Buchtipp: Picknick im Dunkeln

Die Frage aller Fragen
Erst neulich wieder tauchte sie auf, die Frage aller Fragen. Es war eine muntere Runde, virtuell versteht sich. Nachdem wir lange über die desolate politische Situation der USA geklagt und auch die Zukunft des deutschen Bankwesens diskutiert hatten, fragte plötzlich einer ohne Vorwarnung und nur mit leicht ironischem Unterton, was denn nun nach dem Tod komme. Jetzt hieß es Farbe bekennen. Das Mitglied der Giordano-Bruno-Vereinigung konnte seine Position schnell zusammenfassen: Da komme dann nichts mehr. Aus. Ende. Einige aus der Runde stimmten ihm spontan zu. Bevor ich meinen Katechismus aus dem Bücherregal holen konnte, meldete sich ein weiser Freund zu Wort: Im Urlaub habe er als Kind gelegentlich an Spielautomaten „daddeln“ dürfen. Schon damals habe er sich mit der Ansage „Game over“ nicht abfinden können. Es sei einfach kein schönes Gefühl gewesen. Ich fand seinen Einwurf großartig. Leider hatte ich zu diesem Zeitpunkt Markus Orths Philosophieroman „Picknick im Dunkeln“ noch nicht gelesen, sonst hätte ich sagen können: Nach dem Tod landet man in einer dunklen Röhre, in der man überraschende Bekanntschaften machen kann.

Im Dunkeln ereignet sich Überraschendes
Denn so geht es bei Orths dem Filmkomiker Stan Laurel, der schmächtigen Hälfte des Duos „Laurel & Hardy“, hierzulande bekannt als „Dick & Doof“.

Stan Laurel befindet sich, so beginnt der Roman, plötzlich allein in kompletter Dunkelheit, ohne eine Ahnung, wo er ist und wie er an diesen tristen Ort gelangt sein könnte. Erst später wird er mit der bitteren Vermutung konfrontiert, er könne bereits gestorben sein und sich nun auf dem Weg zum Jüngsten Gericht befinden – eine Vorstellung, die dem Lebemann Laurel nun überhaupt nicht gefällt. Völlig einsichtig erscheint sie indes einer Person, auf die Laurel im Inneren des Tunnels gestoßen ist. Die Leibesfülle dieses Mannes erinnert Laurel an seinen alten Filmpartner Oliver Hardy, aber geistig scheint der Unbekannte in einer anderen Liga zu spielen. Erst nach und nach begreift Stan Laurel, dass es sich um den hochmittelalterlichen Philosophen und Theologen Thomas von Aquin handelt.

Gemeinsam bewegen sich die beiden ungleichen Gefährten nun durch das Dunkel, wobei ihre Gemütsverfassungen unterschiedlicher nicht sein könnten: Laurel ergeht sich in Erinnerungen an seine Jugend und seine Eltern, an den Beginn seiner Karriere und die großen Filmerfolge. Dann wird er von Panik erfasst, will unbedingt Gewissheit über sein Schicksal erlangen, sich aber mit der eigenen Endlichkeit partout nicht abfinden: „Ich will eine andere Wahrheit! Nicht die Wahrheit des Todes!“ fährt er seinen Begleiter an. Den jedoch kann nichts aus der Fassung bringen. Sein Weltbild gründet im Glauben an einen gütigen Gott: „Er wird uns nicht fallen lassen am Ende der Tage, er wird uns retten und zu sich führen, in die Ewigkeit“. Aus diesem Glauben folgt für den Dominikanermönch des 13. Jahrhunderts „eine vollkommene Sorgenfreiheit“, deren Schönheit der Filmkomiker des 20. Jahrhunderts unumwunden eingesteht.

Allein: Stan Laurel kann nicht an Gott glauben. Daran ändern auch die geduldigen Argumentationsversuche des mittelalterlichen Meisterdenkers nichts. Dieser wiederum hat für seine in jahrzehntelanger Denkarbeit erreichten Erkenntnisse einen hohen Preis zahlen müssen: den vollständigen Verzicht auf das Lachen. Genau darin aber, im befreienden Lachen, erkennt Laurel eine gewissermaßen innerweltliche Erlösung, die ihm – und vielen modernen Menschen – in einer als absurd empfundenen Welt bleibt: „Die Menschen lachen über den Unsinn. Sie dürfen albern sein. Ja, das Lachen mag entlastend sein, erleichternd, tröstend oder aufrüttelnd […]. Mein albernes Lachen zielt auf das in mir liegende Gefühl einer tief empfundenen Sinnlosigkeit. Die Sinnlosigkeit macht sich Luft im Unsinn.“

Die beiden entgegengesetzten Sichtweisen des Heiligen und des Komikers stellt Orths als zwei mögliche Reaktionen auf Albert Camus‘ Sisyphos-Mythos dar: Thomas empfiehlt der antiken Sagengestalt, in der Camus die Existenz des modernen Menschen erkennt, den Stein einfach weiterzurollen, in die Höhe, zu Gott – im festen Glauben, dass dieser Weg tragen wird. Laurel dagegen macht aus dem Stein ein Klavier, das er in einer seiner berühmten Filmszenen zusammen mit Hardy eine steile Treppe hinaufschleppen muss. Nach langer Plackerei erkennen die beiden schließlich, dass sie das Klavier auch ohne Mühe mit einem Pferdefuhrwerk hätten anliefern können. Ob wir uns Sisyphos als einen lachenden Menschen vorstellen dürfen?

Auf dem Weg zur thomistisch-laurelistischen Synthese?
In vergnüglichen, bisweilen aberwitzigen Dialogen zwischen seinen beiden ungleichen Protagonisten legt Markus Orths feine Denkspuren, auf denen man Laurel und Thomas leicht folgen kann. Weder muss man die komplizierten Summen des Aquinaten studiert, noch sämtliche Stan-und-Ollie-Filme gesehen haben, um an diesem Zwiegespräch Gefallen zu finden. Der Autor verbindet die Gedanken von Laurel und Thomas mit kleinen Episoden aus den zwei Leben, zwischen denen 700 Jahre Menschheits- und Philosophiegeschichte liegen. Ob die Positionen, die Stan Laurel und Thomas von Aquin im völligen Dunkel und in wachsender Zuneigung füreinander entwickeln, in einer Synthese verbunden werden können, lässt Orths offen. Das irre Finale des Romans gibt den Leserinnen und Lesern aber Anreiz zu eigenem Weiterdenken. Die Frage aller Fragen kann auch Orths freilich nicht beantworten. Vergnüglicher als der Katechismus ist seine leichthändig geschriebene Auseinandersetzung mit den letzten Dingen aber allemal. Ich werde sie meinen Freunden bei nächster Gelegenheit ans Herz legen.

Markus Orths: Picknick im Dunkeln. Roman. Hanser, München 2020.

Mehr Informationen zum Buch und seinem Autor finden Sie auf den Internetseiten des Hanser-Verlags und des Autors Markus Orths.

Bilder
Überraschende Begegnung in einer Bibliothek. Bild von Daniel auf Unsplash, gemeinfrei
Laurel and Hardy. Bild von Dennis Amith auf Flickr (CC BY-SA 2.0) Thomas von Aquin. Gemälde von Carlo Crivelli (1476). The National Gallery, London, auf Wikipedia, gemeinfrei
Sisyphos. Gemälde von Tizian (1549) auf Wikipedia, gemeinfrei

11. Juli 2020 || empfohlen von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent Forum PGR