Madrid. Man müsste Schauen lernen!

Donnerstag, 21. Oktober 2004: Die Kunst gibt Rätsel auf

Draußen scheint die Sonne, so dass ich einen kurzen Augenblick überlege, mein Tagesprogramm umzuschmeißen und noch ein wenig herumzulaufen. Aber andererseits: die doppelte Maja, die Meninas – nein, die Entscheidung steht, ich gehe jetzt in den Prado.

Das große Museum liegt am Boulevard Paseo del Prado, der vom Atocha Bahnhof bis hinauf zum Brunnen der Kybele führt, in den die Fans von Real Madrid nach gewonnen Spielen springen. Diese vielleicht schönste Promenade der Stadt wurde von Karl III., dem aufgeklärten Monarchen und „besten Bürgermeister Madrids”, als königliche Flaniermeile angelegt. In der Mitte der mehrspurigen Autostraße verläuft ein langgestreckter Grünstreifen mit Platanen und Blumenrabatten. Zudem ließ König Karl zum Zwecke der Volksaufklärung einen botanischen Garten errichten.

Höhepunkt dieses Ensembles ist natürlich das Museo del Prado, eine der bedeutendsten Gemäldesammlungen der Welt und jetzt Ziel meines kleinen Spaziergangs. Viele Plakate an Verkehrsschildern und Straßenlaternen werben für die Sonderausstellung „El retrato español. Del Greco a Picasso” („Das spanische Porträt von El Greco bis Picasso”), die am Tag meiner Ankunft, also gestern, eröffnet worden ist. Das hört sich doch sehr gut an! Ich erwarte entsprechend lange Besucherschlangen und gesalzene Eintrittspreise, werde aber in beidem positiv überrascht: Nach einer ganz kurzen Wartezeit und für den lächerlichen Obulus von anderthalb Euro bekomme ich Einlass in eine große Säulenhalle, den Empfangsbereich des Prado.

Wunderbar entfaltet sich die Entwicklung der spanischen Porträtmalerei von El Greco und Velazquez über Goyas zweites Doppelbildnis der Duquesa de Alba, die als nackte Maja für so viel Wirbel gesorgt hatte, bis hin zu Picassos unglaublichen Autoretrato: Dieser blasse, hagere Mann im Mantel mit hochgeschlagenen Kragen, der einen da mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck aus dem blautrüben Nichts anschaut, gehört zu meinen persönlichen alltime favorites. Hier markiert er nun den Schlusspunkt der Sonderausstellung – also nur das Ende vom Anfang, denn unter, über und neben dieser Gemäldefolge erstrecken sich ja die eigentlichen Schatzkammern des Prado. Hier begegnen einem Goyas Skandalbild der Maja desnuda – die Aufregung ist heute überhaupt nicht mehr nachvollziehbar – und daneben das Schwesterbild der bekleideten Maja.

Hier bräuchte man jetzt einen kundigen Führer, der einen in die Geheimnisse dieses doch etwas unscheinbaren Werkes einführen könnte. So stehe ich etwas verloren da. Richtig undurchschaubar, auch für den Kenner, ist dann das Zentralwerk der Sammlung, Velázquez’ Hofdamen (“Las Meninas”).

Jeder hat es schon mal gesehen, und doch meint Ernst Gombrich, würden wir vielleicht nie erfahren, was es bedeute. Foucault, Nooteboom und viele andere Geistesgrößen haben sich den Kopf über dieses gewaltige, über drei Meter hohe Gemälde zerbrochen, und dennoch: Alles bleibt rätselhaft an dieser Ansammlung von Personen, mit der Infantin Margarita in der Mitte, den Hofdamen, Zwergen und Spaßmachern. Es ist eine Momentaufnahme: Velázquez malt sich selbst, das Königspaar malend. Aber vielleicht ist es auch viel mehr. Was wir wissen, ist einzig und allein, dass Menschen seit Jahrhunderten von diesem Gemälde fasziniert sind, dass es daher als unumstrittenes Meisterwerk des 17. Jahrhunderts gilt und auch heute noch scharenweise Betrachter aus aller Herren Länder anzieht, die vor ihm verweilen und vermutlich doch nicht recht schlau aus ihm werden.

Natürlich wollte ich die Meninas sehen, bin ich auch ihretwegen hier, aber mit ihnen geht es mir wie mit vielen anderen Kunstwerken, mit Tizians Bildnis Karls V. in Mühlberg etwa, das im Nachbarsaal hängt: Man kennt sie aus Büchern und Zeitungen und will sie mal im Original gesehen haben. Doch dann tappt man in die Falle, weil man sie einfach nur an anderer Stelle sieht, sich seine (lückenhafte) Kunstkenntnis bestätigt, ein Wohlgefühl der Kennerschaft, des Wiedererkennens empfindet – und weitergeht. Es ist nur ein Zuordnen von Bildern und Namen, ein dummes Memoryspiel, bei dem man die richtigen Paare bilden muss. Darüber hinaus tut sich nicht viel. Die meisten Bilder, muss ich gestehen, schaue ich mir wohl auf diese Art an. Kurz verweilen, das gehört sich so, Bild scannen, Namen zuordnen, Blick auf die nebenstehende Tafel, dann zum nächsten Objekt gehen, wo das Ganze von vorne beginnt. Das ist sehr schade, aber ich weiß nicht recht, wie ich es ändern könnte. Manchmal, viel zu selten, überrascht einen ein Kunstwerk, durchbricht das Muster von Sehen-Erkennen-Benennen und zwingt einen innezuhalten. So ging es mir mit Monets Seerosen in New York und vielleicht noch mit einer Handvoll anderen Werken, einer verschwindend geringen Zahl. Man müsste Schauen lernen!

Klar, es gibt Bilder, die sich einprägen, die man erst im Museum kennenlernt, die einen überraschen, weil sie keine Erwartungen erfüllen müssen: Das Bildnis eines Mönches, der am Kreuz Christi steht, zum Beispiel. Und vor allem Goyas „pinturas negras”, die schwarzen Bilder, die sie im Prado fast versteckt haben, an einem Ende des Ganges, der die Atmosphäre einer Abstellkammer hat.

Hier hängen sie also, die Bilder aus Goyas letzter Schaffensperiode, direkt auf die Wand seines Landhauses Quinta del Sordo gemalt. Eine düstere Welt tut sich vor dem Auge des Betrachters auf; Grau, Braun, Schwarz – andere Farben gibt es in ihr nicht. Diese Welt ist bevölkert von schreienden, stöhnenden Kreaturen, sabbernden zahnlosen Greisen, zusammengekauerten Massen schemenhafter, fast gesichtsloser Geschöpfe.

Hier schlagen zwei Männer, knietief im Morast steckend, mit Stöcken aufeinander ein, dort sitzt ein Riese einsam am Rande der Welt. Zwei in Lumpen gehüllte Greise, mit totenkopfhaftem Schädel der eine, mit irrem Blick der andere, sitzen beim Essen. Ein Hund ertrinkt in einem konturlosen Meer brauner und beiger Farbe.

Und schließlich, in einer Ecke, finde ich ein Bild, das mich als Kind sehr beängstigt hat: Saturn, der eines seiner Kinder frisst. Es war in einem Lexikon antiker Sagen abgebildet, wo ich es mir immer wieder anschauen musste und zugleich immer wieder überblätterte, weil es so furchtbar war. Jetzt stehe ich vor den weit aufgerissenen Augen, dem offenen Maul des Kronos, dem Sohn der Erdmutter Gaia, der den Körper eines seiner Kinder in den Händen hält. Kopf und Arme dieses Geschöpfs hat der grausame Vater, die mythologische Darstellung von Zeit und Tod, schon abgebissen, so dass nur noch blutige, zerfetzte Gliedmaßen übriggeblieben sind. Es ist die Tollwut, das Irre im Gesichtsausdruck des Kronos, die einen so gefangen nehmen. Man muss ihn einfach anschauen und kann es doch nicht recht.

Ich laufe dreimal, viermal zwischen den immer gleichen Sälen hin und her, kehre zu Bildern zurück, und versuche mir Abfolgen zu merken. Über drei Stunden verbringe ich auf diese Weise, allein, ich spreche kein Wort, versuche nur zu schauen. Die Skulpturensammlung und die Dürer-Kabinette habe ich dabei überhaupt nicht gesehen. Es wäre zu viel gewesen.

Erschöpft und hungrig verlasse ich diesen Kunsttempel und mache mich wieder auf den Weg in das heimatliche Huertas. Ich finde ein kleines Café mit dem klangvollen Namen Elfindelafan, außen unscheinbar, innen sehr wohnlich, Retro-Sperrmüll-Chique, mit dezenten Farben, warmen Licht, coolen Sesseln und leisem Elektro-Pop. An der Tür sitzt eine wunderbare Französin. Ich sitze am anderen Ende des kleinen Raumes, lese Zeitung und trinke café con leche. Die Bedienung singt die lyrics der sehr angenehmen Platte mit. Die Bedienung ist auch selbst sehr angenehm. Ich bleibe noch ein bisschen.

In der alten Casa Alberto trinke ich ein paar canas, esse tapas und rauche Pfeife. An der Wand hängen dicke Schinken, von denen sie hin und wieder ein paar Scheiben absäbeln, alles sieht altertümlich aus in dieser Taverne. Schließlich bin ich müde. Die Uhr spielt keine Rolle, ich gehe irgendwann ins Bett und stehe irgendwann auf. Jetzt ist es eins oder zwei. Ich habe Zeit, aber morgen will ich mir Guernica ansehen, da muss ich ausgeschlafen sein.

Lesen Sie morgen den dritten Teil der Reiseerinnerungen und besuchen Sie mit Matthias Lehnert das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía.

Vom 15. bis 19. November 2021 laden wir Sie zur Ferienakademie Vielseitiges Madrid. Spaziergänge durch Spaniens Hauptstadt ein. Folgen Sie dem Kunsthistoriker Matthias Franze, der seit vielen Jahren in Spanien lebt und Ihnen die Vielseitigkeit der spanischen Hauptstadt zeigt.

Bildnachweis

Es bleibt rätselhaft: Las Meninas von Diego Velázquez (1656) via Wikimedia, gemeinfrei
Das Museo del Prado. Bild: Brian Snelson via Wikimedia (CC BY 2.0)
Die nackte Maja von Francisco de Goya (1799-1800) via Wikimedia, gemeinfrei
Saturn verschlingt seinen Sohn von Francisco de Goya (1819-1823) via Wikimedia, gemeinfrei

8. Oktober 2021 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert