Thomas Manns „Tonio Kröger“
„Die Literatur ist überhaupt kein Beruf, sondern ein Fluch. … Sie fangen an, sich gezeichnet, sich in einem rätselhaften Gegensatz zu den anderen, den Gewöhnlichen, den Ordentlichen zu fühlen, der Abgrund von Ironie, Unglaube, Opposition, Erkenntnis, Gefühl, der Sie von den Menschen trennt, klafft tiefer und tiefer, Sie sind einsam, und fortan gibt es keine Verständigung mehr. Was für ein Schicksal! Gesetzt, daß das Herz lebendig genug, liebevoll genug geblieben ist, es als furchtbar zu empfinden!… Ihr Selbstbewußtsein entzündet sich, weil Sie unter Tausenden das Zeichen an Ihrer Stirne spüren und fühlen, daß es niemandem entgeht.“
Ein Vexierspiel, dieses Zitat: Hat Thomas Mann es nur seiner Figur Tonio Kröger in den Mund gelegt – oder spricht die literarische Figur nicht vielmehr für ihn selbst?
Wie kaum ein anderes seiner Werke beschreibt die vor genau 120 Jahren entstandene Novelle Tonio Kröger die Polarität und Zerrissenheit, die den Dichter Thomas Mann zeitlebens begleitete und die sich in wohl keinem seiner Werke so klar und unmaskiert dem Leser zeigt wie in diesem kleinen Prosastück seiner frühen Jahre. Selbst 27 Jahre nach seiner Entstehung bekundete der Autor, diese kleine Novelle liege ihm am Herzen wie kaum ein anderes seiner Werke und ordnete es dem Genre der psychologischen Kurzgeschichte zu – und lässt damit einen Blick zu auf die authentische autobiografische Struktur und Anlage seiner Geschichte. So lässt der Tonio Kröger eine Näherung an den Dichter zu, die bei der Lektüre aller anderen seiner Werke deutlich mühsamer ist.
Die gesamte Erzählung dreht sich um Gegensätze, die für die zweifach „aufgeladene“ Hauptfigur des Tonio Kröger und seinen Schöpfer charakteristisch sind. Die Kontraste zwischen dem sorgsamen, bedachten, kühlen und im Norden geborenen Vater und der heißblütigen, musikalischen und durchaus leichtfertigen Mutter, der engen, spitzgiebeligen Heimatstadt Lübeck und der schier endlosen Weite der schäumenden Ostsee, zwischen Nord und Süd, dem blonden, sportlichen Bürgertum mit einer Vorliebe fürs Reiten und Tanzen und dem dunkelhaarigen, literarisch orientierten Künstlertum mit der Präferenz für den Rückzug in die Stille des Waldes sind Ausgangspunkte der Geschichte – aber auch autobiografische „Marker“ des Dichters.
In allen Phasen der Novelle erfahren diese Gegensätze ihre Ausformung, begleitet von einem wichtigen Leitmotiv – dem Herzen.
Auch dieses ikonografische Motiv ist ambivalent: Die bürgerlichen, lebenstüchtigen Freunde Tonios – Inge und Hans – verkörpern das „lebendige Herz“; Tonio hingegen hat in seiner Distanz zum Gemeinleben und zur Gemeinschaft ein „totes Herz“, das vergeblich liebt. Doch diese Dysfunktionalität vitalen Lebens ist Voraussetzung der künstlerischen Identität und Produktivität Tonio Krögers – und der Thomas Manns.
Wer Thomas Mann in seiner intellektuellen Verfasstheit verstehen will, kommt ihm mit der Lektüre dieser frühen Novelle sehr nah.
Wer Thomas Mann darüber hinaus in seiner mentalen Bedingtheit begreifen will, ihm nachspüren will, seine Motive durchdringen will – dem sei ein Besuch in Thomas Manns Heimatstadt Lübeck sehr empfohlen.
Hier werden die Pole, die Kontraste lebendig; hier wachsen die giebeligen Häuser der Stadt dem Meer entgegen, hier steht Thomas Manns Elternhaus.
Seien Sie dabei, wenn wir in Lübeck den Spuren des Dichters nachgehen, seinen Werken, seinem Leben – und der Fusion aus beidem, dem Tonio Kröger.
Für Kurzentschlossene gibt es noch 2 freie Plätze: Am 12. Mai starten wir in Lübeck.
12. bis 15. Mai 2022 (Do.-So.)
Literatur, Kunst und Meer
Thomas Manns „Tonio Kröger“
Thomas-Mann-Akademie in Lübeck
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7. Mai 2022 || ein Beitrag von Felicitas Esser, Akademiereferentin für Kultur und Gesellschaft