Der Real Alcázar in Sevilla

Schaut hin – und seht Bekanntes? Zum 3. Ökumenischen Kirchentag

Ich bin kein Kirchentagsmensch. Das muss ich diesem Beitrag zum 3. Ökumenischen Kirchentag (ÖKT), der heute unter dem Leitwort „schaut hin“ in Frankfurt beginnt, vorausschicken. Mir fehlt die Erfahrung meiner beiden Geschwister, die als Helfer bei diesen christlichen Mega-Events in Turnhallen schliefen, Hunderte Papphocker falteten, als Saalordner aushalfen und andere Hand- und Spanndienste leisteten.

Meinen ersten evangelischen Kirchentag besuchte ich erst im Alter von 35 Jahren in Hamburg. Neben der unglaublich wuseligen Atmosphäre in den Hamburger Deichtorhallen erinnere ich mich vor allem an zwei Dinge: die erste und bislang einzige Bibelarbeit meines Lebens mit dem grünen Europa-Abgeordneten Sven Giegold und einen Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Der liebende Gott des Kirchentags
Giegold, ein frommer Protestant, legte das Gleichnis von der bittenden Witwe aus (Lukas 18, 1-8). Seinen Vortragstext kann man noch auf seiner Internetseite nachlesen. Giegolds ernstes Gesicht, seine stets etwas nörgelnde Stimme und das immer gleiche schlichte weiße Hemd kann man sich dazudenken. Was man aber leider nicht mehr lesen kann, ist die Frage eines Menschen aus Giegolds durchaus beachtlichen Publikum an diesem Morgen sowie Giegolds Antwort. Ein Mann fragte den Abgeordneten, ob er denn nicht ein allzu alttestamentarisches Gottesbild vertrete, das doch durch die Vorstellung eines liebenden Gottes als überwunden gelten dürfe.

Giegolds Antwort hat mich beeindruckt: Gerade auf Kirchentagen habe man den liebenden, alles verzeihenden Gott immer stark betont. Und das habe ja durchaus auch seine Berechtigung. Aber in der Bibel finde sich eben auch ein anderes Gottesbild, das man vielleicht allzu leichtfertig als überkommen beiseiteschiebe. Damit werde man aber der Komplexität des Gottesbildes der Bibel nicht gerecht. Dann schwenkte Giegold von der Exegese zu den politischen Diskussionen, die er mit Freunden und Bekannten führe. Gerade Menschen aus dem Globalen Süden würden immer wieder daran erinnern, dass es diesen strafenden Gott gebe, der Gericht halte. „Ihr werdet euch verantworten müssen für euer Tun“ sagten ihm diese Freunde, so Giegold. Im Saal herrschte Stille.

3. Kirchentag in Frankfurt. Dr. Matthias Lehnert macht sich seine Gedanken darüber.

Innerweltliche Unruhe
Am gleichen Wochenende kommentierte Reinhard Bingener in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Christenfest kritisch. Auch seinen Leitartikel kann man heute noch mit Gewinn lesen. Bingener erwähnt die zum Kirchentagklischee gewordenen „Leute mit Funktionsjacken und Kirchentagsschal, die auf Papphockern sitzen“. Er geht auf die auch heute noch aktuelle Kritik an der Politisierung von Kirche und des Glauben ein, um dann eine erstaunliche Feststellung zu machen: Der Protestantismus neige zu „innerweltlicher Unruhe“. Initiativen wie der Faire Handel oder die nachhaltige Geldanlage seien „späte Kinder dieses innerweltlichen Reformgeistes. Erst über Kirchentage gewannen sie Popularität und Verbreitung. Der Kirchentag diente als gesellschaftliches Gewächs- und Reformhaus, in dem diese Bewegungen an Breite gewannen. Angesichts eingestürzter Fabrikhallen in Bangladesch, religiös aufgeladener Konflikte fast überall in der Welt sowie den Erfahrungen der Finanzkrise sollten diese Initiativen nicht mehr milde belächelt werden.“

Ein Kessel Erwartbares
Wenn heute in Frankfurt der nach Augsburg (1971) und München (2010) erst dritte Ökumenische Kirchentag beginnt, dann wird man viel von dem wiederentdecken: Der inhaltliche Reigen beginnt mit einem Gedenken der Leiden durch die Shoa. Den Schlusspunkt vor dem finalen Gottesdienst setzt am Samstag ein Gespräch des Ratsvorsitzenden der EKD mit einer Vertreterin des Vereins Sea-Watch, der mit Unterstützung der Evangelischen Kirche in Seenot geratene Flüchtlinge im Mittelmeer rettet. Dazwischen findet sich viel Erwartbares: Die Kanzlerin diskutiert mit der Klimaaktivistin Luisa Neubauer von Fridays for Future über den Klimaschutz, die Rolle der Finanzwirtschaft wird gleich mehrfach kritisch unter die Lupe genommen, dem Rechtsterrorismus soll mutig begegnet werden, der interreligiöse Dialog kommt selbstverständlich nicht zu kurz.

Kann der Kirchentag noch Kontroverse?
Ob es hier zu spannenden Kontroversen kommt? Ich bin skeptisch. Jenseits einer in ökumenischer Eintracht vorgetragenen Kritik an den Mächtigen, am Kapitalismus und diversen anderen „Ismen“ ist auf dieser Ebene nicht viel zu erwarten. Die Kirchen werden sich also wieder die Kritik gefallen lassen müssen, dass sie nur noch ein Selbstvergewisserungsprogramm für die linksliberale, gebildete Mittelschicht anböten. Wer in den Diskursen über Gender, Klima und Diversität nicht sattelfest ist, wird es hier schwerhaben.

Gut möglich also, dass Reinhard Bingener sein Urteil von 2013 fast wortgleich recyclen kann: „An die Stelle der Vielfalt, die es erträgt, wenn Konflikte, Ambivalenzen und Unterschiede als solche benannt werden, tritt eine Form vermeintlicher Toleranz, die Widerspruch entweder nicht zulässt oder ihn überspielt. Kontroverse Debatten über die Euro-Rettung etwa sucht man im Programm vergebens. Manche Podien werden so konsensorientiert besetzt, dass nur freundliche Belanglosigkeiten ausgetauscht werden.“

Der Corona-Kirchentag
Gänzlich neu ist allerdings die durch Corona erzwungene Programmstruktur. Man muss es den Kirchen zugutehalten, dass sie das Christentreffen nicht abgeblasen haben, sondern in recht kurzer Zeit auf ein digitales und dezentrales Angebot umsatteln konnten. Angesichts der langen und komplexen Planungsvorläufe solcher Großveranstaltungen verdient diese Leistung Respekt. Das Programm mit seinen vielfältigen Angeboten kann man nun kostenlos am heimischen Computer-Bildschirm verfolgen und sich bei Interesse auch registrieren und beteiligen.

Und vielleicht eröffnet die Dezentralität noch einmal neue Möglichkeiten und Perspektiven, die es bei einem „klassischen“ Kirchentag an einem zentralen Ort so nicht geben würde.

Dezentrale Durchbrüche? Kommt und seht!
Hingeben für alle? Was dürfen wir vom 3. ökumenischen Kirchentag erwarten?Mit Spannung darf vor allem erwartet werden, wie katholische und evangelische Kirchengemeinden im ganzen Land auf die Anregung des ÖKT reagieren werden, „dass sich am 15. Mai unterschiedliche Konfessionen landauf landab gegenseitig zu ihren Gottesdiensten einladen – auch mit einem ‚sensibel ökumenisch‘ gestalteten Abendmahl.“ Zur Gestaltung dieser Gottesdienste hatte eine ökumenische Kommission ein umfangreiches Materialheft vorgestellt.

Die Hoffnung vieler ökumenisch bewegter Christen, es könne in Frankfurt gemeinsame Mahlfeiern geben, die einen echten und dauerhaften Durchbruch zu einer gemeinsamen Abendmahlspraxis schaffen, wird sich wohl nicht erfüllen. Aber vielleicht wird es an vielen Orten in ganz Deutschland Gottesdienste geben, bei denen die ökumenische Tischgemeinschaft in einer neuen Intensität erfahren werden kann. Dann hätte der 3. Ökumenische Kirchentag doch noch einen überraschenden Effekt jenseits des Erwartbaren erzielt – noch dazu in der ureigenen Herzenssphäre der christlichen Kirchen.

Bildnachweise:

Kirchentag 2019. Bild: (C) Copyright 2019, Deutscher Evangelischer Kirchentag auf Flickr, (CC BY-NC-ND 2.0)

Kirchentag 1985. Bild: Hardo Müller auf Flickr (CC BY-SA 2.0)

Hingegeben für alle? Bild: David Eucaristía auf Flickr, public domain

13. Mai 2021 || ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent

Teamleiterin Sandra Gilles