So kennen wir sie gar nicht. Eine Buchempfehlung im Marienmonat

Der irische Autor Colm Tóibín dürfte einem größeren Publikum über die vielfach preisgekrönte Verfilmung seines Romans „Brooklyn“ aus dem Jahr 2015 bekannt geworden sein. Bereits im Jahr zuvor war sein kurzer Roman „Marias Testament“ in deutscher Übersetzung erschienen und in den maßgeblichen Feuilletons begeistert aufgenommen worden.
Tóibín lässt Maria selbst ihre Geschichte erzählen. Als alte Frau, die in ihrem Leben traumatische Erfahrungen gemacht hat und nun im Exil lebt, blickt sie in einem inneren Monolog zurück. Vor ihrem inneren Auge sieht sie Ehemann und Sohn, beide schon lange tot, am Sabbat zum Tempel gehen. Sie sieht hilflos mit an, wie sich der heranwachsende Sohn verändert und eine Gruppe von jungen Männern um sich schart, die in ihren Augen Nichtsnutze und Missratene sind.

In der Rückschau macht Maria sich Vorwürfe, dass sie nicht genauer hingesehen hat, wer sich da in ihrem Haus versammelte. Aber: „Etwas an der Ernsthaftigkeit dieser jungen Männer stieß mich ab, trieb mich in die Küche oder in den Garten; etwas an ihrem unbeholfenen Hunger und das unbestimmte Gefühl, dass jedem von ihnen irgendetwas fehlte, erweckte in mir das Bedürfnis, Essen oder Wasser oder was auch immer zu servieren und dann schnell zu verschwinden, bevor ich ein einziges Wort von dem gehört hatte, worüber sie redeten.“

Es sind diese schemenhaften Erinnerungen, die das Erzählte zeitlos erscheinen lassen und damit auch eine Verbindung in unsere Gegenwart zulassen. Tóibín hat in einem Gespräch mit der Zeitung Die Welt angemerkt, aus der von ihm entworfenen Marienfigur könne „auch die Mutter eines Selbstmordattentäters zu uns sprechen oder die Mutter eines Sohns, der sich im Hungerstreik befindet. Eine Mutter, die sagt: ‚Okay, es geht um etwas Größeres, aber für mich ist es meine Geschichte und die meiner Familie‘.“ Dieser Widerstreit der Sichtweisen verleiht Tóibíns Erzählung eine überzeitliche Dramatik. Maria weiß, was die anderen in ihrem Sohn sehen. Sie erinnert sich, wie manche schon nach der Auferweckung des Lazarus raunten, es werde bald einen Aufstand gegen alles geben, „was wir bis dahin kannten, einschließlich des Todes.“ Die Wucht dieser Worte beeindruckt auch sie. Aber Maria behält das, was man gemeinhin „gesunden Menschenverstand“ nennt. Und: Sie liebt ihren Sohn und ist nicht bereit, ihn für derartige Erlösungsphantasien zu opfern.

Doch als sie ihn bei der Hochzeit zu Kana warnen will, weist er sie brüsk ab: „Weib, was geht‘s dich an, was ich tue?“ So fügt sich Maria in ihr Schicksal, auf das sie nun mit dem Abstand von vielen Jahren zurückschaut. Qualvoll sind ihre Erinnerungen an Leiden und Tod des Sohnes, die in dem leidenschaftlichen Bekenntnis kulminieren: „Ich war dort […] Ich floh, bevor es vorbei war, aber wenn ihr Zeugen braucht, dann bin ich eine Zeugin, und wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war.“

Es geht Tóibín nicht darum, mit blasphemischen Provokationen religiöse Gefühle zu verletzen und auf diese billige Art Aufsehen zu erregen. Seine Mariendarstellung ist nicht gegen das Evangelium oder die Kirche gerichtet. Sie entwertet nichts. Indem Tóibín die Bitterkeit, den Schmerz und die Wut der Mutter, die ihren Sohn verloren hat, in Worte fasst, zeigt er uns eine Facette der Maria, die ihre Verehrungswürdigkeit in keiner Weise schmälert.

Lesenswert ist diese Darstellung nicht zuletzt wegen ihrer Sprache, die auch in der gelobten Übersetzung einen eigenen Klang hat. Maria spricht nüchtern, klar und schonungslos. Sie will niemandem mehr gefallen und muss keine Rücksicht mehr nehmen. Tóibín nannte im Gespräch mit der FAZ die Bach-Kantaten als wichtige Inspiration, „nicht wegen der Worte, sondern wegen des Tons.“ Immer wieder habe er die Kantaten „Ich habe genug“ (BWV 82) und „Mein Herze schwimmt im Blut“ (BWV 199) in der Darbietung der amerikanischen Mezzosopranistin Lorraine Hunt Lieberson gehört, was die Tonalität des Monologs geprägt habe.

In ihrer Kombination entfalten Inhalt und sprachliche Form der Erzählung eine eindrückliche Kraft. So hat man die Gottesmutter noch nicht gesehen und gehört. Sicher: Es handelt sich in jedem Bedeutungssinne um ein Kunst-Werk, nicht um eine theologische Abhandlung und schon gar nicht um eine religiöse Offenbarungsschrift. Dennoch bietet Tóibíns Darstellung eine wertvolle Ergänzung unseres reichen Bestandes an Marienbildern, die geeignet ist, uns den Mensch Maria nahezubringen.

Colm Tóibín (2014): Marias Testament, Carl Hanser Verlag, München, 128 Seiten.

Bilder:
Old Iranian Woman. Abyaneh, Iran. Foto von Steven Su auf Unsplash, gemeinfrei
Notre Dame des Oliviers, Murat, France. Foto von DDP auf Unsplash, gemeinfrei

28. Mai 2020 || empfohlen von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR