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Wat für e Typ!

In der populären Geschichtserzählung der Gegenwart gilt die zweite Hälfte der 1960er Jahre gemeinhin als Wasserscheide. Je nach Standpunkt des Betrachters durchbrachen in dieser Zeit freiheitsliebende Hippies und kritisch denkende Studenten eine autoritäre, muffige, zugleich verklemmte und moralisch korrumpierte Ordnung oder aber zerbrachen langhaarige Wilde und von der Sowjetunion gesteuerte Wohlstandskinder die auf moralischen Werten gegründete und wohl geordnete bürgerliche Gesellschaft ihrer Eltern. Den einen erscheinen die Jahre vor „68“ als bleierne Zeit, in der alte Männer – ob sie Eisenhower, Adenauer oder de Gaulle hießen – regierten. Die anderen blicken auf die 1950er und frühen 1960er Jahre als eine „gute alte Zeit“, in der die Welt noch in Ordnung war. In jedem Fall scheint Ende der 1960er Jahre ein Bruch durch die westliche Welt gegangen zu sein, der ein Davor und ein Danach sauber zu trennen scheint.

Bei etwas genauerer Betrachtung erweisen sich beide Varianten dieser Erzählung als ungenau und verkürzt. Dies wird an kaum einer anderen historischen Person so deutlich wie an der des amerikanischen Schriftstellers Jack Kerouac, einer zentralen Figur der sogenannten „Beat-Generation“. Schon ein Jahrzehnt vor den Hippies, in den scheinbar bleiern-spießigen 1950er Jahren, existierte nämlich eine Gegenkultur, die eigene künstlerische Ausdrucksformen suchte und fand. Was in Europa „die Exis“ waren, die Existentialisten, die in ihren schwarzen Rollkragenpullovern Sartre und Camus lasen, Gitanes rauchten und Jazz hörten, das waren in Amerika die Beats oder – leicht abfällig – die Beatniks.

Ihr Name verweist auf den atemlosen Beat des Bebop-Jazz ebenso wie auf den Herzschlag, auf das „Im-Rhythmus-Sein“ des being on the beat ebenso wie auf das heruntergekommene Dasein des müden und zerrissenen Verlierers, der beat, geschlagen ist. Nicht zuletzt wird Kerouac später auch einen Bedeutungsgehalt herausstreichen, der sich mit seiner Herkunft verbindet: Beat im Sinne von beatific, „seligmachend“ – wie es Jesus in der Bergpredigt mit den Seligpreisungen (englisch: Beatitudes) verheißen habe.

Beat – bereits in diesem schillernden Begriff ist die ganze Widersprüchlichkeit von Kerouacs Wesen angelegt. Wenn der kulturelle Graben irgendwo um das Jahr 1968 verläuft, dann stand Kerouac stets auf beiden Seiten dieses Grabens.

Geboren am 12. März 1922 als Sohn franko-kanadischer Einwanderer im kleinen Städtchen Lowell im US-Bundesstaat Massachusetts, wächst Jean-Louis Lebris de Kérouac in einem streng katholischen Elternhaus auf. Die Familie spricht Joual, den Dialekt der Québécois. Der frühe Tod seines älteren Bruders Gérard wird Kerouac, der damals vier Jahre alt war, ein Leben lang belasten. Auch das Verhältnis zum Vater ist schwierig. Zur Mutter wird Kerouac zeitlebens eine innige, aber dabei nicht weniger problematische Beziehung pflegen. So heißt Kerouacs Alter Ego in einem seiner semi-fiktionalen Romane Leo Percepied (etwa: Leo mit dem durchstochenen Fuß) – ein Verweis auf den Mythos des Ödipus.

Der sportliche Kerouac erhält 1940 ein Stipendium für die angesehene Columbia University in New York. Hier findet er Anschluss an literarische Zirkel und lernt unter anderem den einige Jahre älteren Dichter William S. Burroughs kennen. Etwas später stößt ein Junge aus New Jersey hinzu: Allen Ginsberg. Kerouac, Burroughs und Ginsberg bilden die Keimzelle einer losen Gruppe von Dichtern, die durch ausschweifendes Leben, Drogenexperimente und sexuelle Freizügigkeit auffallen. Dass der Name „Beat-Generation“ von einem Drogendealer und Stricher geprägt wird, ist kein Zufall. Die jungen Dichter sind vom Leben der Randständigen, die sich am Times Square herumtreiben, ebenso fasziniert wie von der unbändigen Energie des Bebop, der in diesen Jahren vor allem von Charlie „Bird“ Parker, Thelonious Monk und Dizzy Gillespie geschaffen wird.

Nachdem Kerouac die Universität ohne Abschluss verlassen hat und auf Schiffen der Handelsmarine zur See gefahren ist, lernt er nach New York zurückgekehrt Neal Cassady kennen, einen gerade aus der Haft entlassenen Rumtreiber aus dem Westen der USA. Cassady wird für Kerouac zur Verkörperung eines Lebensgefühls: rastlos, energiegeladen, unmittelbar und ohne Rücksicht auf eigene oder fremde Verluste.

Mit der neuen Bekanntschaft beginnt für Kerouac ein Lebensabschnitt, den er später als sein „Leben auf der Straße“ bezeichnen wird. Gemeinsam fahren Cassady und Kerouac in den Jahren 1947 bis 1950 kreuz und quer durch Nordamerika, wobei Kerouac meist Beifahrer und Beobachter des wilden Cassady bleibt. Den rasanten Fahrstil mit waghalsigen Überholmanövern bei eingeschränkter Sicht, die eigentümliche Sprechweise mit lautmalerischen Ausdrücken und Wortneuschöpfungen, aber auch das seltsam egozentrische Gebaren des Neal Cassady wird Jack Kerouac in seinem bekanntesten Werk verewigen: On the road.

Erst der alle Konventionen sprengende Cassady verhilft Kerouac zu einer eigenen Sprache, mit der er das zügellose Leben dieser Jahre festhalten kann. Befeuert von Alkohol und Aufputschmitteln tippt er das Manuskript des Romans 1951 in nur drei ekstatischen Wochen auf eine 36 Meter lange Rolle Fernschreiberpapier.

Der atemlose Stil, den Kerouac als „spontane Prosa“ bezeichnen wird, ist geprägt durch endlose Sätze ohne Punkt und Komma, die sich bisweilen über eine ganze Seite erstrecken – ein einziger ungebrochener, temporeicher Gedanken-, Gefühls- und Erinnerungsstrom, der die Rhythmik des Bebop-Jazz aufnimmt und in Sprache transformiert.

Die Intensität des Lebens, das Rauschhafte, ist Kerouacs ganze Botschaft: „Die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind die Verrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römische Lichter die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen.“ Wie hundert Jahre zuvor Walt Whitman in seinem „Song of the Open Road“ besingt Kerouac die Straße als Symbol der Freiheit: „Nichts hinter mir, alles vor mir, wie immer auf der Straße“. Sie wird ihm schließlich zur diffusen Verheißung: „Man erwartet immer eine Art Zauber am Ende der Straße.“

Mehrere Jahre bemüht sich Kerouac erfolglos um die Veröffentlichung des Textes. Währenddessen schreibt er weiter wie er lebt: rast- und haltlos, exzessiv und ekstatisch. Seine Reisen haben ihn bis zur Westküste der USA gebracht, wo er gemeinsam mit seinem alten Kumpel Ginsberg die Dichter der San Francisco Renaissance um Kenneth Rexroth und den Verleger Lawrence Ferlinghetti kennenlernt.

So entsteht eine kontinentale Dichterbewegung. Am 7. Oktober 1955 erlebt sie in der Six Gallery eine ihre Sternstunden – bei der wohl einzigen Dichterlesung, die in das Wikipedia-Lexikon Eingang gefunden hat. Kerouac ist dabei wieder nur Beobachter, kauft Wein und feuert seinen Freund Ginsberg an. Dieser trägt erstmals sein epochales Langgedicht Howl (dt. „Das Geheul“) vor, dessen berühmte erste Verse wie einer düstere Prophezeiung wirken: „Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt, hysterisch, nackt…“

Zwei Jahre später ist es endlich soweit: On the road erscheint. Im Morgengrauen kauft Kerouac die frisch erschienene Ausgabe der New York Times, die sein Werk in hymnischen Tönen lobt: „Es gibt Abschnitte in On the Road, in denen der Schreibstil von einer fast atemberaubenden Schönheit ist … Seine Veröffentlichung ist ein historisches Ereignis …“

Auf einen Schlag ist Kerouac eine Berühmtheit, wird als „king of the beats“ gefeiert, in Fernsehsendungen eingeladen und von Fans belagert. Aber mit dem Ruhm beginnt der Niedergang. Der von Natur aus schüchterne Kerouac ist der Rolle im Rampenlicht nicht gewachsen. Auch sieht er seine literarischen Ambitionen missverstanden, sein Schreiben von Litertaturkritik und Kollegen wie Truman Capote als „Getippe“ abqualifiziert. Währenddessen wird Beat auf Äußerlichkeiten reduziert zum Modephänomen, dessen Accessoires im Kaufhaus angeboten werden.

Anders als Ginsberg vermag es Kerouac nicht, auf dieser Welle mitzuschwimmen, die Bekanntheit spielerisch zu nehmen und für die eigenen Botschaften zu nutzen. Kerouac hat kein politisches Programm, und auch seine Begeisterung für den Buddhismus erweist sich als kurzlebiger Versuch, das Verlangen nach Sinn mit neuen Experimenten zu stillen.

Während Ginsberg und andere um die Welt reisen, versinkt Kerouac in Depressionen und Alkohol, flieht aus der Öffentlichkeit zu seiner Mutter und in einen kruden Katholizismus. Er stilisiert die rasenden Eskapaden aus der Zeit mit Neal Cassady zur frommen Pilgerschaft „durch das Amerika der Nach-Whitman-Ära, um dieses Amerika zu FINDEN und die dem amerikanischen Menschen innewohnende Güte zu finden. Es war eigentlich eine Geschichte über zwei katholische Freunde, die auf der Suche nach Gott durch das Land ziehen. Und wir haben ihn gefunden.“

Wobei man diese katholische Seite nicht vorschnell als verwirrte Schnurre einer verirrten Seele abtun sollte. Zahllos sind Kerouacs Verweise auf christliche Mystiker, etwa auf Johannes vom Kreuz, die seine vornehmlich junge Leserschaft vermutlich kaum zur Kenntnis genommen hat. Wie stark sein Glaube auch gewesen sein mag, den körperlichen und geistigen Verfall konnte er nicht aufhalten.

Zwar schreibt Kerouac weiter (nach der Veröffentlichung von On the Road entstehen weitere Romane, daneben Gedichte, Essays und ein Drama) und unternimmt Versuche, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen. Letztlich schafft er es jedoch nicht, einen für ihn gangbaren Lebensweg zu finden. Immer wieder fällt er mit antisemitischen und homophoben Angriffen auf seine einstigen Weggefährten auf. In der Talkshow Firing Line des erzkonservativen Katholiken William Buckley inszeniert sich ein aufgedunsener und stark alkoholisierter Kerouac 1968 als Opfer kommunistischer Verschwörer, die auf seinen Rücken gesprungen seien und seine Ideale missbraucht hätten. Als Katholik glaube er, Kerouac, an „Ordnung, Zärtlichkeit und Frömmigkeit“.

Ein Jahr nach dem peinlichen Auftritt stirbt Jack Kerouac an Leberversagen im Alter von 47 Jahren. An der Beerdigung in Kerouacs Geburtsstadt Lowell nimmt unter anderem der Rockmusiker Bob Dylan teil und erweist damit einem Dichter die letzte Ehre, dessen Einfluss auf Dylans Meisterwerke der 1960er Jahre unverkennbar ist.

Längst also ist der Staffelstab an die nächste Generation der Gegenkultur weitergegeben worden: Kerouacs Muse Neal Cassady hat als Busfahrer die Hippie-Kommune der Merry Pranksters um den Schriftsteller Ken Kesey („Einer flog über das Kuckucksnest“) und die Hippie-Rock-Combo The Grateful Dead durchs Land kutschiert. Auch Allen Ginsberg wird zum Paten der Hippies, taucht 1965 im vielleicht ersten Musikvideo der Geschichte auf – zu Dylans Subterranean Homesick Blues, dessen Titel wiederum auf Kerouacs Roman The Subterraneans verweist. Während Keroauc sich in Florida zu Tode säuft, wirkt Ginsberg im Sommer 1969 an John Lennons Friedenshymne Give peace a chance mit. Und William Burroughs, der Dritte im Beat-Bunde, wird noch in den 1980er Jahren mit der Rockband R.E.M. und mit dem Grunge-Heroen Kurt Cobain zusammenarbeiten. Ginsberg und Burroughs sterben 1997 in einem angesichts ihres ausschweifenden Lebensstils erstaunlich hohen Alter als weltweit geachtete Künstler.

Da ist Kerouac schon lange tot. Vergessen ist er jedoch nicht. Die Modern Library und Time Magazine erklärten On the Road zu einem der 100 besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts. Die Manuskriptrolle des Buches wurde für 2,4 Millionen Dollar ersteigert. Und selbst sein alter Regenmantel wurde zum Sammlerobjekt – erstanden für einige Tausend Dollar vom Schauspieler und Kerouac-Enthusiasten Johnny Depp. Modemarken haben mit ikonischen Bildern des jungen Kerouac geworben, dessen Aussehen schon Salvador Dalí pries.

In jeder Generation finden Kerouacs Werke, allen voran On the road, zu ihren meist jungen Leserinnen und Lesern. Wie schon den befreundeten Dichterkollegen Gary Snyder begeistert sie bis heute Kerouacs „schiere Lebendigkeit und sinnliche Präzision seiner Sprache“. Pünktlich zum 100. Geburtstag hat der Rowohlt Verlag einige seiner Bücher in neuer Übersetzung herausgegeben.

Und wie die Musik Kerouacs Schreiben befeuerte, so haben seine Romane wiederum die moderne Musik inspiriert: Neben dem Literaturnobelpreisträger Dylan beeinflusste Kerouac zahlreiche Rock- und Pop-Musiker von der Artrock-Band King Crimson über die Punkband Jawbreaker bis zu den australischen Go-Betweens. Auch hierzulande finden sich Anklänge in der jüngeren Musik: Die Münchner Band Sportfreunde Stiller widmete Kerouac nicht nur das Lied Unterwegs, sondern ließ auch Zeilen aus On the road in ihrem bekanntesten Song „Ein Kompliment“ erklingen.

Die wohl schönste Ehrerbietung für den amerikanischen Dichter stammt indes aus einer Kölner Feder, von – wie könnte es anders sein – Wolfgang Niedecken natürlich, dessen elegischer Song Wat für e Booch! heute als Geburtstagsständchen für Jack Kerouac erklingen möge:

Wat für e’ Booch! Wemmer sich drop enlööt,
Sich met op dä Wääsch määt,
Kritt mer nie jenooch.
Jung un affjebrannt, Autostop un Greyhound,
Daachdraum ohne Schlaachbaum,
Krüzz un quer durch’t Land.

Scheherazade, improvisiert,
Dionysisch, unzensiert.
Bebop, Bars un Benzedrin,
Tallahassee, New Orleans,
Övver Highways, durch de Sood –
Jack Kerouac: “On the Road”.

Noch in 100 Jahren werden sie On the Road lesen, wird Jack Kerouac, der Ritter der Straße und der traurigen Gestalt, unvergessen sein. Wat für e Typ!

Bildnachweis

Stefan Machler auf Unsplash, gemeinfrei
Der Times Square bei Nacht, ca. 1940-1941. Truus, Bob & Jan too! auf Flickr (CC BY-NC 2.0)
Lucien Carr, Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs in New York. Urheber unbekannt via Wikimedia commons (CC BY-SA 4.0)
Neal Cassady und Jack Kerouac.
Photo by Carolyn Cassady, via Sébastien Bertrand auf Flickr (CC BY 2.0)
Jack Kerouac um 1956 (Fotografie von Tom Palumbo) via Wikimedia commons (CC BY-SA 2.0)

 

12. März 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert