Buchtipp: Nachhaltig zurück in die Zukunft?
Der Menschheit bleiben nur noch wenige Jahre, um eine katastrophale Klimaerwärmung abzuwenden. Das hat erst kürzlich der Weltklimarat in seinem großen Bericht dargelegt. Um in dieser kurzen Zeit den globalen Treibhausgasausstoß so drastisch zu mindern, wie es die Klimaforscher fordern, bedarf es grundlegender Veränderungen unserer Wirtschaftsweise. Darüber sind sich alle ernstzunehmenden Köpfe einig. Wenngleich die Mehrheit wohl vor allem auf technologische Lösungen wie Elektromobilität und erneuerbare Energien setzt, scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass es ohne einen Wandel der Konsumgewohnheiten in den reichen Industrienationen nicht klappen wird. Wer aber lautstark Begrenzung, Verzicht und Genügsamkeit fordert, dem wird schnell vorgehalten, den Weg zurück ins finstere Mittelalter antreten zu wollen.
In diese Debatte hat sich die Historikerin Annette Kehnel, die an der Universität Mannheim die mittelalterliche Geschichte erforscht, mit einem vielbeachteten Beitrag eingemischt. In ihrem Buch „Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit“ zeigt Kehnel, dass ressourcenschonendes und nachhaltiges Wirtschaften jahrhundertelang nicht eine Nischenveranstaltung von Öko-Träumern war, sondern der Normalmodus ganzer Volkswirtschaften.
Gleich zu Beginn ihrer leichtfüßig geschriebenen Abhandlung macht Kehnel klar, dass sie das Mittelalter nicht nostalgisch verklären möchte. Eine Rückkehr in vergangene Epochen ist für die Historikerin keine Option. Dennoch empfiehlt Kehnel den „Blick zurück“ angesichts der heutigen Herausforderungen: Die Geschichtsschreibung könne zeigen, dass die Menschen einmal ganz selbstverständlich anders gelebt haben und so dem Debattenkiller der „Alternativlosigkeit“ den argumentativen Zahn ziehen. Wer unsere Lebensweise und ihr Grundprinzip des „immer weiter, höher, schneller, mehr“ als alternativlos bezeichnet, kennt schlicht die eigene Geschichte schlecht. Zudem sei der erhellende Blick in die Vergangenheit „gut gegen Zukunftsangst“: „Horizonterweiterung kann helfen, die Angst vor Alternativen abzubauen. Die Vergangenheit hat genau dazu einiges zu bieten“ (S. 50).
Und damit verspricht die Autorin nicht zu viel. In einem munteren Gang durch die Wirtschaftsgeschichte findet Kehnel zu nahezu jeder angesagten Öko-Innovation unserer Tage ein mittelalterliches Pendant: Sharing Economy? Haben die Klöster der großen Mönchsorden schon vor Jahrhunderten sehr erfolgreich betrieben. Letztlich gab es in jedem Konvent eine „Kleiderbörse“, die nachhaltigkeitsbewegte Sharing-Freunde vor Neid erblassen ließe. Urban Gardening? Wurde schon in den Beginenhöfen des Rheinlandes und der Niederlande betrieben, in denen Kehnel Vorläuferinnen heutiger städtischer Wohngemeinschaften erblickt. Und dass Mikrokredite keineswegs eine Erfindung des bengalischen Wirtschaftswissenschaftlers Muhammad Yunus, dürfte vielleicht im Land von Raiffeisen und Schulze-Delitzsch bekannt sein. Dass aber die Geschichte der Kleinkredite bis zu den „montes pietatis“, den „Bergen der Barmherzigkeit, zurückreicht, die reiche Bürger der italienischen Städte im 15. Jahrhundert gründeten, ist eine spannend zu lesende Geschichte. Gleiches gilt für Kehnels Darstellung kommunaler Infrastrukturmaßnahmen, deren Finanzierung sie mit den heute populären Schwarmfinanzierungen („Crowdfunding“) vergleicht.
Kehnel versteht es, den Zoom ihrer Betrachtungen so zu variieren, dass einerseits ausgewählte Beispiele genau in Augenschein genommen werden können, andererseits das große Ganze und die Zusammenhänge nicht aus dem Blick geraten. Ein Höhepunkt ist dabei sicher das kurze Kapitel über den Karlsthron in Aachen, dessen Entstehung in karolingischer Zeit die neuere Forschung bestätigt habe. Karl der Große könnte also auf diesem marmornen Sitz Platz genommen haben. Ob er auch gewusst hat, dass auf der Rückseite seines Throns ein Mühlespielplan eingeritzt ist, da die verwendeten Marmorplatten vermutlich ein „Recyclingprodukt der Inneneinrichtung eines antiken Spielsalons“ waren (S. 175)? Wie dem auch sei, schlagender hätte man nicht belegen können, wie verbreitet die Kreislaufwirtschaft im Mittelalter war. Was in Zeiten von „grünem Punkt“ und „Plastiktütenverbot“ unter Schlagworten wie „cradle to cradle“ und „upcycling“ als Zukunftsstrategie verkauft wird, war im Mittelalter an der Tagesordnung.
Mit ihren lebendig geschriebenen und auch für den geschichtswissenschaftlichen Laien gut verständlichen Darstellungen löst Kehnel den eigenen Anspruch souverän ein. Es verwundert daher nicht, dass ihr Buch sowohl von der Historikerkollegin Lyndal Roper als auch von populären Nachhaltigkeitspromotern wie Eckhart von Hirschhausen und Harald Welzer begeistert aufgenommen wurde. Allerdings sollte der große Zuspruch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kehnel keine „Geschichte der Nachhaltigkeit“ schreibt, auch keine kurze – wie es der Untertitel ihres Buches nahelegt. Passender wäre ihr Beitrag als eine Sammlung kurzer Geschichten nachhaltiger Wirtschaftspraktiken charakterisiert. Eine chronologische Erzählung findet sich bei Kehnel ebenso wenig wie eine systematische Analyse.
Daher bleiben auch nach der Lektüre Fragen offen, was Kehnels Buch nicht als Schwäche anzulasten ist. Gerne würde man von der Historikerin etwa wissen, ob sie bei ihren Streifzügen vielleicht auch auf mittelalterliche Praktiken gestoßen ist, die noch nicht in neuem Gewande wiederentdeckt worden sind, deren Renaissance aber gleichwohl nützlich sein könnte. Das „Strickmuster“ des Buches – ausgehend von heutigen Formen der Nachhaltigkeitswirtschaft mittelalterliche Pendants zu beleuchten – erzeugt zwar erheiternde Aha-Effekte beim Leser, könnte aber gerade vor solchen Phänomenen den Blick verstellen.
Unterbelichtet bleibt auch der Weg aus der Nische zum Alltagsphänomen. Denn obgleich viele Ansätze eines nachhaltigen Wirtschaftens wiederbelebt worden sind, handelt es sich immer noch um vergleichsweise bescheidene Randerscheinungen in einer auf Massenkonsum getrimmten Hochleistungswirtschaft. Dass es Vergleichbares bereits im Mittelalter gegeben hat, ist dabei weniger relevant als die Tatsache, dass es in der damaligen Ökonomie einen ganz anderen Stellenwert hatte. Die entscheidende Frage wäre dann: Wie kommen wir wieder auf ein solches Niveau?
Diese Frage führt den Leser zu einer Leerstelle, die vor allem auf der letzten Station von Kehnels tour d’horizon deutlich wird. Unter der Überschrift „Minimalismus“ führt die Historikerin den antiken kynischen Philosophen Diogenes von Sinope und den mittelalterlichen Heiligen Franz von Assisi gleichermaßen als Gewährsmänner einer Wirtschaftsweise des „weniger ist mehr“ an. Wenngleich der Alttestamentler Bernhard Lang vor einigen Jahren mit der These für Aufsehen sorgte, Jesus sei Anhänger der kynischen Lehre gewesen, führt Kehnels flotte Behauptung „Franziskus von Assisi war der Diogenes des Mittelalters“ (S. 321) wohl in die Irre. Bei allen Parallelen sollte nicht aus dem Blick geraten, dass zwischen den Denkwelten dieser beiden Männer mindestens ein so großer Abstand besteht wie zwischen ihren Lebenswelten.
Welches Denken, so fragt man sich, ist eine hinreichende Grundlage für eine wirkliche Renaissance nachhaltigen Wirtschaftens?
Ist es die antike Philosophie des Provokateurs in der Tonne oder das radikale Christentum des umbrischen Heiligen? Oder sollte vielleicht sogar eine neue Synthese der beiden Gedankengebäude angestrebt werden? Solche Fragen machen deutlich, dass Kehnel keine Ideengeschichte geschrieben hat. Ein Abschnitt über das ökonomischen Denken franziskanischer Mönche wirkt etwas angehängt. Den Weltbildern der Menschen widmet Kehnel vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit, wenngleich sie verschiedentlich auf die Bedeutung der Religion verweist. Indem sie diesem Gedanken aber nicht systematisch nachgeht, droht ihr Nachweis, dass wir in der fernen Vergangenheit einmal anders konnten, recht umstandslos zur Gewähr dafür zu werden, dass wir auch in der nahen Zukunft wieder anders können werden.
Ob es so einfach ist? Zweifel nährt Kehnels abschließende Betrachtung. Hier dreht sie den Spieß gewissermaßen um und schaut mit den Augen unserer mittelalterlichen Vorfahren auf die heutige Überflussgesellschaft. Etwas benommen und betreten fragen uns die Zeitreisenden: „Könnte es sein, dass ihr mit all der Freiheit, die ihr euch erkämpft habt, einfach nicht klarkommt? […] Wir hatten damals die Sünden. Bestimmte Dinge waren einfach verboten, das wurde uns auf den Marktplätzen gepredigt […]. Aber wer predigt bei euch eigentlich?“ (S. 381).
Wenngleich Kehnels These, die Werbung habe den Platz der mittelalterlichen Marktplatzprediger eingenommen, durchaus plausibel erscheint, ist damit die ganze Tragweite des Problems nur angedeutet. Denn: Wie kommen die Prediger auf den Marktplatz? Woher nehmen sie den Stoff ihrer Predigten? Und können sie diesen nicht nur vor dem Hintergrund einer allgemein vorherrschenden Glaubens- und Gedankenwelt erfolgreich vermitteln? Wenn dem so wäre, stünde die Menschheit angesichts der fortschreitenden Säkularisierung vor einer noch gewaltigeren Herausforderung als sie der Weltklimarat beschreibt. Denn dann wären zunächst die geistig-geistlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer Nachhaltigkeitspraktiken wieder zu bedeutsamen Wirtschaftsphänomenen werden könnten.
Auf eine großflächige Renaissance der von Kehnel beschriebenen Praktiken zu hoffen, ohne eine tiefgreifende Veränderung der von ihr nur angedeuteten Denkmuster als deren Voraussetzung einzubeziehen, könnte sich als blauäugig erweisen. Vielleicht sollte sich die Historikerin daher in einem zweiten Buch mit Traditionslinien ökonomischen Denkens befassen, mit seinen Konjunkturen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten von den antiken Kynikern über die mittelalterlichen „Narbonner Schule der Bedürfnisökonomie“ eines Petrus Johannis Olivi und die Sylviacultura oeconomica des Hans Carl von Carlowitz bis hin Konzepten von Gemeinwohl- und Postwachstums-Ökonomie unserer Tage.
Mit ihrem Buch ist Annette Kehnel ein Überraschungserfolg gelungen, der wohl wenigen ihrer Kolleginnen und Kollegen der Mediävistik beschieden sein dürfte. Die besondere Qualität ihres Beitrags besteht in der gleichermaßen engagierten und leichthändigen Darstellung historischer Sachverhalte. Sie machen zuversichtlich, dass es Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell gibt. Wie diese allerdings in recht kurzer Zeit breitenwirksam realisiert werden könnten, lässt die Historikerin offen. In diese Richtung sollten Leserinnen und Leser ihres Buches weiterdenken.
Annette Kehnel: „Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit“
Blessing Verlag, 2021 München
488 Seiten, 24 Euro
Bildnachweis
Scènes de la vie des arrageois au XVIe siècle, Wandgemälde von Charles Hoffbauer im Festsaal des Rathauses von Arras (1932), Bild: Jean-Pol Grandmont via Wikimedia commons (CC BY 4.0)
Mittelaltermarkt im 21. Jahrhundert. Bild von Joergelmann from Pixabay, gemeinfrei
Beginenhof in Amsterdam, Bild: Massimo Catarinella via Wikimedia commons (CC BY 3.0)
Diogenes, Gemälde von John William Waterhouse (1882) via Wikimedia commons, public domain
Franziskus verzichtet auf die irdischen Güter, Fresko von Giotto di Bondone (um 1295) in der Basilika San Francesco in Assisi, Bild von Stefan Diller via Wikimedia commons, gemeinfrei
Der heilige Johannes Capistranus in Belgrad. Darstellung aus
12. April 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert