Max Ernst und die Natur als Erfindung

Die Pferdeherde an der Wand, der Oktopus auf der Vase, die Blumen in Öl auf der Leinwand… die Kunstgeschichte offenbart zahllose Beispiele über einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten, die davon berichten, dass ihre Schöpfer die sie umgebende Natur festhalten wollten. Aber schon immer gab es auch Bilder, die nichts mit der sichtbaren Welt zu tun hatten. Man denke in jeder Kultur an ihre Welt der Götter und Dämonen. So ist der Seelenvogel Ba genauso bekannt, wie Minotaurus und Medusa, und niemand kann davon berichten, einem von ihnen schon einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden zu haben.

Max Ernst, 1891 in Brühl geboren, war schon als Kind begeistert von der Welt der Geschichten und Mythen. Über seine Mutter sagte er einmal, sie sei eine Frau voller Märchen gewesen – vielleicht hat sie den Grundstein gelegt für Max Ernsts berühmt gewordenes künstlerisches Werk, das sich mannigfaltig präsentiert, aber doch ein paar rote Fäden offenbart, wie den der ungreifbaren Welt außerhalb der mit unseren wenigen Sinnen erfahrbaren Umgebung.

Die Ausstellung „Max Ernst und die Natur als Erfindung“ bewegt sich rund um Max Ernsts Arbeit „L’histoire naturelle“, eine Frottage-Serie aus dem Jahr 1926. Dieses Durchreibeverfahren, das doch jeder kennt, zumindest wenn man als Kind Münzen für den Kaufladen gebraucht hat, ist nur eine der Techniken, die Max Ernst entwickelt und umgesetzt hat, und allesamt sind sie Werkzeuge für eine Kunst, die keine Grenzen kennt. So werden auch einige Grattagearbeiten gezeigt, eine Technik, bei der flüssige Farbe auf dem Bildträger durch einen glatten Gegenstand abgekratzt wird, was durch unter der Malfläche positionierte Gegenstände, die sich durchdrücken, besonders komplex und vielschichtig werden kann. Seine „L’histoire naturelle“ ist eine Art Genesisgeschichte, in der zunächst die Entstehung von Licht und Schatten oder Erde und Wasser erahnbar wird, dann aber auch einiges anderes aus den Tiefen des Papiers herauszuwachsen scheint. Bäume könnten es sein, und Blumen, und dann Vögel und Pferde und Wesen, die der Betrachter (noch) nicht kennt. Und ganz zum Schluss der Mensch, der hier bezeichnenderweise nicht Adam, sondern Eva ist.

Jedem dieser „Entwicklungsstadien“ der „L’histoire naturelle“ ist ein Teil der Ausstellung zugewiesen, und in jedem Abschnitt stellen sich Max Ernst weitere Künstler zur Seite. Sie alle schöpfen das Potential der Kunst aus und etablieren sich in der Ausstellung als Schöpfer einer erweiterten Naturgeschichte. So begegnet man Max Ernsts Kollegen und Freund Hans Arp, der in seinen Werken, die er als „konkret“ bezeichnet, organische Formen der Natur entlehnt, dann aber ganz einige Gebilde schafft, die einer parallelen Natur angehören könnten. Yves Tanguy kreiert eine Landschaft voller rätselhafter Objekte – besonders rätselhaft durch die ungeklärte Frage, ob diese leblos oder belebt sind und durch die spannende Darstellung von durchsichtigen Figuren, die einen scharfen Schatten werfen. Viele Werke der abstrahierten oder ungegenständlichen Kunst machen eine greifbare, wenn auch fantastische, Natur erfahrbar. Doch warum hier aufhören? Warum nicht den Blick heben und die Motive zu makrokosmischen Bildern erweitern? In seiner Werkserie „Maximiliana“ bezieht sich Max Ernst nun ganz konkret auf das Weltall. Nanne Meyer und Thomas Ruff sind nur zwei Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst, die mit ihren kosmischen Darstellungen verdeutlichen, dass unsere Umgebung nicht in Haus und Garten endet.

Unsere Welt ist groß und die Kunst voller Möglichkeiten. Fügt man beide zusammen, kann man vieles sichtbar machen. Bison, Oktopus und Ba und alles andere, denn der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und diese ist hier zweimal am Werk: Erst durch den Schöpfer des Werkes, und dann durch den Betrachter. Folgen wir also den Künstlern auf ihrem Weg durch ihre eigene Welt, durch die Natur als Erfindung, werden wir vielleicht auch einiges über uns selbst erfahren.

Für Kurzentschlossene:

1. Dezember 2022 (Do.)
„Und die Schmetterlinge beginnen zu singen.“
Max Ernst und die Erfindung der Natur
Akademietagung

Was ist das Besondere seiner Bilder? Wie gibt Max Ernst einer scheinbar wissenschaftlich erforschten Natur ihr Geheimnis zurück? Wie äußert er sich in seinen Schriften dazu? Wie befasst sich die zeitgenössische Kunst mit der imaginativen Kraft der Natur?

Zu einer Beschäftigung mit diesen Themen und einem Besuch der Ausstellung im Kunstmuseum Bonn laden wir Sie herzlich ein.

Bildnachweis:
Max Ernst
Jardin peuplé de chimères, 1936
Öl auf Leinwand
Privatsammlung
Foto: David Ertl
© VG Bild-Kunst Bonn, 2022

28. November 2022 || ein Beitrag von Judith Graefe, Akademiereferentin Erkundungen