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Wo war Gott in Auschwitz? Philomena Franz – Rettung durch Gebet

Am 27. März 1943 wird sie von SS-Leuten abgeholt, sie ist 21 Jahre alt, eine Sintiza, eine Zigeunerin – wie sie auch heute stolz sagt. Angekommen im KZ-Auschwitz-Birkenau, dem Zigeunerlager wird ihr die Nummer 10 550 in den linken Unterarm eingebrannt und zur Arbeit gezwungen in einer Munitionsfabrik. Nach 14 Stunden zurück mit ihren Leidesgenossen muss sie singen „Schwarz-braun ist die Haselnuss“. Die Schreie der Gefolterten, der beißende Geruch der Krematorien, die Asche der Verbrannten, die sie mit Händen sammeln muss, all das ist mit Worten nicht zu fassen. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, dichtete 1948 Paul Celan in der großen Elegie „Todesfuge“.

Die am 21. Juli 1922 in Biberach geborene Philomena geht in den KZs von Auschwitz und Ravensbrück durch ihr Golgatha. In ihrem Buch „Zwischen Liebe und Hass“ schreibt sie alles auf: acht Familienmitglieder werden von deutschen SS-Tätern ermordet, so wie 500.000 andere Sinti und Roma, so wie unsere jüdischen Mitbürger aus Deutschland und vielen europäischen Ländern, über sechs Millionen, eine unvorstellbare Zahl, zu der die Toten der Völker der ehemaligen UdSSR durch Wehrmacht, Waffen-SS und Sondereinheiten des sog. Sicherheitsdienstes (SD) hinzukommen: 27 Millionen Menschen.

Die Sprache kommt an ihre Grenzen, das alles zu erfassen. Und nicht nur Christen fragen sich seit 1945, fragen sich auch heute: Wo war Gott in Auschwitz und in den über 1600 anderen KZ und Lagern, wo die Menschen nach den Plänen der Wannsee-Konferenz ermordet wurden. Kann es Gott noch geben?

Wie ist es unserer Mitbürgerin Philomena Franz ergangen, die viele Jahre in Rösrath lebte, im Wiesenweg und in der Bleifelder Straße und nunmehr in Bergisch Gladbach?

Sie schreibt: „Wenn es mir zu laut in der Baracke wurde, wenn zu viele Menschen um mich herum waren, als dass ich beten konnte, ging ich hinaus. Zwei Baracken standen schräg zueinander, so dass ein Winkel entstand. Hinter ihnen verlief der Stacheldrahtzaun. Ich setzte mich in die Ecke auf dem Boden und lehnte mich an die warmen Bretter. Das Frühjahr kam. Die Luft war bereits mild. Dort sprach ich mit Gott. Ich klagte ihm mein Leid und bemerkte, wie es mir während des Gesprächs schon besser ging und ich zufriedener wurde. Ich schloss die Augen und betete: Es ist furchtbar. Ziellos und hoffnungslos. Es gibt kein Gericht, kein Ort, nirgendwo, wo man für sein Recht sprechen könnte. Ich habe Angst vor der Krätze, an der Menschen verenden, Löcher in sich, stinkend, ohne Salbe. Lieber Gott, mögest Du mich verschonen. Aber ich verlange nichts von Dir.“

Diese Zeilen offenbaren eine Zuwendung zu Gott, die man kaum verstehen kann, aber sie nehmen mit, nehmen uns an die Hand und sagen uns: Gott war auch in Auschwitz, sein Sterben als unschuldig Ermordeter war auch in den Krematorien, er blieb das nahe Gegenüber. Und Menschen wie Philomena Franz sind die Membrane, durch die Er spricht. Wenn das Wort „gottbegnadet“ gefüllt werden kann, dann durch den Lebensweg unserer tapferen Mitbürgerin, einer nun hundertjährigen Frau, die das Kreuz getragen und uns so österliches Licht gegeben hat. Bis heute.

Als sie im KZ ihre Patin wiedersieht, erkennt sie diese zunächst nicht, dann nimmt sie die Sterbende doch wahr und erhält von ihr jene Lebensmaxime, die ihr Leben prägen.

„Dass ich Dich noch einmal sehen darf, meine Tochter, ist für mich die schönste Belohnung, die Gott noch für mich bereithält“, sagt sie und fügt an: „Wir werden alle sterben, mein Kind, bete für Deine Seele und verzichte auf Rache, verzeih denen, die uns peinigen; denn sie wissen ja nicht, was sie tun.“ Sie starb in den Armen von Philomena. Die sterbende Tante entzündete neues Lebenslicht in der 21-Jährigen.

In den dunklen Nächten kommen diese Worte zurück, die Panik steigt. Aber sie bleibt im Gespräch mit Gott. Wenn ich sie besuche in Bergisch Gladbach, brennt immer eine Kerze vor einer Madonna-Figur. „Betest Du zu ihr?“  – „Nicht direkt, ich bitte sie, sich an Jesus zu wenden. Ich glaube an den Dreifaltigen Gott. Jesus ist unsere Rettung.“

Das ausführliche Porträt ist aus dem Buch Der Himmel über Rösrath entnommen.

Der Himmel über Rösrath
Matthias Buth
Pop Verlag, Ludwigsburg 2020

100 Jahre Philomena Franz

Am 21. Juli 2022 veranstaltet das Philomena Franz-Forum, das Rösrather Bürger am 27.1.2021 gegründet haben, in Schloss Eulenbroich eine große wissenschaftliche Tagung mit anschließendem Konzert der Sinti-Jazz-Formation Romeo Franz Ensemble.

Am Vorabend, am 20. Juli 2022, 19 Uhr laden die beiden christlichen Gemeinden in Rösrath auf Initiative des Forums in Sankt Servatius in Hoffnungsthal zu einem ökumenischen Gottesdienst ein, zum ersten Poetischen Nachtgebet.

Philomena Franz bringt uns zusammen sowie die Geschichte von Sinti und Roma und auch die Spuren des NS-Terrors in unserer Stadt. Wenn wir hassen, verlieren wir, wenn wir lieben, werden wir reich. Das ist das Prinzip der „Frau Europas“, ein Glück, sie in unserer Mitte zu haben. Sie hilft, festzuhalten an der rettenden Kraft des Gebetes, gerade jetzt, wo ein ferner Diktator unsere nahen Nachbarn in der Ukraine vernichten will. Sie werden mit Gottes Hilfe überleben – wie Philomena Franz.
Dr. Matthias Buth

Das ausführliche Programm zu den Veranstaltungen rund um den hundersten Geburtstag von Philomena Franz finden Sie hier.


Bildnachweis:
Matthias Buth © De Caesius (De Caesius (talk)), via Wikimedia Commons

18. Juli 2022 || ein Beitrag von Dr. Matthias Buth, Jurist, Dichter und Schriftsteller, Hoffnungsthal