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Harter Geist, weiches Herz – Sophie Scholl und die geistigen Wurzeln der Weißen Rose

Am heutigen 9. Mai wäre Sophie Scholl 100 Jahre alt geworden. Sie starb im Alter von 21 Jahren – am 22. Februar 1943 von den Nationalsozialisten hingerichtet, nach einem kurzen Schauprozess vor dem „Volksgerichtshof“ unter Roland Freisler.

Sophie Scholl ist zur Ikone geworden. Jedes Kind kennt ihr Bild – die kurzen dunklen Haare, den ernsten Gesichtsausdruck. Manchmal eingerahmt von ihrem Bruder Hans und dem gemeinsamen Freund Christoph Probst. Wenn man eine Umfrage machte, was den Leuten zu Sophie Scholl einfällt, man erhielte wohl ein Bild, das sich aus wenigen, immer wieder genannten Begriffen zusammensetzt:

Weiße Rose – Geschwister – Widerstand gegen die Nazis – Flugblätter – ermordet

Fragte man dann nach einer Bewertung, würde man wohl ausnahmslos Zustimmung, Hochachtung und Verehrung hören: Die Weiße Rose, die Geschwister Scholl, das waren mutige, freiheitsliebende junge Menschen, die gegen ein menschenverachtendes, verbrecherisches Regime kämpften und ihren Einsatz mit dem Leben bezahlten.

Die bekannteste Person des Widerstands
Sophie Scholl ragt dabei ganz klar heraus. Sie ist heute die wohl bekannteste Person aus dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Nicht einmal Claus Schenk Graf von Stauffenberg dürfte es mit ihrer Bekanntheit aufnehmen können, von Georg Elser oder den Männern und Frauen des Kreisauer Kreises ganz zu schweigen. Das ist bemerkenswert und sagt wohl mehr über unsere Erinnerungskultur aus als dass es eine Rangordnung des Widerstands spiegelte.

Zahlreich sind die Versuche, sich der jungen Frau auf unterschiedlichen medialen Wegen zu nähern: Fünf Spielfilme, drei Theaterstücke und zwei Opern inszenieren den Widerstand der Studentengruppe. Dabei fällt schon anhand der Titel auf, wie sich in den letzten Jahren der Blick zunehmend auf Sophie Scholl konzentriert hat: Gab es ab den späten 1960er Jahren Bühnen- und Filmdarstellungen der Weißen Rose, lauten erst mit Beginn des 21. Jahrtausends die Titel „Die kleine Schwester – Die weiße Rose“ (2002), „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ (2005) und „Sophie Scholl – Die Seele des Widerstands“ (2013).

Sophie Scholl fasziniert – das belegen auch die Biografien, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, so jüngst „Sophie Scholl. Aufstand des Gewissens“ von Simone Frieling (Ebersbach & Simon, 2021), Maren Gottschalks „Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl. Eine Biografie“ (C.H.Beck, 2020) und Robert M. Zoskes „Sophie Scholl. Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“ (Propyläen, 2020).

Vereinnahmungsversuche
Nicht alle Näherungsversuche sind unumstritten. So sorgt etwa das aktuelle Projekt @ichbinsophiescholl von BR und SWR für Diskussionen: Bis zum 18. Februar 2022 (dem 79. Jahrestag von Sophie Scholls Verhaftung) sollen die letzten Lebensmonate der jungen Studentin mit täglichen digitalen Häppchen auf dem Internet-Portal Instagram nachgestellt werden, als ob Sophie Scholl diese selbst „gepostet“ hätte. Während der Tagesspiegel die „richtige Tonalität“ der Beiträge lobt, kritisiert die FAZ, dem Projekt gehe es nicht um „eine angemessene, seriöse historische Würdigung Sophie Scholls“. Vielmehr werde Scholl zur Aktivistin stilisiert, um Follower und Klickzahlen von jungen Menschen zu erreichen.

Einmal davon abgesehen, dass Sophie Scholl ganz sicher keine Selfie-Videos über die Produktion der Flugblätter veröffentlicht hätte, klingt die stolze Selbstdarstellung der Programmverantwortlichen fragwürdig: „Sophie Scholl ist ein digitales Leuchtturm-Projekt von SWR und BR und untermauert den gemeinsamen Anspruch, dass öffentlich-rechtliches Programm jenseits von linearen Abspielwegen funktioniert und sich behaupten wird.“ Hier wird die Widerstandskämpferin unverblümt zum Ausweis der eigenen Relevanz benutzt.

Natürlich ist dies nicht gleichzusetzen mit der plumpen Vereinnahmung durch die „Querdenkerin“ Jana aus Kassel, die im vergangenen November erklärte, sie fühle sich in der „Merkel-Diktatur“ wie Sophie Scholl, oder mit dem abstoßenden Wahlslogan der AfD „Sophie Scholl würde AfD wählen“ aus dem Jahr 2017. Ein fader Beigeschmack haftet der Sache dennoch an.

Eine ökumenische Gruppe radikaler Christinnen und Christen
Damit steht nun auch die Frage im Raum, wer sich mit welchem Anliegen auf Sophie Scholl berufen darf, wo es plausible geistige Verbindungs- oder Traditionslinien gibt und wo eine historische Person als Zeugin für heutige Anliegen beansprucht werden soll, die nichts mit Leben, Denken und Wirken Sophie Scholls zu tun haben oder diesem gar zuwiderlaufen.

Es ist unmöglich, diese Frage hier befriedigend zu beantworten. Wohl aber kann ein Aspekt zumindest kursorisch umrissen werden, der in einigen medialen Darstellungen unserer Tage unterbelichtet scheint: die geistigen und auch geistlichen Wurzeln der Weißen Rose. Anders als etwa das weltanschaulich äußerst heterogene Widerstandsunternehmen des 20. Juli zeichnet sich die Weiße Rose durch eine bemerkenswerte Gemeinschaft im Denken und Glauben aus. Schaut man auf die fünf jungen Menschen, die 1943 hingerichtet wurden – die Geschwister Scholl, Christoph Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell – könnte man die Weiße Rose als eine ökumenische Gruppe radikaler Christinnen und Christen bezeichnen.

Widerstand aus dem Glauben
Hans und Sophie Scholl entstammen einem bürgerlichen Elternhaus aus Württemberg, das als protestantisch und liberal beschrieben wird. Ihre Mutter, Magdalena Scholl, war bis zur Eheschließung Diakonisse, hatte also ehelos im Dienst an den Kranken und Armen leben wollen. Sie gab diesen Plan zugunsten der Beziehung mit Robert Scholl auf, einem aus bescheidenen Verhältnissen stammenden, liberal gesonnenen Verwaltungsbeamten. Die fromme Mutter erzieht die fünf Kinder wie auch den Stiefsohn Ernst im christlichen Glauben.

Vater Robert ist dem Nationalsozialismus gegenüber kritisch eingestellt, muss sich aber arrangieren, um seine Familie zu ernähren. Dass sich die Kinder begeistert und erfolgreich in den nationalsozialistischen Jugendorganisationen engagieren, mögen die Eltern entschieden missbilligt haben – unterbunden haben sie es nicht. Sophie lässt sich sogar in ihrer BDM-Uniform konfirmieren, sieht also in Christentum und Nationalsozialismus offenbar keinen Widerspruch.

Der geistige Wandel, den Sophie Scholl wie auch ihr Bruder Hans vollziehen, mag ohne die Verwurzelung in einer liebevollen Familie nicht möglich gewesen sein, ursächlich ist der familiäre Hintergrund für ihren Sinneswandel aber wohl nicht. Eine geistige Abwendung vom Nationalsozialismus geschieht bei beiden erst allmählich.

Augustinus und Bernanos
Während sie im Frühjahr 1941 ihren Reichsarbeitsdienst im Schwarzwald ableistet, liest Sophie Scholl die Bekenntnisse des Kirchenvaters Augustinus und George Bernanos‘ Roman „Tagebuch eines Landpfarrers“ – eines der zentralen Werke des französischen Renouveau catholique. Beeinflusst wird sie dabei von dem jungen Katholiken Otl Aicher, dem späteren Ehemann ihrer Schwester Inge, mit der Aicher die Ulmer Hochschule für Gestaltung gründen wird. Sophie Scholl und Otl Aicher nehmen sich vor, den von Bernanos geschilderten Glauben „für ihr Leben zu erschließen“. Ihre Jugendfreundin Susanne Hirzel wird später sagen, Sophie Scholl sei mit den Jahren beinahe katholisch geworden.

Etwa zeitgleich beeinflusst Aicher auch die Entwicklung Hans Scholls, indem er ihn im Sommer 1941 mit Carl Muth bekannt macht, einem katholischen Publizisten und Gründer der gerade von den Nationalsozialisten verbotenen Zeitschrift Hochland. Auch begegnet Hans Scholl dem Musikwissenschaftler und Philosophen Kurt Huber, der als intellektueller Impulsgeber der Weißen Rose ihr letztes Flugblatt verfassen wird. Huber waren schon 1936 in Denunziationsschreiben „Bindungen zum Katholizismus und sogar eine ausgesprochen parteifeindliche Haltung“ zur Last gelegt worden.

Ebenfalls 1941 lernt Hans Scholl Alexander Schmorell kennen, mit dem er die ersten Flugblätter der Weißen Rose verfasst. Schmorell ist orthodoxen Glaubens, führt immer eine Bibel mit und nimmt regelmäßig an der Feier der Liturgie teil.  Seit 2012 wird er in der russisch-orthodoxen Kirche als Märtyrer und Heiliger Alexander von München verehrt. Eine Ikone zeigt ihn im Arztkittel über der Wehrmachtsuniform, in den Händen ein Kreuz und eine weiße Rose.

Über Schmorell kommt im Januar 1943 dessen ehemaliger Mitschüler Christoph Probst zur Weißen Rose. Probst lässt sich noch wenige Tage vor seiner Hinrichtung vom Gefängnispfarrer katholisch taufen.

Willi Graf schließlich hatte sich schon als Schüler in Saarbrücken dem Grauen Orden angeschlossen, einem von den Nationalsozialisten verbotenen katholischen Jugendbund. Im Sommer 1942 kommt der Medizinstudent nach München, wo er im Winter desselben Jahres zur Weißen Rose stößt. Im Dezember 2017 wurde bekannt, dass das Erzbistum München und Freising die Eröffnung eines Seligsprechungsverfahrens für Graf prüft.

Verantwortungsethik statt Martyrium?
Während diese geistliche Beheimatung nicht zuletzt in der neuen Biografie von Robert Zoske detailliert dargestellt wird, zeigen sie filmische, aber auch dokumentarische Darstellungen Sophie Scholls und der Weißen Rose allenfalls am Rande. Es mag daran liegen, dass sie sich nicht gut in starke Bilder fassen lässt. Möglicherweise aber ist auch das leidenschaftliche Bekenntnis zur Freiheit im Angesicht des nahen Todes anschlussfähiger, zeitgemäßer als ein christlicher Glaube, der manchem fremd sein mag.

Das erklärt vielleicht, warum die Vorsitzende der Weiße Rose Stiftung, Hildegard Kronawitter, in der FAZ den Begriff des Märtyrertums für Sophie Scholl mit der Begründung ablehnt, dieser sei „zu sehr mit dem christlichen Glauben verbunden“. Die Geschwister Scholl hätten vielmehr aus einem starken Verantwortungsgefühl heraus gehandelt, das ihnen im Elternhaus anerzogen worden sei. So wird aus der Pietistin Magdalena Scholl eine Verantwortungsethikerin. Das klingt irgendwie moderner und tut niemandem weh.

Und doch ist Sophie Scholl, ist die Weiße Rose, ohne den christlich geprägten geistig-geistlichen Kosmos nicht denkbar. Aus ihm haben sie die Kraft geschöpft, sich vom Nationalsozialismus abzuwenden und diesen aktiv zu bekämpfen.

Harter Geist, weiches Herz
Wenn sich uns die „Blogger/in Sophie Scholl“ auf Instagram heute selbstbewusst mit der Charakterisierung „Harter Geist, weiches Herz“ vorstellt, so klingt das wie eine im Überschwang verfasste Kurzbeschreibung einer jungen Frau, romantisch und entschlossen. Diese Formel, die sich wiederholt in Sophie Scholls Briefen findet, ist sogar als ihre „Losung“ bezeichnet worden. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein Zitat aus einem Brief des neuthomistischen Philosophen und Konvertiten Jacques Maritain an den Universalkünstler Jean Cocteau: „Il faut avoir l’esprit dur et le cœur doux.“

Heute gedenken wir Sophie Scholl als einer mutigen Frau mit einem harten, entschlossenen Geist und einem weichen Herz. Unsere Achtung ist unabhängig davon, ob wir Sophie Scholls Glaubensüberzeugungen teilen oder für ein Relikt aus überwundenen Zeiten halten. Dass ihr Glaube Sophie Scholl – wie auch die anderen Mitglieder der Weißen Rose – zum Widerstand motiviert und befähigt hat, schließt niemanden aus der Erinnerungsgemeinschaft aus. Wir können dem Menschen Sophie Scholl aber nur gerecht werden, wenn wir um diesen wichtigen Aspekt ihrer Persönlichkeit wissen.

Bildnachweise:

Sophie Scholl 1942 in Blumberg. Foto von Hans Scholl. Wikimedia commons, gemeinfrei

Hans und Sophie Scholl mit Christoph Probst. Bild von Jim Forest auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Ikone des Heiligen Alexander Schmorell in der St. Elizabeth the New Martyr Orthodox Church in Rocky Hill, New Jersey. Bild von Jim Forest auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Der Philosoph Jacques Maritain, ca. 1930. Wikimedia commons, gemeinfrei

9. Mai 2021 || ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent

Teamleiterin Sandra Gilles