Der Real Alcázar in Sevilla

Warum ich denn eigentlich auf Reisen sei … – Mit Hermann Hesse in Bergamo

Fernweh quälte mich während des Lockdowns. Wie gerne wäre ich gen Süden gefahren! Die mit Kunst und Geschichte gesättigte Landschaft Italiens fehlte mir. Kunst ist Lebensmittel. Das konnte ich in der Coronazeit überdeutlich spüren. Aber ich habe auch über den Sinn und die Folgen des Reisens nachgedacht. Warum ist vielen von uns das Reisen, bei aller Problematik, ein Bedürfnis?

Auch Hermann Hesse kam darüber ins Grübeln, als er 1907 auf einer seiner vielen Italienreisen müde und durchnässt durch eine noch fremde Stadt schlenderte. Hesse liebte den Süden. Als Buchhandelsgehilfe in Basel hatte er jeden Rappen gespart, um seine erste Italienreise zu finanzieren. Die Schriften Goethes und das Werk des Basler Gelehrten Jakob Burckhardt brachten ihm die Kultur des Landes nahe. Italienisch lernte er im Selbststudium. Übrigens hatte er sich eine Art Fundraising zur Aufbesserung seiner Reisekasse ausgedacht: Ausgewählten Sponsoren bot er exklusiv handschriftliche Manuskripte an.

Im Frühjahr 1901 konnte er endlich aufbrechen. Da war er 23 Jahre alt. Der junge Hesse reiste „ganz schlicht und handwerksburschenhaft“, lief weite Strecken zu Fuß oder nahm die dritte Klasse der Bahn. Auch später noch, als er sich mehr Bequemlichkeit hätte leisten können, liebte er diese Einfachheit und Freiheit. Zunächst absolvierte der angehende Schriftsteller ein Bildungsprogramm. Mit dem „Cicerone“ Jacob Burckhardts im Gepäck besuchte er die wichtigen Kunststädte wie Florenz und Venedig. Allmählich aber bahnte er sich eigene Wege und suchte seine Kunsterlebnisse abseits der ausgetretenden Pfade. Zwischen seiner ersten Reise und dem Ersten Weltkrieg war er ungefähr alle zwei Jahre für einige Wochen in Italien unterwegs. Es trieb ihn einfach gen Süden. Warum?

„Wozu das? Warum blieb ich nicht daheim bei Arbeit und Familie? Weil ich ausruhen wollte. Aber ruht man denn auf Reisen aus? Nein. Das hatte ich vorher gewußt, also war ich nicht des Ausruhens willen gereist.“

Auch die Gäste der Thomas-Morus-Akademie wissen, dass sie sich auf Reisen selten ausruhen werden. Natürlich sind wir bildungsbeflissen und möchten Werke berühmter Künstler kennenlernen. Reisen wir deshalb?

Hesse formuliert diesen Gedanken ebenfalls, blickt jedoch tiefer:

„Aber vielleicht um der Kunst willen? Das kam wohl der Wahrheit näher. Ich hatte ein Verlangen gehabt, den Florentiner Dom, das schöne San Miniato, die Bilder des Fra Angelico und die Skulpturen von Donatello wiederzusehen. […] Aus Neugierde nicht, auch nicht um Studien zu machen, denn ich bin weder Historiker noch Künstler, und im Sammeln von Kenntnissen bin ich nie sehr ehrgeizig gewesen. Etwas in mir mußte also hungern und Begierde tragen, wie stände ich sonst hier, hundert Meilen von zu Hause entfernt […]? Welchem Bedürfnis, welcher Not war ich gefolgt?“

Manch einer von uns hat vielleicht während des Lockdowns selbst „gehungert und Begierde getragen“ nach realer Begegnung mit Kunst. Jedenfalls habe ich selbst diesen Hunger verspürt. In der Kunst können wir auf eine ganz besondere Weise Nähe und Ewigkeit erfahren. Hermann Hesse war dafür ungewöhnlich empfänglich. Aber er konnte auch auf poetische Weise begründen, wieso Kunst (in diesem Falle: die Kunst von Florenz) ihn so zu beglücken vermochte, dass er nun auf der Suche nach neuen Eindrücken im Regen in einem ihm unbekannten Städtchen herumschlenderte (in diesem Falle Gubbio):

„Weil ich bei ihrem Anblick gefühlt hatte, daß Arbeit und Hingabe eines Menschen nicht wertlos sind, daß über der bedrückenden Einsamkeit, in der jeder Mensch sein Leben hinlebt, etwas allen Gemeinsames, etwas Begehrenswertes und Köstliches vorhanden ist; daß zu allen Zeiten Hunderte einsam gelitten und gearbeitet haben, um das Sichtbarwerden dieses tröstlichen Gemeinsamen zu fördern. […] Diesen Trost hatte ich gesucht, nichts weiter. Das Wissen um jenes Gemeinsame hatte ich immer gehabt, aber je und je muß man es wieder erleben, muß man wieder mit eigenen Sinnen das Vergangene gegenwärtig, das Entlegene nahe, das Schöne ewig fühlen.“

Damit spricht mir der Dichter aus der Seele und ich folge immer wieder gerne seinen Reiseschilderungen. Er geht nie gleichgültig durch die Gassen italienischer Städtchen. Immer ist er bereit, „Arbeit und Hingabe“ der Menschen zu bemerken. Er schaut genau hin, auch auf die scheinbar belanglosen Dinge. Er fühlt sich allezeit dem „tröstlichen Gemeinsamen“ verbunden.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg besuchte Hesse Bergamo, das nicht weit von der lombardischen Metropole Mailand entfernt liegt. In der hochgelegenen, damals recht verlassenen Altstadt erschien ihm beim Blick in die Ferne „ein lichter froher Punkt im Unendlichen, der weiße Dom von Mailand“. Aber vorher richtet Hesse seinen Blick auf die Kirchen und Paläste der Città alta von Bergamo. Er schlendert über die Piazza, füttert die Löwen Garibaldis und hat keine Lust, die Bibliothek zu besuchen. Er besichtigt die prachtvolle Ausstattung der Kirche Santa Maria Maggiore „und vergißt noch im Gehen das kaum Gesehene“. Fasziniert aber ist er von den feinen Intarsien des Chorgestühls in Santa Maria Maggiore. Dieser „liebevollsten Arbeit“ widmete er mehr als eine Seite, dem barocken Dom hingegen nur einen Satz.

Ich habe Hermann Hesses wunderbare Schilderung Bergamos von 1913 für Sie in meinem Homestudio eingelesen. Fühlen Sie sich herzlich eingeladen, dem Dichter über die Plätze und Gassen zu folgen. Den Podcast finden Sie hier: Mit Hermann Hesse in Bergamo

Wenn Sie mögen, können Sie sich beim Hören diese kleine Diashow mit Impressionen aus Bergamo ansehen:

23. Juli 2021 || ein Beitrag von Dr. Elisabeth Peters, Kunsthistorikerin

Teamleiterin Sandra Gilles

Hinweis: Bergamo erleben

Vom 27. September bis 4. Oktober 2021 (Mo.-Mo.) können Sie mit Frau Dr. Elisabeth Peters und der Thomas-Morus-Akademie nach Bergamo und Brescia reisen. Hier finden Sie weitere Informationen zur Ferienakademie Zwei Städte. Zwei Seen. Bergamo und Brescia. Gardasee und Iseosee

Bildnachweise

Titelbild: Mattia Bericchia auf Unsplash, gemeinfrei

Abbildungen in der Diashow:

Abb. 1 Bergamo – „ein altes italienisches Nest“ (Foto hozinja, CC Attribution 2.0 Generic licence)

Abb. 2 Santa Maria Maggiore – „ein Klang von satter Pracht“ (Foto Steffen Schmitz, Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0)

Abb. 3 Cappella Colleoni – „wunderlich wild verziert und ausstaffiert“ (Foto Steffen Schmitz, Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0)

Abb. 4 Bibliothek – „ich hätte sie ansehen können, wenn ich irgend Lust dazu gehabt hätte“ (Foto Paolo da Reggio, CC Attribution-Share Alike 2.5 Generic u. 1.= Generic)

Abb. 5 Dom und Santa Maria Maggiore – „der Dom, feierlich froh und hell“ (Foto Zairon, CC Attribution-Share Alike 4.0 International license)

Abb. 6 Intarsie des Chorgestühls – „honigfarben, alle vom selben Duft und Altersgold“ (Foto Sailko, CC Attributin 3.0 Imported license)

Abb. 7 Palazzo Terzi – „Ahnung der unendlichen Ferne und Weite des Luftraumes über der Poebene“ (Foto Nazasca, CC Attribution-Share Alike 4.0 International licence)