

Ein Hinübergleiten in den Schlaf und ein Aufsteigen in die Sphäre des Traums, so in Kürze das Programm, dem Strauss mit ständig wechselnden Tonarten folgt, mit überraschenden Modulationen, die an Schuberts Klavierkompositionen erinnern.

Bevor die Singstimme den Wunsch anbringen kann, in die Nacht einzutauchen, hören wir zu Beginn aus der Tiefe das kurze fugierte Motiv mit der aufsteigenden Septime – wie ein „de profundis clamavi“, worauf der Gesang der ersten Strophe quasi rezitativartig beginnt, mit kaum hörbaren Triolenbewegungen der mittleren Register (Bratschen und Holzbläser) als Untermalung. Für den Rat, sich jeglicher Aktivität zu entziehen verwendet Strauss eine chromatisch absteigende Linie. Bald lockt der Sirenengesang des Traums, hier von der Solovioline vorweggenommen. Um beim biblischen Kontext zu bleiben: Die Violine steigt die Stufen der Jakobsleiter empor, bis zum alles verklärenden Höhepunkt (man erinnere sich an die pathetische Version dieses Verfahrens beim Anfang des „Zarathustra“), hier von Des-Dur über b-moll, über Ces-Dur und Fes-Dur bis hin zum Es-Dur:

Violin-Solo -Richard Strauss_Mehr im Blog der Akademie

Violin-Solo (von Des-Dur ausgehend)

Der Gesang übernimmt – wie ein Echo – diesen Aufstieg auf die Worte „Flügen“ und „schweben“.

Was für ein Glücksgefühl, der Enge des Tages entkommen zu sein und in die Weite des nächtlichen Universums einzutauchen – die pure Welt der Romantik (Novalis)! Die Streicher verfallen einer Hektik über Triolen und Sechzehntel, nehmen sich dann aber zurück, um dem Wort „tausendfach“ der über Melismen bis ins hohe b‘ sich aufschwingenden Sopranstimme genügend Raum frei zu halten. Gegen Ende tauchen thematische Elemente im Pianissimo auf, mit einer wirkungsvollen leisen Horn-Stimme im Hintergrund, und das Ganz endet mit einem langgezogenen Des-Dur.

  1. IM ABENDROT (J. von Eichendorff) – Mai 1948  in Montreux

Wir sind durch Not und Freude

Gegangen Hand in Hand:

Vom Wandern ruhen wir beide

Nun überm stillen Land.

Rings sich die Täler neigen,

Es dunkelt schon die Luft,

Zwei Lerchen nur noch steigen

Nachträumend in den Duft.

Tritt her und lass sie schwirren,

Bald ist es Schlafenszeit,

Dass wir uns nicht verirren

In dieser Einsamkeit.

O weiter, stiller Friede!

So tief im Abendrot,

Wie sind wir wandermüde –

Ist dies etwa der Tod?

Abenddämmerung bei Montreux-Richard Strauss in der Schweiz-Mehr im Blog der Thomas-Morus-Akademie

Abenddämmerung bei Montreux, gemeinfrei

Obwohl dieses Lied zuerst entstanden ist wird es seit jeher als letztes des Zyklus aufgeführt, aus Gründen des thematischen Aufbaus und der emotionalen Steigerung..

Die Musik beginnt mit einem von Violinen und Holzbläsern weit gespannten Himmelsbogen, mit Melismen, die sich nach und nach über den tiefen Haltetönen verflachen. Besonders zu beachten: die kaum hörbaren leisen Paukenschläge – als Kunde des nahen Todes?

Außerdem erfüllen die Hörner ihre gewohnte Rolle der Überleitung oder der Hinführung zu einem neuen Segment. Als „Programm-Musik“ bietet dieses Abendrot-Lied einen besonders leichten Zugang: Auf das Wort „Freude“ eröffnet sich nach einem Es-Dur – Aufstieg ein strahlendes Ces-Dur. Beim „stillen Land“ kehr B-Dur wieder, doch wie es in den Tälern dunkel wird gleitet ein Ges-Dur in düsteres moll über, mit leise nach unten wandernden Bässen. Doch da flattern die Lerchen fröhlich über zwei Flötentriller in Terz-Parallelen zum Himmel (Vivaldis „Jahreszeiten“ lassen grüßen!). In der letzten Strophe evoziert die Ruhe die Entrücktheit der Seele: die Singstimme unterbricht den Fluss, lässt das Eingangsmotiv erklingen, welches sich stetig unterschwellig durch die ganze Komposition hinzieht:

Richard Strauss-Mehr im Blog der Akademie

In der Schlusszeile avanciert die Stimme sehr zögerlich, fast schleichend bis zu einem lange gehaltenen b (mit Moll-Akkord), um auf das Wort „Tod“ hin im Pianissimo zum Ces hinüber zu gleiten, von einem sanften Dur weit fortgetragen.

Nachdem die Stimme verhallt ist entfaltet das Orchester seinen leisen Schwanengesang noch über 20 Takte. Gegen den Schluss melden sich nochmals – wie ein Echo – die Flötentriller der Lerchen, bevor das Ganze auf einer versöhnlichen Es-Dur-Fermate endet.

Quellen:

  •  Bryan Gilliam, Richard Strauss, Verlag Beck, München 2014
  • Willi Schuh (Freund von R. Strauss), div. Artikel in Zeitschriften und NZZ
  • Hermann-Hesse-Jahrbuch 4 (2009), S. 97-114

Youtube Aufnahmen:

Metamorphosen:

NDR Elbphilharmonie-Orchester, Esa-Pekka Salonen (auch eine Aufnahme mit Partitur-Lektüre)

Vier letzte Lieder:

  • Anja Harteros, hr-Sinfonieorchester mit Andres Orozco-Est4rada
  • für eine besonders gute Text-Verständlichkeit auch Jessy Norman

28. Juli 2022 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.

Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.