Rubens ganz nah

Wer an Peter Paul Rubens denkt, denkt wohl nicht in erster Linie an Paderborn. Ab heute könnte dies anders werden. Denn ab heute zeigt das dortige Diözesanmuseum die große Ausstellung „Rubens und der Barock im Norden“. Aus diesem Anlass schreibt die Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters über das Gemälde des flämischen Künstlers, das ihr einen Zugang zu seinem Werk bahnte: Die Kreuzabnahme in Antwerpen …

Mein Rubens
Mögen Sie Rubensfrauen? Das ist jetzt keine intime, sondern eine kunsthistorische Frage. Ich mag sie nicht, die Rubensfrauen. Und auch dem barocken Prunk und der überwältigenden Theatralik des Peter Paul Rubens kann ich persönlich wenig abgewinnen. Die triumphalen Schöpfungen der Gegenreformation sind gewiss großartig. So wird auch die Ausstellung im Paderborner Diözesanmuseum, die am 24. Juli 2020 endlich – mit großer coronabedingter Verspätung – ihre Pforten öffnet, ein Augenschmaus sein. Unter dem Titel Peter Paul Rubens und der Barock im Norden schließt sich die Paderborner Schau an die großen Epochenausstellungen der letzten Jahre an. Das wird etwas für’s Auge und man gewinnt Einblicke in eine kultur- und konfessionsgeschichtlich spannende Zeit.

Aber heute möchte ich Sie an meinem ganz persönlichen Rubens-Erlebnis teilhaben lassen, das nun schon einige Jahre zurückliegt. Wie gesagt, die Werke des 1577 in Siegen geborenen und später in Antwerpen residierenden Malerfürsten und Diplomaten wärmten mein Herz nicht. Ich besichtigte damals die Antwerpener Kathedrale, wo in den beiden Querschiffen je ein großer Flügelaltar von Rubens zu sehen ist.

Großes Theater
Pflichtschuldigst bewunderte ich die 1610 vollendete Kreuzaufrichtung im nördlichen Querhaus. Das Werk wurde 1609 nicht für die Kathedrale, sondern für den Hochaltar der Kirche St. Walburga in Auftrag gegeben. Erst im Jahr zuvor war der junge Maler von seinen ausgedehnten Studienreisen nach Italien und Spanien heimgekehrt. Rubens gewann hier der Passionsgeschichte ein ganz neues Bildthema ab. Bühnenwirksam inszeniert er die Aufrichtung des Kreuzes auf Golgotha. Das Geschehen dehnt sich im Breitwandformat über die Mitteltafel hinaus auf die beiden Flügel des Triptychons aus. Als Eyecatcher im Vordergrund Muskelpakete in Rückenansicht. Links eine barbusige Rubensfrau im wallenden Blondhaar. Als Pendant dazu (pardon!) auf dem rechten Flügel ein dramatisch auf den Betrachter zu preschendes Ross mit wallender Mähne. Das ist großes Theater, unglaublich wirkungsvoll und gekonnt gemacht! Aber, wie gesagt, es wärmte mein Herz nicht. Mein Rubens-Erlebnis wartete nur wenige Schritte von dieser Inszenierung entfernt auf mich.

Die Christusträger
Das Triptychon der Kreuzabnahme wurde 1611 von der Antwerpener Schützengilde für einen Seitenaltar vor einem der Mittelschiffpfeiler der Kathedrale in Auftrag gegeben. Es war also für ein intimeres Ambiente gedacht und musste sich nicht, wie die Kreuzaufrichtung, als Hochaltarbild behaupten. Vor ihm wollten die Mitglieder der Gilde sich zu ihren Gottesdiensten versammeln. Daher ziert eine Darstellung des heiligen Christophorus, ihres Schutzpatrons, die Außenseiten der Flügel. Dieser Riese, der das Christkind auf seinen Schultern trägt, ist uns auch als Patron der Autofahrer von Christophorusplaketten auf unseren Armaturenbrettern (oder denen unserer Eltern?) bekannt. Inzwischen wurde er wegen der allzu märchenhaften Züge seiner Legende aus dem Heiligenkalender gestrichen.

Schon sein Name ist verdächtig: Christophorus heißt wörtlich übersetzt Christusträger. Das macht den Historiker stutzig. Aber Rubens – oder vielleicht auch Nicolaas Rockox, der Hauptmann der Schützengilde – ordnete das gesamte Bildprogramm des Altares diesem Namen unter. Lauter Christusträger sind auf der Mitteltafel und den beiden Seitenflügeln dargestellt. Links trägt die schwangere Maria Christus in ihrem Leib zu Elisabeth. Genial hat Rubens das ungünstig schmale Bildformat gemeistert. Maria schreitet über eine kleine Brücke, die einen hohen Sockel bildet, wie über eine Bühne. Unter dem Bogen gibt ein Landschaftsausblick Tiefe. Die Gestalt Mariens mit ihrem hoch gewölbten Leib wird durch die Säule hinter ihr – eine Würdeformel – betont. Bei der Darbringung im Tempel auf dem rechten Flügel ist nun der greise Simeon zum Christusträger geworden. Eine schwarze Marmorsäule verleiht der bewegten Szene Stabilität und Grandezza. Der Gläubige, der vielleicht an einer Seelenmesse für einen verstorbenen Zunftgenossen teilnahm, mag an die tröstlichen Worte Simeons nach dem Lukasevangelium gedacht haben: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast.“

Mitleid und Glaube
Im Mittelbild nun wird dieses „Heil der Welt“, der Leib des Erlösers, dem Betrachter präsentiert. Bei dieser Kreuzabnahme sind es nun die trauernden Jünger Jesu, die als Christusträger fungieren. Statt prachtvoller Säulen ist hier nur das hölzerne Schandgerüst des Kreuzes aufgerichtet. Es wurde etwas nach rechts aus der Mittelachse gerückt. Auf diese Weise bildet der nach links unten herabgleitende Leichnam eine hell aufleuchtende Diagonale vor düsterem Hintergrund. Acht Figuren in unterschiedlichsten Posen sind um ihn bemüht. Eine komplizierte Choreographie, die nicht weniger als vier (!) Leitern erfordert, staffelt die Gruppe von den unten links knienden Frauen bis hin zu den zupackenden Männern oben rechts ebenfalls in einer großen Diagonalen. Nur Maria und Johannes stehen aufrecht auf dem Boden und bilden auf diese Weise ein herausgehobenes Paar. Trotz der teils exaltierten Bewegungen und der vielen Figuren überschneidet kaum eine die Kontur des Leichnams. Er wird wie eine hell strahlende Hostie präsentiert. Der Blick des Betrachters wird durch wirkungsvolle Kontraste auf diesen „Leib Christi“ konzentriert. Zum einen hebt sich das blasse Inkarnat des Toten von der wettergegerbten Haut der Helfenden deutlich ab. Der „künstlerische Knaller“ ist aber der großartige Kontrast zwischen dem Weiß des Leichnams und dem roten Mantel des Johannes. Rot ist die Farbe des Blutes, aber auch des Triumphes. Darf man hier schon an den Ostermorgen denken? Doch nicht nur dieser eindringliche (vielleicht sogar ein wenig aufdringliche?) Kontrast macht die farbliche Raffinesse des Gemäldes deutlich. Mich faszinieren mehr die unzähligen Schattierungen der Nichtfarbe Weiß. Rubens präsentiert den blassen Leichnam vor einem weißen Tuch. Eigentlich nicht besonders geschickt, sollte man meinen. Aber der Maler spielt mit diesen „fifty shades of white“ so, dass der Leichnam nun in die ganze Fläche des Bildes ausstrahlt und die Präsenz sich nicht auf den schmalen Körper beschränken muss. Wie der Strahlenkranz einer barocken Monstranz.

Der eucharistische Christus
Aber das Tuch hat auch symbolische Bedeutung. Es ist gleichzeitig Leichen- und Altartuch. Daran ändert auch die Drastik nichts, mit der der grauhaarige Mann (zuoberst im Bild) einen Zipfel mit den Zähnen packt, um beide Hände frei zu haben. Das Tuch erinnert an das höfische Zeremoniell der manus velatae. Es verlangte, dem Herrscher einen Gegenstand nur mit verhüllten Händen zu reichen. Das Segensvelum, mit dem in der katholischen Kirche der Priester die Monstranz hält, erinnert noch an diesen Ritus. Trotzdem berühren fast alle Figuren auf dem Gemälde den Körper Jesu. Und nicht immer erscheint die Geste durch den Handlungsablauf motiviert. Maria berührt ihren Sohn ganz leicht am Ellenbogen. Der Mann mit nacktem Oberkörper (oben links im Bild) scheint mit seinen Fingerspitzen die Schulter des Erlösers ertasten zu wollen. Die Begleiterin der Maria Magdalena (unten links kniend) kann nur einen Zipfel des Tuches erhaschen. Alle diese Gesten unterstützen nicht praktisch die traurige Arbeit, den Leichnam vom Kreuz zu bergen. Sie drücken vielmehr die Sehnsucht nach dem Leib Christi aus. Ihn nicht nur zu schauen, sondern auch anzufassen und ihn schließlich zu empfangen. Man sollte vielleicht nicht von Christusträgern, sondern von Christusempfängern sprechen.

Die Kreuzabnahme ist ein eucharistisches Bild im Sinne der Gegenreformation. Diese Deutung wird durch ein unscheinbares Detail auf einem anderen Gemälde des Peter Paul Rubens bekräftigt, das in Paderborn zu sehen sein wird.

Die um 1612 entstandene Beweinung der Fürstlichen Sammlungen Liechtenstein zeigt den Leichnam Christi diagonal ausgestreckt auf dem Salbungsstein, umringt von Trauernden. Das Leichentuch bedeckt den Stein größtenteils. Aber unten rechts, ganz nahe an den unteren Bildrand und damit auch an den Betrachter herangerückt, schaut ein Ährenbündel darunter hervor. Das ist nicht das übliche Stroh, auf das man Tote bettete, sondern eine Anspielung auf das Brot des Lebens. An derselben Stelle präsentierte Rubens auf seinem Antwerpener Gemälde ein kleines Stillleben aus den traurigen Requisiten der Kreuzigung, die später zu hochverehrten Reliquien wurden. In einem Messingbecken mit der Dornenkrone hat das Blut Christi das Waschwasser rot gefärbt. Das rote Gewand des Johannes wird zum kompositorischen Bindeglied zwischen diesem Gefäß und dem Blut, das immer noch aus der Seitenwunde Jesu zu fließen scheint. Dadurch, dass das Becken ganz nah an den unteren Bildrand gerückt ist, wird der Betrachter geradezu eingeladen, an diesem Blut teilzuhaben.

Wir müssen uns klarmachen, dass dieses Gemälde nie ein Museumsstück war. Es diente einem Altar als Retabel. Auf der Mensa unterhalb des Triptychons wandelten sich, so der Glaube des Malers wie der Auftraggeber, immer wieder neu Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Wie Rubens diesen Glauben in Farben setzt, das finde ich großartig und ergreifend.

Trotzdem: Die Rubensfrauen können mir gestohlen bleiben.

Bildquellen:
wikipedia.org u. commons.wikimedia.org

(Foto Mittelbild Kreuzabnahme Alvesgaspar; Fotos Triptychen Paul Hermans)

24. Juli 2020 || ein Beitrag von Dr. Elisabeth Peters, Kunsthistorikerin.

Die Ausstellung „Rubens und der Barock im Norden“ in Paderborn besichtigen wir exklusiv an einem Montag im Rahmen der Akademietagung „Peter Paul Rubens- Innovationen und Wirkungen“  (27. bis 29. September 2020).