Mit den Augen Giottos: Jesus begegnet Judas

Giottos Fresko „Judas küsst Jesus“

Ein besonderes Kennzeichen der Malweise Giottos, der als ein Wegbereiter der Renaissance in Italien angesehen werden darf, ist die detailgetreue Darstellung von Architektur und Personen. In diesem Bildschnitt aus dem Leben Jesu ist die Szene des „Judaskusses“ und der Gefangennahme Jesu dargestellt.

Vor einem nachtblauen Hintergrund, der keinerlei Hinweise zur Umgebung gibt, fallen zwei Menschenansammlungen auf, die sich durch emporgereckte Waffen und Fackeln sowie durch dunkle und aneinandergereihte Helme auszeichnen. Lediglich der Bildmittelgrund zeigt im Profil dargestellte Gesichter von Akteuren, die beide Gruppen miteinander verbinden. Die gesamte Situation wirkt angespannt und bewegt – davon zeugen gleichermaßen Mimik und Gestik der dargestellten Personen.

Ganz links wird der Moment der biblischen Überlieferung dargestellt, in dem Petrus – durch den Nimbus um den Kopf ausgezeichnet – dem Malchus das Ohr abschlägt. Eine Rückenfigur im blauen Gewand, die nach einem anderen Mantel greift, verstärkt das Bewegungsmoment dieser Szene in gegenläufiger Weise.

Auf der gegenüberliegenden rechten Seite fällt auf, dass alle im Profil dargestellten Personen ihren Blick auf die linke Bildhälfte, näherhin auf die zentrale Zweierkonstellation von Jesus und Judas, gerichtet halten. Lediglich eine bärtige Gestalt in einem rosafarbenen Gewand tritt aus dieser geschlossenen Front ein wenig heraus und deutet in einem Handgestus auf die entscheidende Szene des „Judaskusses“ hin.

Dieser Augenblick vollzieht sich auf nahezu intim wirkende Weise: Darauf deutet sowohl das gleichsam die beiden Personen – Jesus und Judas –umhüllende Gewand des Verräters hin als auch die umgreifende Geste sowie die face à face-Ausführung des Paares im Augenblick des Sich-Küssens. Giotto verstärkt diesen Eindruck, indem er die Gesichtshälften der beiden Protagonisten so parallelisiert darstellt, dass sich beide in diesem entscheidenden Moment in die Augen schauen. So wirkt die Kussszene in dem weitgehend unruhigen Bildsujet gleichermaßen entrückt und als Kontrapunkt.

Der Künstler spitzt dabei die geistliche Aussage dieser biblischen Szene derart zu, dass, berührend und beängstigend zugleich, das Entscheidende im Leben eines Menschen – der (Un-)Glaube – sich im Angesicht Gottes vollzieht. Es ist der Entscheidungsmoment in der Intimität, die Gott in seinem Sohn uns Menschen gewährt: „Wer an ihn glaubt, der ist schon gerettet, wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet.“ (Joh 3,18) Ein menschliches Zeichen innerster Verbundenheit und Hingabe – der Kuss – erfährt durch den Verrat eine Perversion, es wird in sein Gegenteil „umfunktioniert“. Die von Jesus allen seinen Jüngern gewährte Nähe – „Kommt und seht“ (Joh 1,39) – soll zum Glauben an IHN führen. Hier wird schmerzlich deutlich, dass nicht alle aus dem Jüngerkreis dieser Einladung Jesu durch ihr Leben nachfolgen.

Was heißt es, an Jesus zu glauben angesichts dessen, dass er nicht der Erfüllungsgehilfe unserer Vorstellungen von gelungenem Leben ist? Dass er Geheimnis und Rätsel bleibt und dennoch ganz mich und die Vollendung meines Lebens in den Mittelpunkt seiner Existenz gestellt hat?

Es scheint, als wollte Judas durch diese Tat das Heft in der Hand halten, Jesus zu einer machtvollen messianischen Tat zu zwingen. Doch sein Kalkül geht nicht auf, stattdessen bricht die Katastrophe herein und mit ihr die dunkle Stunde, die alle menschliche Verbundenheit zu Jesus auf die Probe stellt! „Dann flohen alle von ihm“ (Mt 26,56).

Wir wissen, dass es im Glauben an Gott und in der Nachfolge Jesu keinen Zwang geben kann. Auch hier gilt: Der Anruf Jesu, der aus seiner Herzmitte an uns ergeht, zielt eindeutig auf die Lebensantwort aus unserem Herzen. Nur wenn dies geschieht, werden wir die Fähigkeit erlangen, auch mit jenem letzten „Rest menschlicher Ungewissheit“ umgehen zu können, die uns zu wahrhaft österlich Glaubenden macht.

Bild: Wikipedia, gemeinfrei

9. April 2020 || Dr. Arno-Lutz Henkel, Kunsthistoriker und Theologe, leitet Erkundungen und Ferienakademien