Madrid. Eine Erinnerung.
Mittwoch, 20.Oktober 2004: ¡Hola!
Ich sitze im Flug Iberia IB 3515. Mein Ziel ist Madrid. Die beiden wichtigsten Bestandteile meines Reisegepäcks: der Abschluss meines Magisterstudiums und die Anstellungsvertrag als wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl für politische Wissenschaft 1 der Universität Mannheim. Diese Dokumente, die zu diesem Zeitpunkt nur virtuell existieren, markieren nämlich die beiden Lebensabschnitte, zwischen denen ich mich nun befinde. Und sie schaffen einen dieser sonderbaren Zwischenräume, die es manchmal im Leben gibt – das Alte ist gerade vorbei, das Neue hat noch nicht angefangen. Ein bisschen scheint die Zeit stehen zu bleiben in diesen Fugen und Ritzen. Die Vergangenheit ist erfolgreich abgeschlossen, die Zukunft endlich – und unerwartet plötzlich – sicher, zumindest für die nächsten zwei, drei Jahre. Das sollte man auskosten.
Die Maschine landet pünktlich. Was weiß ich in diesem Augenblick von Madrid? Spanische Hauptstadt, Real Madrid, Guernica, Anschlag auf den Atocha-Bahnhof – viel mehr ist es nicht. Umso mehr gibt es in den nächsten sechs Tagen zu entdecken…
Die Stadt empfängt mich mit Nieselregen. Außerdem ist es schon dunkel, Autos schieben sich durch die Calle Atocha, Menschen hasten über die schmalen Bürgersteige. Es ist laut, sieht alles etwas schmuddelig aus, nicht sehr einladend, aber urban, etwa wie in Pigalle. Ich fühle mich also nicht unwohl.
Ich gehe die Calle Atocha hinunter, suche die Nummer 28 und das Hostal Horizonte. Es war das billigste seiner Art, machte aber einen vielversprechenden Eindruck: alter Familienbetrieb, über Jahrzehnte Heimstatt vieler Künstler und Reisender.
Im Hotel angekommen, richte ich mich ein und mache mich dann auf den Weg in das Viertel Huertas, das auf der anderen Seite der Calle Atocha liegt. Huertas ist das Literaten- oder Genieviertel, hier wohnten Lope de Vega, Tirso de Molina, Calderón de la Barca und Miguel de Cervantes, dessen Don Quijote ein paar Häuser von meinem Hostal entfernt, in der Calle Atocha Nr. 87, gedruckt wurde.
Heute ist Huertas ein lebendiges Viertel mit vielen Bars rund um die Plaza de Santa Ana, die ich nun überquere. Auf den Schmalseiten des Platzes befinden sich das alte Theatro Español, das angestrahlt ist, und das wundersame Hotel Reina Victoria mit seinem Leuchtturm, das nach wie vor eine beliebte Herberge der Stierkämpfer ist. Zur Rechten und zur Linken befinden sich Bars und Cervecerias, darunter auch die Cerveceria Alemana, die einstmals Treffpunkt von Intellektuellen, Politikern und Stierkämpfern war (deutsches Bier wirkt eben anziehend). Rund um die Plaza verlaufen viele kleine Sträßchen – die schöne Calle de las Huertas mit den ins Pflaster eingelassenen Zitaten der großen Dichter, die Calle Echegaray, die Calle Cruz und wie sie alle heißen.
Überall reiht sich eine Bar an die nächste. Das kommt mir gelegen, habe ich doch mittlerweile großen Hunger. Die Madrilenen essen abends, so sagte man mir, hauptsächlich tapas, also kleine Häppchen, die zu jedem Bier gereicht werden. Wieder einmal erweist sich der Krieg als Vater aller Dinge: Seitdem Alfons der Weise, um die Kampfkraft seiner Soldaten besorgt, verfügte, dass zu jedem alkoholischen Getränk etwas Essbares gereicht werden müsse, bilden tapas und copas (Weingläser), ein unzertrennliches Duo.
Für mich als Fremden ist diese Praxis aber etwas verwirrend: Muss man die tapas bestellen oder kommen die automatisch? Und wird man davon überhaupt satt? Bekommt man sie auch ohne Bier? Sonst ist man hinterher zwar satt aber auch betrunken. Ich gehe unschlüssig an den vielen Tapas-Bars vorbei. Drinnen sehe ich viele zufriedene Menschen – es scheint also zu funktionieren. Ich suche mir eine Kneipe aus und gehe hinein.
Lesen Sie morgen den zweiten Teil der Reiseerinnerungen und besuchen Sie mit Matthias Lehnert das Museo del Prado.
Vom 15. bis 19. November 2021 laden wir Sie zur Ferienakademie Vielseitiges Madrid. Spaziergänge durch Spaniens Hauptstadt ein. Folgen Sie dem Kunsthistoriker Matthias Franze, der seit vielen Jahren in Spanien lebt und Ihnen die Vielseitigkeit der spanischen Hauptstadt zeigt.
Bildnachweis
An der Einmündung der Calle de Alcalá in die Gran Vía steht das markante Metropolis-Haus. Bild: alevision.co auf Unsplash, gemeinfrei
Pimientos de Padrón, eine galizische Spezialität, in einer madrilenischen Bar. Bild: Takeaway via Wikimedia (CC BY-SA 3.0)
7. Oktober 2021 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert