Heiliges Opfer. Eine Bildbetrachtung zum Festtag Darstellung des Herrn

Fest
Am 2. Februar begeht die Gesamtkirche das Fest „Darstellung des Herrn“ (Praesentatio Jesu). Bekannter ist es unter der volkstümlichen Bezeichnung „Mariä Lichtmess“. Es kennzeichnet das offizielle Ende der Weihnachtszeit. Dort, wo noch Weihnachtskrippen in den Kirchen stehen, werden sie einen Tag später abgebaut.

„Darstellung des Herrn“ und „Mariä Lichtmess“ klingen wie zwei verschiedenen Gedenken. Es handelt sich aber um denselben Festanlass. Historisch älter ist der Bezug auf Maria. Die bis ins 4. Jahrhundert zurückführende nähere Bezeichnung Purificatio Beatae Mariae Virginis („Reinigung der seligen Jungfrau Maria“) verweist auf den Ursprung des Fests in der jüdischen Kultur. Nach Leviticus 12,1-8 befindet sich eine israelitische Frau insgesamt 40 Tage nach der Geburt eines Jungen (bei der Geburt eines Mädchens 80 Tage) im Prozess der kultischen Reinigung. Mit dem 40. bzw. 80. Tag ist er abgeschlossen. Der 2. Februar ist der 40. Tag nach der Geburt Jesu. Zur Zeit der frühen Kirche, in welcher am 6. Januar (Epiphanias – „Erscheinung des Herrn“) die Weihnacht begangenen wurde (so noch heute in der Ostkirche), fiel das Fest auf den 14. Februar.

Für Jerusalem sind ab dem 5. Jahrhundert Lichterprozessionen zum Tag der Purificatio Mariae bezeugt. In manchen Regionen Westeuropas hielt sich dieser volkstümliche Brauch noch bis ins 20. Jahrhundert. Andere Bräuche wie der, dass am 2. Februar das Bauernjahr begönne, mit dem 2. Februar also ein terminus non ante quem für den Beginn der Feldarbeit gesetzt sei, oder dass der gleiche Tag der letzte sei, an dem unter Kunstlicht gearbeitet werden dürfe, stellten das Fest in die Zyklen von Werden und Vergehen, Licht und Dunkelheit, und, wie angedeutet werden wird, in den in der Eucharistiefeier rituell wiederholten Kreislauf von Geburt, Tod und Auferstehung Christi.

Das Fest der Praesentatio Domini und der Purificatio Mariae changierte immer zwischen Herren- und Marienfest. Eben das zeichnet es aus, dass es auf innigere Weise als alle anderen kirchlichen Gedenktage, beide seiner weihnachtlichen Aspekte in der Tradition miteinander verschmolz; Herren- und Marienthematik wurden im Laufe der Zeit komplementär aufeinander bezogen. Der Grund dafür liegt in der quasitypologischen Komplementarität der beiden für das Fest einschlägigen Bibelstellen: Leviticus 12,1-8 und Lukas 2,21-40.

Überlieferung
Lukas berichtet zunächst von der gemäß Lev 12,3 am achten Tag nach der Geburt vorgenommenen Beschneidung Jesu. Dann, Lev 12,6-8 folgend, berichtet er vom Opfergang des heiligen Paares in den Tempel: Zum Abschluss der entsühnenden Reinigung der Mutter Maria sollen dem Herrn zwei Opfertiere dargebracht werden. Zu diesem Zweck bringen Maria und Joseph den neu geborenen Jesus in den Tempel. Lukas prononciert in diesem Passus noch einmal sein Thema von der Armut der Geburt Jesu: Der Leviticus sieht als Sühneopfer ein einjähriges Schaf und eine Taube vor; bei Mittellosigkeit der Mutter darf es auch eine zweite Taube statt eines Schafes sein. Maria und Joseph bringen nur Tauben dar.

Jews praying in a synagogue, in an illuminated manuscript from Mantua, Italy., 1453, Codex Rossianus 555, fol. 12 v, gemeinfrei

Lukas stellt die Erfüllung des Gebotes aus dem Leviticus in einen erzählerischen Kontext, der sich ohne weiteres an die Verkündigung an die Engel (Lk 2,8-14) oder die Erzählung von der Erscheinung Gottes vor den Weisen (Mt 2,10-11) binden lässt. Lukas erzählt die Geschichte der dritten weihnachtlichen Offenbarung. Dem greisen Simeon, ein „Mann aus Jerusalem“, sei vom Heiligen Geist versprochen worden, dass er nicht eher stürbe, bis er den Messias gesehen habe. Der Heilige Geist habe nun Simeon zur Zeit des Sühneopfers Mariens in den Tempel geführt; angesichts des Opfervorgangs habe er das Kind in seine Arme genommen und Gott gedankt: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen.“ (Lk 2,29-30)

Das Bild
Eines der ältesten Gemälde aus dem Bestand des Kölner Wallraf-Richartz-Museums / Fondation Corboud (WRM 5) greift exakt diese Textstelle auf. In äußerst dichter Weise schlägt das Bild das Doppelthema Praesentatio / Purificatio an: Marien- und Herrenthematik halten sich in der Figuration des Bildes die Waage; in dialektischer Weise generiert die gemalte Aufhebung Beider ein drittes, ganz neues Thema, das der Epiphanie des eucharistischen Leibes.

Das um 1330 in Köln entstandene, 42 x 34,5 cm messende und auf älterer Eichenholztafel (das wahrscheinliche Fälldatum des Baumes konnte mit 1239 +/- 4 Jahre bestimmt werden) ausgeführte Gemälde ist Teil eines vertikal zweizonig aufgebauten Altarbildes, vermutlich einen Marienzyklus darstellend. Erhalten hat sich neben der hier behandelten Tafel das Bild der Verkündigung (WRM 4). Der ursprüngliche Standort des Gemäldes ist nicht bekannt. Die Wiedergabe der Textilien sowie der Haar- und Barttrachten aller Figuren auf beiden Tafeln ist von derartiger Plastizität, dass die Dargestellten beinahe physische Präsenz erlangen; stilistische Vergleiche lassen sich insofern in der kölnischen Malerei und der Skulptur ihrer Zeit finden.

Das Tafelbild „Darbringung im Tempel“ gibt szenisch den Moment wieder, in welchem Maria ihr Kind zu Armen Simeons reicht. Das Motiv tief durchdringend ist die eigentliche Erzählung in ein komplexes Wechselspiel von Blicken und Gesten der dargestellten Personen gelegt:

Simeon, mit die Gottesschau kennzeichnender „Fehlstellung“ der Augen, sieht auf den Kreuznimbus des Jesusknaben und auf die durch den Goldgrund symbolisierte göttlich-numinose Sphäre darüber. Die obligatorische, weil den Heiligen einer Ikone dem Betrachter entrückende Augenfehlstellung ist hier pointiert zu einem textparallelen Augengestus, der Simeons Ansprache an Gott angesichts des Jesusknaben visualisiert, ausgearbeitet: „Simeon nahm das Kind in seine Arme und pries Gott mit den Worten: ‚Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.‘“ (Lk 2,28-32) Vom Licht wird noch die Rede sein.

Maria schaut auf Simeon; Christus ebenfalls, seine Hände aber weisen zurück auf Herz und Brust Mariens. Diese doppelte Geste kann einerseits als Verweis auf die Gottesmutterschaft Mariens (die Brust → Maria Deipara) verstanden werden, andererseits als Andeutung der künftigen Schmerzen Mariens (Herz → Mater Dolorosa) angesichts der Passion ihres Sohnes. Tatsächlich ist eine Prophetie über die Schmerzensmutter im Lukas-Evangelium verzeichnet, nämlich – im Anschluss an die Darlegungen, die Simeon dem ahnungslos scheinenden Elternpaar über die Bestimmung des Messias gibt – in dessen Weissagung an Maria: „Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.“ (Lk 2,35)

[Habituell stellen Maria und Christus eine Einheit im Bild dar; man kann sie als eigenständige Muttergottesgruppe ansehen. Betont wird dies durch ein kräftig-schwarzes Cloisonnement (Umrandung) von Marienbüste, Nimben und Jesu Rückenpartie; Maria und Jesus sind als Besondere von allem sie Umgebenden abgegrenzt.]

Joseph schaut aus dem Bild heraus auf den Betrachter. Offenbar war im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts der Andachtsgebrauch von Bildern bereits so weit verbreitet, dass eine solche direkte Ansprache an den Betrachter verstanden wurde. Das Bild ist hiermit nicht mehr ausschließlich hieratisches Objekt, das in essentieller Distanz zum Betrachter steht, sondern es tritt mit ihm in wechselweise Kommunikation. [Entgegen dem Evangeliumstext trägt Joseph einen Korb mit drei weißen Tauben. Ob damit eine Anspielung auf die Trinität gegeben ist, muss offenbleiben. Es dürfte aber gegenüber der vom Leviticus angegebenen Sonderregel für den Armutsfall ein Reichtum anderer Art bei diesem Sühneopfer bezeichnet werden.]

Als ein fünfter, beinahe unsichtbarer Akteur des Bildgeschehens ist zwischen Jesus und Simeon ein punzierter Engel mit Verkündigungsgestus in Richtung der Muttergottesgruppe gespannt; seine Hand rührt beinahe an den Jesusknaben. Dadurch ergibt sich eine merkwürdige gestische Doppelung zwischen den ausgestreckten Armen Simeons und dem des Engels. Setzt man eine signifikatorische Identität dieser doppelten Geste an, so oszilliert der Empfangsgestus des Simeon ebenfalls zum Zeigegestus und bildet das bildnerische Pendant zu Simeons Aussage über den Messias: „Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird“.

Traditio legis, Mosaic (5th century), baptistery of Naples cathedral, Naples, Campania, Italy, gemeinfrei

Simeon ist in weiteren Hinsichten ambivalent dargestellt. Er hat den Tallit (jüdischer Gebetsmantel) über das Haupt geschlagen. Damit ist er, wie durchaus üblich bei Darstellungen der Praesentatio, als gläubiger Jude gekennzeichnet. Gleichzeitig hat er aber die Enden des Tallit über seine Arme und Hände geworfen, damit er das Kind nicht unverhüllt entgegennimmt. Das ist ein eher seltenes Bildmotiv. Es erinnert an den in der frühen Bildkunst entwickelten Typus der Traditio legis, also der Übergabe des Gesetzes (Nomos) durch Christus an Petrus und Paulus. Dadurch wird Simeon einerseits zur priesterlichen Gestalt (in der Bildtradition des Mittelalters gibt es tatsächlich die Entwicklung Simeons vom „Mann, der damals in Jerusalem lebte“ (Lk 2,25) hin zum Hohenpriester des Tempels). Andererseits wird dadurch aber auch der Jesusknabe im Bild als der personifizierte Logos, das in Menschgestalt erscheinende Numinose gekennzeichnet. Also nicht nur Blick und Gestus des Simeon, sondern auch dessen „Aufmachung“ lenkt unseren Blick und unser Verstehen auf den Kulminationspunkt des Gemäldes: die Darstellung von Epiphanie, der Erscheinung Gottes in der Welt. Wie Simeon verhüllt bis heute der katholische Priester mit einem Velum seine Hände und Arme, wenn er die Monstranz mit dem Allerheiligsten erhebt.

Zum dritten und letzten ist Simeon insofern auch als christlicher Priester wiedergegeben. Auch in dieser Hinsicht stellt dieses Gemälde einen Sonderfall dar. [Inwiefern die graue, schnurgegürtete Kutte, die er unter dem Tallit trägt, ein Mönchshabit zitiert, kann hier nicht weiter verfolgt werden.] Die bei Lukas beschriebene Szene findet im Tempel zu Jerusalem statt. Der Maler unseres Bildes hat sie vor den damals üblichen Goldhintergrund der Ikonen gestellt, also in einen überweltlich abstrakten, heiligen Raum. Die die Hauptakteure mit Randbortenmotiven umspielende Punzierung des Goldgrunds deutet in den unteren vier Fünfteln des Gemäldes das Motiv des Tempelvorhangs an. Zwischen Muttergottes und Simeon steht der Altar für das Entsühnungsopfer – im Leviticus als Brandopfer gefordert, hier ist aber mit weißer Altardecke ein christlicher Altar für das unblutige Opfer angegeben –, ein an eine Grabstele erinnernder Pfeilerstumpf aus rotem Sandstein, welches Material im mittelalterlichen Köln im kirchlichen Kontext meist als römische Spolien vielfach Verwendung fand.

Die Mensa des Altares ist nach vorne geklappt – perspektivisch zwar nicht korrekt, aber mit Bedacht so komponiert –, so dass der Betrachter, auf sie schauen kann. Solch bewusste perspektivischen „Verdrehungen“ sind aus dem Mittelalter vielfach bekannt, wenn es um die Präsentation des Heiligen geht, im hier angedeuteten Kontext der Darstellung des Herrenleichnams aus dem Umkreis der imago pietatis („Leidensbild“, Brustbild des Passionsleibes, des eucharistischen Leibes Jesu) oder der Pietà – Maria weist den Leib ihres toten Sohns dem Betrachter vor.

Über diesem Altar wird Simeon das Kind entgegennehmen. Auf der weißen (reinen) Altardecke glast malerisch der Goldgrund des Bildes. Es ist der Glanz des Numinosen, der auf dem Altar liegt. Dieser Glanz liegt auch auf dem Körper des Jesusknaben und auf dem weißen Schleier der reinen Frau Maria. Die konnotativ-malerische Farbgebung berücksichtigend, wird die Übergabe des Jesusknaben durch Maria an Simeon zur Gabenreichung. Die Deutung des Bildes als Figuration der Darbringung des eucharistischen Leibes wird durch eine formale Klammer gestützt: Die Saumfalten des Mantels Mariens, der Altardecke und des nun als Velum zur Entgegennahme des Allerheiligsten interpretierbaren Tallit Simeons gehen teilweise ineinander über bzw. entsprechen einander detailliert im Verlauf.

Titel- und Detailbilder:
Darbringung im Tempel, Wallraf Richartz-Museum, Köln, WRM 5, 42 x 34,5 cm

2. Februar 2021 || ein Beitrag des Kunsthistorikers und Germanisten Markus Juraschek-Eckstein