Von der Kunst, Kunst zu unterrichten

Als mich neulich meine Kollegin Sandra Gilles auf den Maler Gustave Courbet ansprach, dessen einstiges Wohnhaus im Rahmen einer Ferienakademie besucht werden soll, wurde ich wieder einmal an den großartigen Kunstunterricht erinnert, den ich an einem niederrheinischen Kleinstadtgymnasium Mitte der 1990er Jahre genießen durfte. Während nur wenige Kilometer entfernt an der bischöflichen Internatsschule Collegium Augustinianum Gaesdonck der kürzlich verstorbene Kunstsammler und Beuys-Vertraute Franz Joseph van der Grinten Generationen von Schülern auf ihren Weg in die Kunst begleitete, wirkte am Städtischen Gymnasium ein Mann, der bis heute keinen Wikipedia-Eintrag hat und über den auch eine ausdauernde Internetrecherche kaum Verwertbares zu Tage fördert. Da er also offenbar Wert auf seine Privatsphäre legt, soll er hier lediglich Herr T. genannt werden.

In der Mittelstufe hatte ich wohl erstmals Unterricht bei Herrn T., erinnere mich aber an wenig: Zeichenübungen mit Feder und Buntstift, Bilder von winterlichen Sonnenaufgängen. Einmal mokierte er sich über den erbarmungswürdigen Zustand meiner Pinsel: „Lehnerts arbeiten immer mit minderwertigem Material“ (auch mein Bruder war ein leidenschaftlicher Maler, sein Malkasten in entsprechender Verfassung). Meine Mutter war entsetzt und kaufte mir gleich einen neuen Satz Wasserfarben und Pinsel.

Das eigentliche Revier des Kunstlehrers T. aber war die Oberstufe. Hier empfing er uns im erstaunlich schmucklosen Kunstsaal. An der Wand bisweilen besonders gelungene Bilder seiner Eleven, dazu ein Poster mit der Botschaft: „Schock deine Eltern, lies ein Buch!“. Ich stelle mir vor, dass Herr T. irgendwann die Herausforderung angenommen hatte, einem immer neuen, immer lärmenden Haufen weitgehend ahnungsloser Teenager die Tür zur Welt der Kunst zu öffnen, ihnen nun, gegen Ende der schulischen Laufbahn noch ein paar Dinge angedeihen zu lassen, die ihnen jetzt vielleicht sinnlos erscheinen mochten, deren Wert aber doch dem ein oder der anderen im Laufe der Jahre bewusst werden würde. Das musste sein Ehrgeiz gewesen sein. Davon angetrieben hatte Herr T. einige Unterrichtsreihen entworfen, jede ein in sich geschlossener cursus, mit Bedacht komponiert, zwar stets einer ungefähren Chronologie folgend, aber doch erkennbar von Schwerpunkten geprägt, für deren Setzung er allein Verantwortung trug.

Ich erinnere mich an eine Reihe zur Fotografie, die bei den Pionieren Daguerre, Niépce und Fox Talbot begann und bis zu Man Rays „Violon d’Ingres“ und zu den politischen Collagen John Heartfields führte. Wie viel Zeit hatte Herr T., um uns mit dem Wirken der Gebrüder Herzfelde vertraut zu machen? Ich weiß es nicht, aber ich erinnere mich an die Namen und die Bilder, die er in den politischen Kontext ihrer Entstehungszeit einordnete. Dazu gab es stets exquisites Medienmaterial, Folien und Dias natürlich, aber auch aufgezeichnete Radiosendungen und Kurzfilme (denen manchmal kleine Vorfilme vorausgingen, die Herrn T. beim Gitarrespielen zeigten).

Eine andere große Reihe trug den Titel „Die Entwicklung zur autonomen Plastik“. Hier stellte Herr T. uns die Venus von Willendorf vor, machte uns mit den archaischen Kouroi und dem Wagenlenker von Delphi bekannt, um uns dann am Beispiel von Polyklets Speerträger die Besonderheiten des Kontraposts entdecken zu lassen. Dort angelangt führte Herr T. uns vorbei an der Laokoon-Gruppe zu Michelangelos David. Er lenkte unsere Blicke auf Stand- und Spielbein, auf die Haltung der Hände, befragte uns zum Gesichtsausdruck des alttestamentarischen Heros. Der Ausgangspunkt war immer die eigene Wahrnehmung. Was sehen wir? Was strahlt das aus? Wie wirkt das auf Sie? Diese Fragen konnte jeder beantworten, ob nun im heimischen Wohnzimmer moderne Kunst oder der röhrende Hirsch hing. Herr T. erwies sich als Meister der sokratischen Fragekunst, dieses intellektuellen Hebammendienstes, der den Weg zum eigenen Denken ebnet. Das Drohpotential der Zensuren und andere Zwangsmittel standen ihm kaum zur Verfügung. Nie wäre eine schulische Laufbahn wegen schlechter Noten im „Orchideenfach“ Kunst gefährdet gewesen. Herr T. war sich wohl bewusst, dass er in der von den sogenannten Hauptfächern angeführten informellen schulischen Rangordnung ziemlich weit unten stand. Mit feiner Ironie, großem Fachwissen und stupender Allgemeinbildung war er über pädagogische Konzepte erhaben, die allein auf die sogenannte „Sekundärmotivation“ der Schüler setzten.

Der Erfolg gab ihm recht: Als wir auf Klassenfahrt nach Florenz kamen, war uns der Besuch der Piazza della Signoria mit der David-Statue keine Pflichtübung, sondern ein echtes Anliegen. Und auch im Unterricht erzielte Herr T. erstaunliche Resultate: Immer wieder beteiligten sich Leute am Geschehen, die sich ansonsten kaum für schulische Belange zu interessieren schienen. Hier stellten sie plötzlich Fragen oder äußerten ihre Ansichten. Sicher wird die schillernde Gestalt des Lehrers dazu beigetragen haben, seine ausgefallene Kleidung, die – echte oder nur inszenierte – Leidenschaft für italienische Sportwagen und niederrheinische Topmodels, seine bizarren politischen Statements, in denen er sich als Vertreter einer ominösen „Roten Zelle Kunst“ präsentierte, die im andauernden Kampf mit den Spießern von der „Schwarzen Zelle Anti-Kunst“, aber auch mit „wüsten Kleksern“ wie Immendorff oder Lüpertz stand. Am Rande verwickelte er einen in kleine Gespräche über Politik oder Automobildesign, in denen er mit sanftem Spott Einfluss auf den Geschmack seiner Schützlinge nahm.

Dann aber ging es schon weiter, in das Atelier Auguste Rodins, wo Herr T. die Bürger von Calais auswählte, deren Mimik und Gestik wir ausführlich studierten. In meiner Erinnerung fand diese Reise ihren Endpunkt vor Umberto Boccionis futuristischer Plastik „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“. Wieder verstand es Herr T., unsere Begeisterung zu wecken für den Versuch, Bewegung mit den Möglichkeiten der Skulptur zu erfassen. Daran denke ich, wenn mir ein italienisches 20-Cent-Stück in die Hände fällt, das heute ein Abbild der Skulptur zeigt. Herr T. lenkte unsere Aufmerksamkeit indes nicht nur auf die Kunstwerke, sondern wollte auch die Motive und Weltsichten ihrer Schöpfer begreifbar machen. So ließ er uns „Futuristische Manifeste“ verfassen, um uns dann mit Marinettis Begeisterung für den Faschismus zu irritieren. Auch künstlerische Avantgarde, so die unausgesprochene Botschaft, schützt vor grauenhaftem politischem Irrtum nicht. Es folgten Breker und Thorak…

Schließlich dann die Malerei. Herr T. fuhr die mittelalterlichen Maler auf, vor denen uns allen grauste. Wer wollte schon wissen, was den „Meister der Georgslegende“ oder den „Meister der Lüneburger goldenen Tafeln“ umgetrieben hatte?! Aber Herr T. insistierte: „Sie müssen das kennen, sich umfassend bilden, die Bibel lesen und am besten noch einen ganzen Haufen anderer Bücher. Sonst können Sie die Kunst nicht verstehen…“ Weiter ging es dann mit Giotto, der Mona Lisa, und dem Manierismus Archimboldos. Ich erinnere mich auch an die intensive Beschäftigung mit Jacques-Louis Davids „Schwur der Horatier“ und seinem „Tod des Marat“.

Den größten Effekt erzielte Herr T. aber, als er uns mit Caspar David Friedrich konfrontierte, den er oft einfach CDF nannte. Kein Siebzehnjähriger interessiert sich für Kreidefelsen, Mondbetrachter oder bizarre Eisformationen. Herr T. muss hier eine besondere Herausforderung gespürt haben. So machte er sich mit Verve ans Werk, führte in Friedrichs Malweise und Motivation ein, öffnete unsere Augen für die Komposition der Bilder. Wo weist denn die Eisscholle hin? Verlängern Sie mal die Achse. Was steht da im Zentrum des Gebirges?

Plötzlich erkannten wir: Oha, hier war ja nichts einfach so gemalt! Alles ergab Sinn, hatte Bedeutung, vermittelte eine Botschaft – und stieß die Zeitgenossen vor den Kopf. So hatte Herr T. uns zu Bewunderern seines geliebten CDF gemacht. Nach einem Vierteljahrhundert ist vom Wissen nicht mehr viel übrig. Überdauert hat aber die diffuse Verbindung zum Künstler Friedrich, der einem einmal so nahe gekommen war, wie es wohl die Distanz von bald zweihundert Jahren nur zuließ. Großen Eindruck machten damals auch die Impressionisten mit einfahrenden Zügen und Sonnenaufgängen, der Dadaist Hugo Ball mit seinem Lautgedicht „Karawane“ sowie Salvador Dalís surrealistische „Metamorphose des Narziss“, von der Sigmund Freud gesagt haben soll, das Bewusste sei hier interessanter als das Unterbewusste. In einem solchen Umfeld hatte es Gustave Courbet mit seinen Steinklopfern und Begräbnisszenen nicht leicht. Herr T. sorgte aber dafür, dass auch der Frontmann des Realismus zu seinem Recht kam.

So war die Frage meiner Kollegin nur eine weitere von unzähligen kleinen Gelegenheiten, die sich ganz unerwartet irgendwie im Alltag auftun und einen dankbar an den großartigen Kunstunterrichts erinnern, den uns Herr T. gegeben hatte. Mit Leidenschaft und Fleiß hat uns dieser Mann, bei dem sich die Liebe zur Kunst mit pädagogischer Begabung und einer fast buchhalterisch zu nennenden Akribie glücklich verbanden, eine Welt eröffnet, die so ganz anders, so viel weiter, bunter und abenteuerlicher war, als es uns der niederrheinische Kleinstadtalltag in diesen tristen letzten Jahren der schier endlosen Ära Kohl erschien. So hat Herr T. wie sein ungleich bekannterer Kollege van der Grinten viele Schülergenerationen geprägt, wohl auch die ein- oder andere Studien- und Berufswahl beeinflusst, ganz sicher aber eine Wertschätzung für das geschaffen, was Kunst vermag.

Bilder
Michelangelo Buonarroti (1501 – 1504): David. Bild von Alex Ghizila auf Unsplash, gemeinfrei
Gustave Courbet (1854): Die Begegnung – Bonjour, Monsieur Courbet. Bild: Wikipedia, gemeinfrei
Umberto Boccioni (1913): Forme uniche della continuità nello spazio. Bild: Wikipedia, gemeinfrei
Caspar David Friedrich (1808 – 1810): Der Mönch am Meer. Bild: Wikipedia, gemeinfrei

24. November 2020 || von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert