Golgota in Oberbayern

Oberammergau hat fast genauso viele Einwohner wie Bensberg: 5393 zu 5725. Es liegt gleichauf mit Süderbrarup in Schleswig-Holstein, ist unwesentlich größer als Kues (ohne Bernkastel) und unwesentlich kleiner als Herrnhut in der Oberlausitz. Natürlich sind Bensberg, Süderbrarup, Kues und Herrnhut allesamt respektable Gemeinden. Aber nur Oberammergau hat die Passionsspiele. Man mag spekulieren, wie die Passionsspiele wären, würden sie in Bensberg, Süderbrarup, Kues oder Herrnhut aufgeführt. Fest steht: Sie wären anders als in Oberammergau. Sie sähen anders aus, klängen anders, hätten eine andere Dynamik.

Die Passionsspiele von Oberammergau finden seit bald 400 Jahren an diesem Ort statt, im Angesicht der Alpen. Sie werden seit vier Jahrhunderten von einer oberbayerischen Dorfbevölkerung gespielt, für die ansonsten die Holzschnitzerei ein wesentlicher Broterwerb ist. Die Berechtigung zum Mitspielen wird noch immer so restriktiv gehandhabt, dass sie bei einem Verein der Fußballbundesliga längst höchstrichterlich für nichtig erklärt worden wäre: Mitspielen darf nur, wer in Oberammergau geboren ist oder seit mindestens 20 Jahren im Ort lebt. Verheiratete Frauen über 35 und Protestanten dürfen erst seit 1990 mitmachen. Dass nun ein Muslim den Judas spielt, hat noch für Diskussionen gesorgt. Jesus und seine Jünger, die Pharisäer und Priester sprechen ebenso wie Pontius Pilatus und Herodes mit hörbar bayerischem Akzent.

Immer wieder hat es lukrative Angebote gegeben, das Spiel zu verfilmen oder auf eine Tournee zu schicken. Die Oberammergauer haben solche Offerten stets ausgeschlagen. Man ist sich wohl bewusst, dass dieses Spiel nur in dem Setting des Dorfes funktioniert, inmitten der Kultur, die es seit jeher geprägt hat. Man kriegt also das Spiel nicht ohne zumindest ein Minimum dieses Ambientes wahrzunehmen.

Auf allen Kanälen laufen in diesem Sommer immer wieder Dokumentationen über die Passion und ihre Protagonisten. Ich habe mir etliche angeschaut. Auch wenn ich die Story nun kenne und mich mit Namen und Gesichtern der wichtigsten Mitwirkenden vertraut gemacht habe, sehe ich mir diese Sendungen immer wieder gerne an: Wie es aus dem Spielleiter Christian Stückl heraussprudelt, wie er sich beim Sprechen fast selber zu überholen versucht, vor lauter Begeisterung manchen Satz nicht zu Ende spricht – das ist schon eine kleine Show für sich. Dabei qualmte er bis Anfang des Jahres wie sonst nur Helmut Schmidt in seinen besten Tagen.

Großartig sind auch Aufnahmen von Probenszenen, bei denen Stückl – seine imposante graue Mähne wild zerzaust – das Ensemble antreibt, so dass ihm das Hemd aus der Hose rutscht. Immer wieder schärft er nach, fordert Leidenschaft ein, spricht dabei jede Zeile stumm mit. Man hat ihn anerkennend als Besessenen und als Berserker bezeichnet – und das scheint absolut angemessen zu sein. Schon als Junge trug er den Namen „Bühnenschreck“, weil er sich immer im Theaterhaus herumtrieb, gerne in irgendwelche Kostüme schlüpfte und damit zu unpassenden Stellen bei Proben auftauchte, bis er sich vom Spielleiter „a Watschn“ fing.

So unterschiedlich die vielen Darstellerinnen und Darsteller auch sind, ob alt oder jung, Mann oder Frau, Haupt- oder Statistenrolle – alle strahlen diese eigentümliche Mischung von kindlicher Freude und bodenständiger Gelassenheit, Dankbarkeit und Stolz aus. Keiner der Hauptdarsteller sei mehr ein regelmäßiger Kirchgänger, berichten die Medien. Aber ob es die Erfüllung des Gelübdes von 1633 ist oder die Teilhabe an dem sozialen Großereignis – alle sind begeistert bei der Sache. Das Ensemble reiste sogar nach Israel, um sich einen eigenen Eindruck von den Orten zu machen, an denen Jesus gelebt und gewirkt hat.

Dementsprechend beschließe ich, mich auch im Land der Passion etwas zu akklimatisieren. Ich nähere mich dem Ort zu Fuß, wandere durch die Ammergauer Alpen, besuche die weltberühmte Wieskirche in Steingaden. Meine Wirtin in Wildsteig erzählt, dass sie die diesjährige Passion schon gesehen hat. Auf Spielleiter Stückl hält sie große Stücke. Aber nach einem kurzen Schwätzchen entschuldigt sie sich, weil sie sich um das Milchvieh kümmern muss, während ich die Ruhe ihres Gartens genießen darf.

In Peiting lese ich in einem Gemeindebrief der örtlichen Pfarrgemeinde. Der neue Pastoralreferent stellt sich vor. Gleich im zweiten Satz erwähnt er stolz, dass er als gebürtiger „O’gauer“ bei der Passion im Jahr 2000 dabei war. Die Passion ist fast so präsent wie die Kruzifixe, die an nahezu jedem Haus hängen oder im Garten aufgestellt sind. Auf einem Hof in Bad Kohlgrub ist der Heiland direkt neben Schaukel und Sandkiste positioniert. So ist Kindheit in Oberbayern.

Gelegentlich begegnen einem Männer in Lederhosen, die große Blechblasinstrumente schleppen und freundlich grüßen. Am Abend sitzt die Dorfjugend in voller Montur unter den Kastanien im Biergarten und genießt ein kühles Helles. Ich bestelle ein helles Weißbier und werde von der resoluten Kellnerin belehrt, dass es das nicht gebe. Es gebe Weißbier, dunkles Weißbier und Helles, aber kein helles Weißbier. Punkt.

Es ist Deutschland, nur anders.

Am 14. Juli ist es dann endlich soweit. Ein Bus bringt uns von Bad Kohlgrub an die Stadtgrenze von Oberammergau, ein zweiter Bus ins Zentrum. Das Wetter ist prächtig, das Dorf voll. Von überall her strömen Gruppen zum großen Schauspielhaus. Ein Stimmengewirr in unterschiedlichen Sprachen summt und brummt durch die Luft. Viele Amerikaner sind da, daneben Gruppen aus England und Skandinavien, Familien aus Frankreich (an ihrem Nationalfeiertag!) und natürlich Deutsche aus allen Teilen des Landes. Im Theater unterhalten sich vor mir einige angeregt über Nebensächlichkeiten. Besonders groß scheint ihr Vorwissen nicht zu sein. Aber jetzt ist man endlich auch mal dabei.

Schon ertönt das „Heil dir“, die Hymne Oberammergaus, die hier jedes Kind kennt. Gleich zu Beginn haben die Kleinen ihren großen Auftritt. Sie wuseln herum, schwenken Palmzweige, scharen sich um den Wanderprediger aus Nazareth, der auf einem Esel auf die Bühne geritten kommt. Es ist ein katalanischer Riesenesel, weil die heimischen Rassen nach Protest von Tierschutzorganisationen für zu klein und schwach befunden wurden, um Frederik Mayet alias Jesus zu tragen.

Die ganze Szenerie wirkt irgendwie staubig, sandig. Sie erinnert mich an den Wüstenplaneten aus „Krieg der Sterne“, und der schon bald auftretende sinistre Priester Annas gleicht ein wenig Alec Guinness als Obi Wan-Kenobi. Eine dystopische Passion wollte der leitende Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier gestalten. Die vielen grauen und braunen Gewänder vor einfacher grauer Kulisse wirken dabei schon post-apokalyptisch. Nach der Katastrophe – aber vor der Rückkehr der Jedi-Ritter.

Frederik Mayets Jesus kann durchaus mit den Heroen des Sternenkrieges mithalten, steht dem kämpferischen Luke Skywalker in nichts nach. Gleich nach dem Einzug in Jerusalem fordert er die geistliche Elite der Stadt heraus, kritisiert ihren komfortablen Lebenswandel angesichts von Armut und Elend der Bevölkerung.

„Ihr setzt’s euch da hi und glaubt, dass ihr des verkündet, was Moses will“ habe Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern vorgehalten, so Spielleiter Stückl während der gemeinsamen Israel-Reise. Dann habe er klargestellt: „I soag euch, ihr machts des überhaupt net! I soag euch, des, was ihr die Leut verzählt, is a totaler Schmäh!“ Auf gut Bayerisch zusammengefasst laute die Botschaft Jesu: „Gschissn auf die Reichen! Gschissn auf die Reichen!“

Auf der Bühne klingt es dann etwas anders, aber kaum minder eindringlich, wenn der Zimmermann mit Blick auf die versammelten Gemeindevorsteher ausruft: „Auf den Stuhl des Mose haben sich die Schriftgelehrten und Priester gesetzt. Alles, was sie euch sagen, tut und haltet. […] Aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln. Denn sie reden, tun aber nicht, was sie sagen. […] Sie binden schwere und unerträgliche Bürden und legen sie euch auf die Schultern, sie selbst wollen aber keinen Finger dafür krümmen ….“

Man versteht, dass dieser hergelaufene Wanderprediger, dem auch noch Wunder nachgesagt werden, für die Eliten eine Herausforderung darstellt. Besonders augenfällig wird dies, wenn Jesus dem Hohepriester Kaiphas den Stein hinhält, mit dem die Ehebrecherin steinigen solle, wer ohne Sünde sei. Für Kaiphas ist das eine Provokation, die ihn zunächst unvorbereitet trifft, auf die er aber antworten muss. So nimmt das Drama seinen Lauf.

Aber Jesus ist nicht nur der „totale Revoluzzer“, als den ihn Stückl noch bei seiner ersten Passion 1990 sah. Seinen aufgebrachten Jüngern schärft er Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit ein: „Steht ab vom Zorn! Erhitzt euch nicht, es führt nur zum Bösen!“ Man versteht, warum Judas unzufrieden ist, warum ihm sein Meister als Zauderer erscheint, der sich trotz der erkannten und benannten Missstände nicht zu entschlossenem Handeln durchringen kann. Man mag den jungen Klimaschützern von Fridays for Future empfehlen, sich das mal anschauen. Diese Art der Strategiedebatte dürfte ihnen bekannt vorkommen.

In der Pause wird die Jesus-Darstellung unterschiedlich bewertet. Einige finden, dass der Jesus des Jahres 2022 zu viel und zu laut herumschreie. Anderen ist er noch nicht entschieden genug. Am Hintereingang des Theaters kann man unterdessen einige Darsteller sehen, ganz entspannt. Bereitwillig lässt sich Josef von Arimathäa in seinem Gewand fotografieren, während es sich zwei Jünger auf der Treppe bequem machen und Limonade trinken.

Am Abend beginnt dann die zweite Hälfte, die nach der Gefangennahme von Gethsemane einsetzt. Tonalität und Dynamik verändern sich: War Jesus zuvor aktiv, wird er nun zum Dulder. In den alten Fassungen des Passionsspiels dominierte dieser Modus. Die größte Sprechrolle war nicht die des Jesus, sondern die des Hohepriesters Kaiphas. Erst in den letzten Jahrzehnten hat man mehr und mehr Szenen aus dem Leben Jesu hinzugenommen, um die Botschaft und damit auch die Gründe für Verurteilung und Tod begreiflich zu machen.

Der zweite Teil erscheint insgesamt weniger homogen als der erste. Das finstere Ränkespiel um Kaiphas und Pilatus wechselt mit dem possenhaften Auftritt des Herodes, die Verspottung Christi durch die römische Soldateska steht neben der bedrückenden Selbsttötung des verratenen Verräters Judas. Die öffentliche Verurteilung Jesu durch Pilatus wird eine der stärksten Massenszenen des ganzen Spiels. Anhänger und Gegner Jesu treten lautstark gegeneinander an und ringen um Leben und Tod des gepeinigten Predigers aus Nazareth.

Die düsteren Kreuzigungsszenen stehen dazu in einem starken Kontrast. Auch die „lebenden Bilder“ – Szenen aus dem Alten Testament, die in der Bühnenmitte für einige Augenblicke enthüllt und nur vom Chor und den Solisten kommentiert werden – wirken in der zweiten Hälfte besonders eindrucksvoll. Ihre starken Farben stehen in deutlichem Kontrast zu den sandig-grau gehaltenen Spielszenen und kommen bei Dunkelheit noch besser zur Geltung. Ihre Zahl ist reduziert worden, was ihre Wirkung und damit die Dramatik des ganzen Stückes aber wohl noch steigert.

In der Kreuzigungsszene hat dann auch Maria ihren großen Auftritt. Ihr Text ist jedoch etwas salbungsvoll geraten. Schnell wechselt die Gottesmutter vom Wehklagen um den grausamen Tod ihres Sohnes auf die metaphysische Ebene: „Friede kehrt auch in mein Herz ein. Sieh, Mensch! Das Licht kam in die Welt. Aber du liebtest die Dunkelheit mehr als das Licht. Gott sandte ihn, um durch ihn die Welt zu befreien…“. Hier hätte ich beim „Berserker“ Stückl eine andere Tonlage erwartet, etwa die von Colm Tóibíns Maria, die trocken befindet: „[…] wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war“.

In der letzten Szene erfährt das Publikum durch ein Zwiegespräch zwischen Engel und Maria Magdalena von der Auferstehung Jesu, bevor der Chor schließt: „Halleluja! Überwunden hat der Herr der Hölle Macht!“ Wie das genau aussieht, mag sich jeder selbst vorstellen – ein geschickter Kniff der Theaterleute, der der Plausibilität des Nicht-Gezeigten und damit seinem Eindruck auf die Zuschauer in Zeiten der allgemeinen Säkularisierung wohl zugutekommen dürfte.

Dann ist es vorbei. Rasch machen sich die vielen Zuschauer auf den Weg nach draußen. Den bei gelungenen Theateraufführungen üblichen Verbeugungsreigen unter immer wieder aufbrandendem Applaus gibt es in Oberammergau nicht. Doch ein Wolkenbruch treibt alle zurück unter das Theaterdach. Dann fügt man sich in das Schicksal und tritt durch den nachlassenden Regen den Weg zu den Bussen an. Jeder hat sein Kreuz zu tragen. Aber niemand kommt auf die Idee, „Always look on the bright side of life“ zu singen – immerhin die zentrale Botschaft des zweitwichtigsten Passionsspiels der Welt. Wobei Stückl und sein Ensemble es wohl gelassen nähmen.

Noch bis zum 2. Oktober spielen sie in Oberammergau die Passion. Dann ist für (mindestens) acht Jahre Pause, bevor es in den 30er Jahren wohl wieder zwei Passionen geben wird, steht doch im Jahr 2034 das 400. Jubiläum an. Auf der Rückfahrt rechne ich nach: Wenn ich jetzt nach Oberammergau zöge, könnte ich 2050 erstmals mitspielen. Dann wäre ich 72. Für den Annas würde es noch reichen…

Literatur

Shapiro, James (2001): Oberammergau: The Troubling Story of the World’s Most Famous Passion Play. Vintage.

Bildnachweise

Früher war mehr Farbe. Oberammergauer Passionsspiel 2010. Frederik Mayet als Jesus zwischen Kaiphas und Pilatus. Foto von Roderick Eime auf Flickr (CC BY-ND 2.0)

Blick vom Westen (Osterbichl) auf Oberammergau. Bild: Bjs via Wikimedia commons (CC0)

Christian Stückl bei einer Demonstration in München, 2018. Bild von Henning Schlottmann via Wikimedia commons (CC BY-SA 4.0)

Kindheit in Oberbayern, 2022. Bild: Matthias Lehnert

Dem Himmel so nah. Bild: Matthias Lehnert

Gleich geht es los. Das Passionstheater am 14. Juli 2022. Bild: Matthias Lehnert

14. August 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert