Der Doktor und die Schlange. Albertus Magnus zum 740. Todestag

Der Doktor
Es ist nicht überliefert, was den gerade mal 21-jährigen und im vorhergegangenen Herbst zum Gegenkönig gewählten Grafen Wilhelm von Holland bewogen hatte, just am Dreikönigstag 1248 den General-Lesemeister der Kölner Dominikaner aufzusuchen. Angeblich traf man sich im vom Meister höchstselbst angelegten Klostergarten, genauer gesagt in dem mit Heilkräutern und anderen Nutzpflanzen angelegten „Paradies“ im Kreuzganghof des Dominikanerklosters. Die Legende machte daraus ein faustisches Ereignis: Unterm Auftafeln der Speisen sei das todeskalte Kleid des Schnees von Bäumen und Gräsern gewichen und habe Blumen und tirilierenden Vögeln Platz gemacht. Die Gäste konnten sich ihrer warmen Oberbekleidung entledigen. Vergleichbare Szenen finden sich in den ältesten bekannten Überlieferungen des Fauststoffs, wie beispielsweise in Christopher Marlowes „Tragical History of Doctor Faustus“ von etwa 1590, in welcher, wie auch später bei Goethe, der mit den bösen Mächten paktierende Doktor vor dem Römischen Kaiser widernatürliche Ereignisse und Personen hervorzaubert. Die mehr als zweifelhafte moralische Integrität des Doktor Faust darf wohl beim Lesemeister der Kölner Dominikaner nicht angesetzt werden. Denn dieser Magister war niemand anderer als Albertus Magnus, der Doctor universalis, der einzige Wissenschaftler, dem je der Beiname „der Große“ zuerkannt wurde. Doch zu Lebzeiten Alberts war dieser Ruhm nicht unumstritten. Denn dieser Große hatte mehrfach das Unmögliche möglich und – brisanter noch – das Unerlaubte nützlich gemacht.

Die Exkommunikation Friedrichs II. in Lyon 1245 durch Papst Innozenz IV. Giovanni Villani, Nuova Cronica, 14. Jahrhundert, Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom Cod. Chigi LVIII 296, fol. 78v.

Wilhelm von Holland wird Albert am 6. Januar 1248 wahrscheinlich um Rat und Beistand in der äußerst spannungsreichen Lage, in welcher er sich nach seiner Königswahl befand, befragt haben. Der junge Graf war am 3. Oktober 1247 vor allem auf Betreiben des Kölner Erzbischofs Konrad von Hochstaden von den Fürsten des Reichs als Gegenkönig gegen den vom Papst exkommunizierten römisch-deutschen Kaiser Friedrich II. gewählt und am 1. November desselben Jahrs in Aachen gekrönt worden. Wilhelm war damit Nachfolger des ein Jahr zuvor verstorbenen Gegenkönigs Heinrich von Raspe und der Einzige, der sich zu diesem Zeitpunkt noch bereit erklärt hatte, gegen Friedrich II. zu kandidieren. Gegenkönig sein, das war eine gefährliche Sache! 50 Jahre zuvor waren in konträrer Wahl als Nachfolger des Staufers Heinrich VI. der Barbarossasohn Philipp von Schwaben und der Welfe Otto IV. von Braunschweig inthronisiert worden – der eine vom Mainzer Erzbischof mit den echten Reichsinsignien in Mainz, der andere vom Kölner Erzbischof mit Kopien derselben in Aachen. Philipp und Otto hatten sich in dieser von Walter von der Vogelweide als verheerend beschriebenen Situation des Reichs daraufhin aufs Entsetzlichste um die Macht bekriegt. Die Ermordung Philipps im Jahre 1208 hatte dem zwar ein vorläufiges Ende gesetzt, und war auch der Welfe Otto 1209 zum römisch-deutschen Kaiser gekrönt worden: Bereits 1212 war eben jener Friedrich II. (und das hieß, schon wieder ein Staufer!) gegen Otto zum rechtmäßigen römischen-deutschen König von teils denselben Leuten gewählt worden, die sich vorher für Philipp oder ihn ausgesprochen hatten. Friedrich II. war also selber so etwas wie die Alternative zum eigenen Amt, konnte sich aber erst 1220 nach dem Tod Ottos IV. zum römisch-deutschen Kaiser inaugurieren lassen. In den neuerlichen Gegenkönigswahlen von 1246 bzw. 1247 (Heinrich Raspe und Wilhelm von Holland) klang auch der andere Konflikt, nämlich der zwischen dem Kölner und dem Mainzer Erzbischof um das Recht der Königskrönung an. Einen Hinweis darauf gibt das ungewöhnliche, sich wohl gegen seinen Kölner Erzrivalen positionierende Grabmal Siegfried von Eppsteins im Mainzer Dom, auf welchem dieser sich als doppelter Königsmacher darstellen ließ.

Erzbischof Siegfried III. von Eppstein, ältestes Grabdenkmal im Mainzer Dom
© Von Bhuck – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Wahrscheinlich war dem gerade erst volljährig gewordenen Wilhelm von Holland ähnlich schwindlig wie uns, wenn wir Personen und Allianzen dieser verwickelten Verhältnisse nicht mehr auseinanderhalten können. Doch eines dürfte Wilhelm bewusst gewesen sein. Er konnte schnell in den schauerlichen Rankünen der erfahrenen und älteren Machtelite des Reichs zerrieben werden. Schon Otto IV. war mehrfach von seinen Unterstützern fallengelassen, wieder aufgerichtet und erneut verlassen worden – je nachdem, wie der Wind in den mächtigen rheinischen Erzbistümern, in Rom oder England und auch in der in schlagender Weise nach Autonomie strebenden Kölner Bürgerschaft sich drehte.

Friedrich II. mit seinem Falken. Aus seinem Buch De arte venandi cum avibus („Über die Kunst mit Vögeln zu jagen“), Süditalien zwischen 1258 und 1266. Città del Vaticano, Vatikanische Apostolische Bibliothek (Cod. Pal. Lat. 1071, fol. 1v)

Albertus Magnus stand in dem Ruf, ein äußerst weltgewandter, verbindlicher und verbindender Geist zu sein. Sein Rat war gefragt, er konnte die unterschiedlichsten Positionen miteinander vermitteln. Als eine Art Heiner Geißler des 13. Jahrhunderts hatte er beispielsweise 1252 und 1258 in zwei historisch völlig neuartigen und damit unlösbar erscheinenden Konflikten zwischen der Kölner Bürgerschaft und Erzbischof Konrad von Hochstaden erfolgreich geschlichtet. Er konnte das Unmöglich-Scheinende möglich machen! Dass nun die Audienz Wilhelm von Hollands genau am Dreikönigstag stattfand, dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass die Heiligen Drei Könige seit den Ottonen als Archetypen einer weisen und christlichen Herrschaft galten und als solche auch seit gut 15 Jahren an äußerst prominenter Stelle am Kölner Dreikönigenschrein präsentiert wurden. Das Gold für diese Darstellung hatte übrigens Otto der Welfe gestiftet. Ganz in Art einer Sinnstiftung ist Otto darin als der Vierte im Bunde, als der einzig legitime Nachfolger der heiligen Drei nach seiner illegitimen Wahl von 1198 wiedergegeben. Die Stiftung erfolgte im Jahr 1200, als der Konflikt mit Philipp von Schwaben die größte Eskalationsstufe erreicht hatte.

Erzbischof Konrad von Hochstaden im Fußbodenmosaik des Kölner Doms. Die Legende schreibt den Entwurf des Kölner Domes ebenfalls Albert zu.
© Von Oosjsieu (talk), eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Die Schlange
Das Unerlaubte nützlich machen, das tat Albert auf dem Felde der Wissenschaft. Er führte als erster das vorwissenschaftliche Experiment in die Naturbeobachtung ein. Er erhob das Naturstudium zu einem zentralen Anliegen und setzte sich damit in Gegensatz zur gesamten vorscholastischen Tradition des lateinischen Mittelalters und sich selbst dem Vorwurf der schwarzen Magie aus. Eine andere Legende besagt, er habe sogar einen Roboter konstruiert, der täuschend lebensnah dem faustischen Homunkulus das Wasser hätte reichen können. Sehr aufschlussreich, dass es in dieser Legende Alberts berühmtester Schüler, nämlich Thomas von Aquin war, der den Homunkulus zerstörte. Tatsächlich hatte der Aquinate dem Naturstudium bereits nicht mehr den Stellenwert zuerkannt, wie es sein Lehrer tat. Albert blieb in jeglicher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung.

Das Unerlaubte, das Albertus Magnus für seine Wissenschaft nutzbar machte, war das Unerhörte! Er brachte die Naturkunde und die Ontologie des griechisch-antiken Heiden Aristoteles über die Vermittlung der arabisch-muslimischen Philosophen Avicenna und Averroës für die mittelalterliche abendländische Philosophie und Theologie in Ansatz. Albert war, weil Ontologie und Logik auf diese Weise zur prima philosophia und das heißt zur epistemischen Voraussetzung für die Theologie wurden, gleichzeitig Begründer und Überwinder der mittelalterlichen Scholastik. Das war manch einem seiner Kritiker wohl schlicht zu viel und Albert geriet mehr als einmal in den Verdacht, dass es bei ihm nicht mit den rechten Dingen zugehe.

Albertus-Magnus-Denkmal vor dem Hauptgebäude der Universität zu Köln
© 1971markus, CC BY-SA 4.0

Grundlegend in Alberts Wissenschaftstheorie dürfte die Annahme der Ureinheit und Harmonie der Schöpfung gewesen sein. Wenn die Welt – wie wir sie über die Sinne wahrnehmen: sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen – Schöpfung Gottes ist und IHN als Urprinzip zum Grunde hat, dann müsse doch auch der EINE in den sinnlich fassbaren Wesen und in der Gestaltung der Natur zu fassen sein. Die bisherige, sich lediglich auf die Bibel und die sie auslegenden Kirchenväter als Autoritäten berufende Gelehrsamkeit traf aber über die Beschaffenheiten der umgebenden Natur keine Aussagen. Sie befasste sich nicht einmal mit ihnen. Albert folgerte daraus: „In Glaubens- und Sittenfragen muss man dem Augustinus mehr trauen als den Philosophen, falls sie eine abweichende Ansicht vertreten. Spräche er (Augustinus) aber über Medizinisches, so würde ich dem Galen oder Hippokrates mehr Glauben schenken. Würde er sich dagegen über naturwissenschaftliche Dinge äußern, so glaube ich mehr dem Aristoteles oder einem anderen Fachmanne der Naturkunde“ (Super II Sententiarum dist. 13, a 2). Und wenn nun bei Aristoteles über, sagen wir mal: die Natur der Biene nichts zu erfahren ist, so muss eben die eigene Beobachtung dieses Desiderat ersetzen. Also machte sich Albert ans Experiment und untersuchte „die Bienen in ihren verschiedenen Arten anatomisch“. Dabei fand er in ihrem „Hinterleibe nach der Einschnürung ein glänzendes, durchsichtiges Säckchen, und wenn man dies auf den Geschmack hin untersucht, zeigt es einen sehr feinen Honiggeschmack“ (De animalibus I. 4, tr. 1, c. 7). – Was ist der Nährwert dieses Experiments, so fragen wir.

Alberts Anspruch war, das gesamte Wissen seiner Zeit und die gesamte Erscheinung der Welt zu erfassen und darzustellen. Ob ihm die Unmöglichkeit eines enzyklopädischen und universalistischen Unterfangens irgendwann schwante, darf bezweifelt werden. Albert muss aber angesichts der Mannigfaltigkeit in der Natur Vorentscheidungen getroffen haben, welche Art primär sich lohne, sie anzuschauen, und welche vielleicht nur nachrangig. Warum also untersuchte er die Biene auf den Geschmack ihres Leibes hin und nicht die Fliege?

Die These ist: Weil die Biene den Honig hervorbringt und weil sie in einer langen positiven christlichen Tradition steht, als ein Bild des Fleißes und der Selbstaufopferung, als ein Bild für Jesus Christus und des Auferstandenen und vieles mehr (siehe hierzu den Blog-Beitrag „Ein Honigvögelein gibt allersüßeste Frucht oder der Triumph der Selbstlosigkeit“ von Prof. Dr. Manfred Becker-Huberti). Albert kannte die gesamte patristische Literatur aus dem Effeff, so dass ihm all diese Deutungen geläufig gewesen sein müssen. Die Süße der Biene bestätigte ihm die Süße der Gottheit und der Schöpfung. Wenn es die Biene ist, von der die Süße des Honigs kommt und nicht von den Blütenpollen (Versuchen Sie einmal, diese zu schmecken, sie sind bitter!), dann dürfte nach Alberts Methodologie die Immanenz des Schöpfergottes in seinen Emanationen auf der Basis der Sinnenuntersuchung dieses Geschöpfs bestätigt und zum Beweis gebracht worden sein („Der Beweis aus der Sinneserfahrung gibt in der Naturphilosophie die größte Sicherheit und steht wissenschaftlich höher als Theorie ohne Beobachtung“ [Meteora I.3 tr.1 c.21] und „Wenn jemand die Naturwissenschaft gründlich beherrscht, sind ihm die Worte des Herrn kein Anlass zum Zweifel“ [Super Matth. 15, 17]). Der „Nährwert“ des Experiments liegt also im Aufweis seines christologisch-ontologischen Gehalts.

Zwar gilt für Albertus eine strenge methodische Restriktion: „In der Naturforschung haben wir nicht zu untersuchen, ob und wie der Schöpfer-Gott (…) durch unmittelbares Eingreifen sich seiner Geschöpfe bedient, um durch ein Wunder seine Allmacht kundzutun. Wir haben vielmehr einzig und allein [in methodischem Atheismus; M.J.-E.] zu erforschen, was im Bereich der Natur durch natureigene Kräfte auf natürliche Weise alles möglich ist“ (De caelo et mundo, Ed. Col. t.5, 1 p. 103, 7-12). Den Schluss vom Experiment zum ethisch-ontologischen Allgemeinen muss man also wohl selbst ziehen, den gibt Albert nicht vor. Aber da, wo die Naturbeobachtung die Aussage der Theologie zu bestätigen vermag, so Albert an anderer Stelle, sei deren, bei eventuellem Widerspruch allerdings unumgehbare Autorität vollends unter Beweis gestellt.

Ein anderes von Albertus durchgeführtes Experiment mag das erkenntnisleitende ethisch-ontologische, was letztlich heißt: theologische Interesse Alberts verdeutlichen:

In den „Quastiones super De animalibus“ berichtet er Folgendes: „Die Schlangen sind sehr kalt, und der Wein ist heiß. Daher wird durch den Wein ihre Wärme gesteigert und ihre Kälte herabgemindert, und sie freuen sich daran, dass sie ‚nicht wissen, was sie tun‘. So habe ich es bei einer Schlange beobachtet, die ich in Köln hatte und mit Wein trunken machte: sie wankte hierhin und dorthin durch das Kloster, als wäre sie halbtot. (…) Darum sind sie gierig auf Wein.“

Der Anfang von Alberts Abhandlung „Über das Gute“ in der Handschrift Köln, Dombibliothek, Codex 1024

Wenn es Albertus Magnus lediglich um die Erkundung der Wirkung eines wärmenden Getränkes auf ein wechselwarmes Tier gegangen wäre, dann hätte er auch einen Frosch mit Kräutertee füttern können. Er wählte aber Schlange und Wein. Vielleicht fand das Experiment im Winter statt. Umso stärker wäre dann die Wirkung gewesen, wenn das stocksteife Tier sich plötzlich mit der Aufnahme des Getränks regte wie der Stab Mose sich durch Einwirken des Propheten in eine Schlange und wieder zurückverwandeln konnte (Ex 4,1-6). Und genau diese Assoziationen und Verknüpfungen waren – so meine These – von Albert beabsichtigt. Die Schlange, als Bild des Bösen und des Versuchers in der Genesis, im Exodus als Nachweis der Epiphanie Jahwes, im Numeri im Bild der ehernen Schlange als typologische Vorbildung von Kreuzestod und Erlösung durch Christus eingeführt, nimmt den Wein, der von einer geweihten und theologisch höchstgebildeten Person wie Albertus Magnus ganz sicher nicht ohne seine eucharistische Konnotation gedacht worden sein dürfte, auf und wird zu unschuldig schuldiger Vitalität erweckt, ja giert sogar nach mehr der Wohltat! Wie anders lässt sich diese Versuchsanordnung als Darlegung des Siegs vom Guten über das Böse, den Sieg Gottes über seinen Widersacher verstehen? Selbst das schlechthin Böse nimmt in seinem Innersten die höhere Macht des Guten wahr und strebt nach Erlösung. „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, sagt in Goethes Faust die Muhme Schlange alias Mephistopheles über sich selbst.

Römischer Sarkophag mit den Gebeinen von Albertus Magnus in der Krypta der Kirche St. Andreas in Köln
© Von Kempf EK – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Siegel Alberts des Großen als Bischof von Regensburg

Albertus Magnus, Fresko (1352) in Treviso, Italien
© Tommaso da Modena – Web Gallery of Art: Abbild Info about artwork, gemeinfrei

15. November 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers und Germanisten Markus Juraschek-Eckstein