Unser aller Bruder – Gedanken zu Niklaus von Flüe

Ein kleines großes Land
Am 1. August feiern die Schweizer den „Ewigen Bund“, den die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden 1291 auf dem Rütli geschlossen haben – die Keimzelle der heutigen Schweiz. Vieles hat die Welt der alpinen Eidgenossenschaft zu verdanken. Ob in Literatur, Kunst, Architektur, Design, Sport oder Kulinarik – in allen Bereichen hat das kleine Land Leistungen auf Weltklasseniveau hervorgebracht.

Auf dem Gebiet der Religion ist natürlich die Schweizer Reformation zu nennen, die mit den Namen Johannes Calvin und Huldrych Zwingli verbunden ist. In ihrer Nachfolge steht Karl Barth als einer der großen Theologen des 20. Jahrhunderts. Man könnte vermuten, dass die Heiligenverehrung in diesem Umfeld keine Chance hat. Aber doch haben die Schweizer einen Nationalheiligen, auf den selbst reformierte Pfarrerinnen und Pfarrer gut zu sprechen sind: Niklaus von Flüe. Wie Le Corbusier oder Roger Federer wird auch dieser große Mystiker des ausgehenden Mittelalters weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bewundert und verehrt.

Ein in jeder Hinsicht erfolgreiches Leben
Damit war freilich nicht zu rechnen, als Niklaus im Jahr 1417 knapp 40 km entfernt vom mythischen Gründungsort der Schweiz entfernt geboren wurde. Die von Flües, wie seine Familie allgemein genannt wurde, gehörten zur angesehenen bäuerlichen Mittelschicht im heutigen Kanton Obwalden. Ihre männlichen Mitglieder waren in kirchlichen und öffentlichen Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt. Damit verbunden waren auch militärische Pflichten. So nahm Niklaus als Offizier am Alten Zürichkrieg teil, einem Bürgerkrieg unter den Eidgenossen. Später bekleidete er auch öffentliche Ämter in seiner Heimatgemeinde Sachseln, und gehörte ab 1462 sogar den „Landesvorgesetzten“ an, dem höchsten politischen Führungsgremium des Standes Obwalden. Nach heutigen Maßstäben darf man sich Niklaus von Flüe als erfolgreichen Unternehmer und Politiker vorstellen.

Auch familiär verlief sein Leben glücklich: Er heiratete Dorothee Wyss, die ihrerseits einer angesehenen Obwaldener Bauernfamilie entstammte. Aus der Ehe gingen zehn Kinder hervor, und die Familie bewohnte ein Haus im Flüeli, das noch heute besichtigt werden kann.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Obwaldener den erfahrenen und allseits geachteten Niklaus im Alter von bald 50 Jahren baten, für das Amt des Landammanns zu kandidieren, in dem exekutive und judikative Befugnisse gebündelt waren. Auf unsere heutigen deutschen Verhältnisse übertragen wäre der Landammann zugleich Ministerpräsident und Präsident eines Oberlandesgerichtes.

Existenzielle Krise
Aber Niklaus von Flüe lehnt ab und legt kurz darauf alle politischen Ämter nieder. Von Depressionen und Zweifeln geplagt, zieht er sich auf seinen Hof zurück, unternimmt lange einsame Wanderungen und sucht Rat bei einem örtlichen Priester. Langsam bricht sich nun Bahn, was schon seit vielen Jahren Teil seiner Persönlichkeit war. Bereits als Junge hatte Niklaus Visionen, sah etwa einen großen weißen Turm vor sich in den Himmel wachsen. Der Niklaus-Kenner Roland Gröbli urteilt, „dass in diesen Jahren der langjährige Konflikt zwischen dem erfolgreichen äußeren Lebensweg als Ehemann, Vater, Bauer und Ratsherr und dem inneren Lebensweg als Gottsucher, Fastender und Beter zu einem geradezu gewaltsamen Ausbruch kam und nach einer definitiven Lösung verlangte.“

Diese Lösung kommt über Niklaus von Flüe in Form eines totalen Zusammenbruchs auf einer Wallfahrt. Er durchlebt eine tagelange existenzielle Krise, bricht seine Pilgerschaft ab und kehrt nach Hause zurück. Dort fasst er den Entschluss, die Familie zu verlassen und fortan als Einsiedler im Ranft, einer Hangterrasse unweit seines Wohnhauses zu leben. Zu diesem Zeitpunkt ist sein jüngstes Kind erst wenige Wochen alt. Dennoch billigt Niklaus‘ Frau Dorothee die Entscheidung ihres Mannes. Ohne ihr Einverständnis hätte Niklaus diesen Schritt nicht getan.

Der Einsiedler in der Ranft-Schlucht

Nun nennt er sich „Bruder Klaus“ und lebt getrennt von Frau und Kindern, zunächst in einer Hütte, dann in zwei niedrigen Räumen, die an eine kleine Kapelle angrenzen. Die Legende will es, dass er zwanzig Jahre vor allem in stillem Gebet und ohne Nahrung verbracht habe. So berichtet es auch Hans von Waldheim, ein Kaufmann aus Halle, der im Jahr 1474 auf der Heimreise aus Santiago de Compostela, Station bei Bruder Klaus machte. Er schildert den Einsiedler als genügsamen, aber interessierten Zeitgenossen, der am Leben seiner Mitmenschen regen Anteil nahm.

Ein politischer Mensch
Dass Niklaus von Flüe sich eben nicht völlig der Welt verschloss, ist von entscheidender Bedeutung für seine Mitmenschen und unser heutiges Bild des Heiligen. Immer wieder suchen Nachbarn und Landsleute, aber auch Pilger, Gelehrte und sogar weltliche und kirchliche Herrscher wie der Herzog von Mailand den Rat des Einsiedlers. So wird Niklaus von Flüe zum wichtigen Berater in privaten und politischen Fragen, wie auch zum Vermittler in komplizierten Konflikten.

Besonders hervorzuheben ist seine Rolle als Friedensstifter beim sogenannten „Stanser Verkommnis“, einem im Dezember 1481 geschlossenen Vertrag, mit dem ein langjähriger Streit zwischen den Schweizer Stadt- und Landorten, beigelegt wurde. In der Präambel dieser Übereinkunft, die bis zum Jahr 1798 Bestand haben sollte, danken die Vertragsparteien dem Bruder Klaus für seine „Treue, Mühe und Arbeit“.

Ein Mystiker
Man würde Niklaus von Flüe jedoch nicht gerecht, wenn man ihn auf sein Wirken als politischer Vermittler reduzierte. Niklaus von Flüe wählte das Leben in der Abgeschiedenheit seiner Klause nicht, um sich für Beratungsaufträge der Mächtigen interessant zu machen. Vielmehr folgte er einem inneren Drang, einer Sehnsucht nach Gott und nach der Vollkommenheit des „einig Wesen“. Immer wieder hatte er visionäre Erscheinungen, und gelangte so zu der Einsicht, dass Gott in jedem Partikel gegenwärtig sei – ein Gottesbild, das nicht nur für das 15. Jahrhundert als revolutionär gelten darf.

Mit diesem Gottesverständnis und dem aus ihm gespeisten Leben und Wirken steht Bruder Klaus von Flüe in der Reihe der großen Mystikerinnen und Mystiker wie Meister Eckhart, Teresa von Avila oder der Wolke des Nichtwissens. Seiner tiefen Spiritualität, die gleichermaßen persönlich wie radikal ist, entspringt als wohl wichtigstes Zeugnis das sogenannte „gewohnliche Gebet“, das Bruder Klaus täglich gebetet haben soll:

Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu dir.

Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich führet zu dir.

Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen dir. 

Dieser einfache Text enthält in der Form eines Bittgebets die drei Stufen der mystischen Vereinigung mit Gott zum „einig Wesen“: im „Nimm alles mir“ die Bitte um „Leerwerden“, die Beseitigung aller Ablenkung im Zeitlichen, im „Gib alles mir“ die Bitte um Erleuchtung, um das Erkennen des rechten Weges, und schließlich die Bitte um Vereinigung als dem Ziel, in dem Geben und Nehmen zusammenkommen.

Nach zwanzig Jahren als Einsiedler in der Ranft-Schlucht starb Niklaus von Flüe 1487 in seiner Zelle. Schon bald nach seinem Tod begann die Verehrung des Eremiten, die 1669 zur Selig- und 1947 schließlich zur Heiligsprechung führte.

Bis in unsere Zeit fasziniert Niklaus von Flüe Menschen unterschiedlichster Herkunft als eine Persönlichkeit, die alle weltlichen Errungenschaften ablegte und sich ganz der Gottsuche verschrieb. Die spirituelle Radikalität verbindet sich jedoch mit einem echten Interesse an den Mitmenschen und dem gewaltlosen Einsatz für Frieden und Verständigung. In der Gestalt des Bruder Klaus ist also der oft betonte Gegensatz von „vita activa“ und „vita contemplativa“ auf beispielhafte Weise zu einer harmonischen Einheit verwandelt.

Klaus-Orte
Um einen lebhaften Eindruck von diesem Heiligen und seiner Spiritualität zu gewinnen, empfiehlt sich natürlich ein Besuch im Flüeli, der Gang zum Wohnhaus und dann der Abstieg in die Ranft-Schlucht – nur wenige Minuten, und man ist in einer anderen Welt mit einer archaischen Kraft, die wohl auch den Bruder Klaus geprägt haben mag.

Wunderbar in unsere heutige Zeit übersetzt dies die Feldkapelle, die der berühmte Schweizer Architekt Peter Zumthor bei Mechernich-Wachendorf in der Voreifel auf Initiative der Landwirte Trudel und Hermann-Josef Scheidtweiler erbaute. Zumthor gab mit Blick auf Niklaus von Flüe, dem die Kapelle geweiht ist, einmal zu Protokoll: „Mir gefällt dieser Heilige, geradlinig, ein Typ, der eine Vision verfolgt hat, ein Leben lang und sich nicht von diesem Weg hat abbringen lassen“.

Diese Klarheit und zugleich visionäre Kühnheit wird in der Gestaltung der Feldkapelle augenfällig. Ohne effekthascherisch zu sein, beeindruckt der in der sanft hügeligen Landschaft aufragende monolithische Betonblock. Im Inneren findet man dann einen Raum, der zugleich eng und weit, dunkel und licht, schwer und leicht, einfach und kostbar wirkt.

Die Formensprache verdeutlicht: Die Spiritualität des Bruder Klaus von Flüe ist nicht modern. Sie ist zeitlos. Daher kann man auch sagen: Der heilige Niklaus von Flüe „gehört“ nicht exklusiv einer Nation oder einer Religion. Er ist unser aller Bruder Klaus.

Im Internet gibt es eine ganze Reihe beachtenswerter Materialien zum Bruder Klaus. Hier seien einige ausgewählte vorgestellt:

Im Jubiläumsjahr 2017 hat die Bruder Klausen Stiftung eine gut gemachte Webseite erstellt, auf der sich Bilder, Texte und Videos zu Niklaus von Flüe finden.

Ein interessanter innerer Monolog des Niklaus von Flüe, gesprochen von Claus Theo Gärtner („Matula“, „Ein Fall für Zwei“), wurde anlässlich des 175jährigen Bestehens der Pfarrei Bruder-Klaus in Liestal realisiert. Sie finden diesen hier.

Die Architektur der Bruder Klaus Feldkapelle in Mechernich-Wachendorf wird in diesem kurzen Filmbeitrag des WDR vorgestellt und erläutert.

In einem Beitrag des SWR erläutern Peter Zumthor und das Ehepaar Scheidtweiler ihre Motive bei Planung und Bau der Kapelle.

Bilder
Der Stanser Pfarrer Heini bittet Niklaus von Flüe um Vermittlung zwischen Städtekantonen und Länderorten (Stanser Verkommnis 1481) Darstellung in der Luzerner Chronik von Diebold Schilling. Bild: Wikipedia, gemeinfrei
Das Wohnhaus des Bruder Klaus in Flüeli-Ranft, Gemeinde Sachseln, Schweiz. Bild von Ikiwaner auf Wikipedia (CC BY-SA 3.0) Das älteste Bild von Bruder Klaus (Ausschnitt) von 1492 auf einem Altarflügel der alten Pfarrkirche Sachseln, heute im Museum Bruder Klaus. Bild: Wikipedia, gemeinfrei.
Die obere Ranftkapelle. Bild: Roland Zumbuehl auf Wikimedia (CC BY-SA 3.0)
Bruder Klaus Feldkapelle. Bild von Kenta Mabuchi auf Flickr (CC BY-SA 2.0)
Innenraum der Feldkapelle. Bild von August Fischer auf Flickr (CC BY-ND 2.0)

1. August 2020 || von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent