„Es ist und bleibt viel los in der Demokratiewelt!“
Über die Not und Kreativität der Kulturschaffenden in den letzten Wochen und Monaten haben wir an dieser Stelle bereits ausgiebig berichtet, doch wie sieht es eigentlich aus mit der Arbeit von Vereinen und Initiativen, die sich mit der Förderung unserer demokratischen Kultur beschäftigen? Inwiefern lässt sich diese Arbeit auch online fortsetzen und welchen Einfluss hat der aktuelle Zustand auf die Demokratie in Deutschland aber auch weltweit? Akademiereferentin Julia Steinkamp war darüber im Gespräch mit Anne Hardt vom Verein Democracy International, der sich von Köln aus für partizipative und direkte Demokratie in der EU und weltweit einsetzt.
Liebe Anne, welche Zielsetzung verfolgt Democracy International und wie sieht eure Arbeit im Detail aus?
Democracy International e.V. (DI) ist ein 2011 in Köln gegründeter gemeinnütziger Verein. Hervorgegangen sind wir aus einem Netzwerk von Demokratie-Aktiven, welches sich erfolgreich für die Gründung der Europäischen Bürgerinitiative eingesetzt hat. Seitdem verfolgen wir als Verein das Ziel, Bürger*innenbeteiligung und direkte Demokratie als Ergänzung der repräsentativen Demokratie auf allen politischen Ebenen zu stärken.
Als Konstruktion sui generis ist unser Fokus die Europäische Union (EU). So waren wir maßgeblich an der Überarbeitung der Europäischen Bürgerinitiative und der Transparenzabstimmung im Europäischen Parlament im Jahr 2019 beteiligt. Dank letzterer müssen Europaparlamentarier*innen, die Sonderpositionen innehaben, zum ersten Mal überhaupt ihre Treffen mit Interessensgruppen veröffentlichen. Das war ein toller Erfolg! Für unseren Einsatz wurden wir 2018 sogar mit dem Good Lobby Award als NGO des Jahres ausgezeichnet. Nun hat Kommissionspräsidentin von der Leyen die Konferenz zur Zukunft Europas angekündigt. Daher besteht ein Teil unserer Arbeit darin, sicherzustellen, dass die Bürger*innen Europas, also wir alle, hier eine Stimme erhalten.
Auch auf internationaler Ebene sind wir als wachsender Verein immer mehr tätig. Ein Großteil unserer Arbeit bezieht sich auf Netzwerkbildung und Austausch zwischen Demokratie-Aktiven. Democracy International ist z.B. Hauptorganisator der weltweit größten Konferenz zu partizipativer und direkter Demokratie, dem Global Forum on Modern Direct Democracy. Nachdem letztes Jahr Demokratie-Aktive aus NGOs, Initiativen, Verwaltung, Bildung und Politik für eine Woche in Taiwan zusammentrafen, sollte es dieses Jahr in die Schweiz gehen. Aufgrund der Covid-19-Pandemie mussten wir das Global Forum 2020 leider verschieben. Als dritten Pfeiler setzen wir uns ein für eine aktive Bürger*innengesellschaft. Eine Kultur der Teilhabe will gelernt sein und deshalb gründeten wir 2017 das reisende Gesprächsprojekt für Bürger*innen “European Public Sphere”. Hier laden wir auf Marktplätzen, an Stränden oder in Einkaufsstraßen alle Menschen unter eine große geodätische Kuppel ein. Gemeinsam sprechen wir dann über Europa.
Wie hast du die letzten Monate erlebt und welchen Einfluss haben die getroffenen Maßnahmen auf eure Arbeit?
Die letzten Monate waren für uns alle eine Herausforderung, auch für die Demokratien weltweit. Ein Großteil unserer Arbeit besteht aus Zusammenkünften und Reisen. Der Einfluss war also schnell spürbar. Wir waren alle zwei Monate im Home Office, trauen uns mittlerweile mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen wieder an zwei Tagen pro Woche ins Büro. Viele unserer Projekte konnten nicht stattfinden oder mussten zu digitalen Formaten umgestaltet werden. Während wir z.B. letztes Jahr zu dieser Zeit mit der European Public Sphere schon 15 Städte in vier Ländern besucht hatten, bieten wir in diesem Jahr vereinzelt Online-Diskussionen an.
Bei unseren Partner*innen in Österreich finden seit Kurzem wieder die ersten analogen Treffen unter der Kuppel in Zusammenarbeit mit Fridays for Future statt. Immerhin jeden zweiten Sitz können wir besetzen ohne jemanden zu gefährden. Meine Kollegin Daniela Vancic, unsere European Programme Managerin war sonst viel zwischen Köln und Brüssel unterwegs – jetzt verbringt sie viel Zeit auf Zoom, um sich mit anderen Vereinen zu koordinieren, und kann richtig in Köln ankommen. Als Alternative zum verschobenen Global Forum in Bern machen wir dieses Jahr ein Online Global Forum on Modern Direct Democracy. Das hat natürlich auch viele Vorteile. Mehr Menschen als jemals zuvor aus den unterschiedlichsten Zeitzonen und mit den verschiedensten „Reisebudgets“ haben so die Möglichkeit teilzunehmen. Wir freuen uns und sind gespannt!
Welche Beobachtungen macht euer Team in Bezug auf Entwicklungen der letzten Monate?
Die letzten Monate waren eine wirkliche Demokratie-Achterbahn! Laut einer Studie des schwedischen Instituts V-Dem (Variety of Democracy ) haben 82 Staaten durch Ihre Krisen-Maßnahmen ein mittleres oder sogar hohes Risiko, ihre demokratischen Standards herabzusetzen oder abzuschaffen. Auch der aktuelle Bertelsmann Transformationsindex zeigt: Weltweit ist die Demokratie in Gefahr. 60 von 137 untersuchten Staaten haben in den letzten zehn Jahren ihre Demokratie ausgehöhlt, 58 schränkten ihre Demonstrationsrechte, Meinungs- und Pressefreiheiten sowie Versammlungsrechte ein. Laut den Autor*innen dieses erschreckenden Berichts verstärkt die Corona-Pandemie diese Tendenz noch zusätzlich.
Einige Regierungen haben die schwierige Situation ihrer Bürger*innen bereits für den eigenen, langfristigen Machterhalt ausgenutzt. In manchen Fällen, wie etwa in Ungarn, können diese anti-demokratischen Tendenzen schwerwiegende Folgen auch nach dem Ende der Pandemie haben. Unser Interviewpartner Csaba aus Ungarn schilderte uns, wie der ungarische Präsident Orban sich und seiner Regierung unbeschränkte Entscheidungsbefugnisse eingeräumt hat. Kritischen Stimmen und Opposition drohen durch Einschränkungen der Pressefreiheit erhebliche Strafen. Auch von anderen befreundeten Initiativen hören wir, dass nun die Stunde der Demokratiegegner*innen und Populist*innen geschlagen hat und sie schutzlos den autoritären Bestrebungen ihrer Regierungen ausgeliefert sind. Ungarn ist damit nur eins von 16 Ländern, das die Zeit der Pandemie für Gesetzesänderungen genutzt hat, um kritische Berichterstattung zu limitieren.
Und auch in weniger drastischen Fällen merkten wir, dass unsere Demokratien auf Situationen wie diese schlecht vorbereitet sind und unflexibel agieren. Viele Wahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben oder die Wahlbeteiligung war so niedrig wie noch nie, wie bei den Kommunalwahlen in Frankreich mit unter 50% der Wahlberechtigten. Auch die direkte Demokratie, bei der Bürger*innen sich selbst für ihre Anliegen einsetzen, leidet. Die Unterschriftensammlung für Bürger*innenbegehren oder Europäische Bürger*inneninitiativen, die übrigens immer noch zum großen Teil analog und nicht digital stattfinden muss, war nicht möglich, der Aufschub der Frist oftmals kategorisch ausgeschlossen. Um diese Auswirkungen des Coronavirus auf unsere Demokratien für alle transparent zu machen, haben wir gemeinsam ein Tool entwickelt: den Corona & Democracy Monitor. In Krisensitzungen, Webinaren und Interviews sammeln wir Maßnahmen und bewerten ihre Auswirkungen auf unsere demokratischen Systeme. Eine interaktive Karte klärt in einzelnen Länderberichten über die spezifischen Restriktionen auf. Anfang Juni organisierten wir ein Webinar zu „Wahlen in Zeiten von Corona“. Einig waren sich Clara aus Frankreich, Evgeny aus Russland, Matt aus dem Vereinigten Königreich und die anderen 15 Expert*innen schnell: Möglichkeiten zur Briefwahl oder digitalen Abstimmung sind oftmals schlecht oder überhaupt nicht geregelt. Aber nur mit flexiblen, innovativen Lösungen bleiben Wahlen auch in kritischen Zeiten gerecht und sicher.
Übrigens, eines der wenigen Länder, die ihr Vorgehen per Epidemiegesetz vorbereitet hatten, war die Schweiz – natürlich als Vorreiterin der direkten Demokratie ganz direktdemokratisch in einer der viermal jährlich stattfindenden Volksabstimmungen.
Welche aktuellen Projekte stehen momentan bei euch im Fokus?
Schon immer war unsere Arbeit wichtig, aber selten war sie so zentral wie jetzt! Weitere Webinare und Interviews zu Themen wie Corona & Gewaltenteilung, Corona & Direkte Demokratie sowie Corona & Datenschutz sind dank des Democracy & Corona Monitors schon in Planung. Unser erstes Online Global Forum (die Teilnahme ist übrigens umsonst und steht allen offen) im September rückt näher. Gemeinsam mit weiteren Organisationen läuft die Kampagnenplanung rund um die Konferenz zur Zukunft Europas auf Hochtouren. Diese einmalige Chance müssen wir nutzen und die Stimme(n) der Bürger*innen durch innovative Formate wie Bürger*innenversammlungen einbringen! Auch unser Gesprächsprojekt European Public Sphere freut sich auf die nächsten Reisen. Vor den Kommunalwahlen in NRW im September besuchen wir drei Kölner Schulen. Hier sprechen wir mit jungen Menschen über Demokratie, die Gestaltung unserer Gesellschaft und motivieren sie, zum ersten Mal wählen zu gehen. Über eine durch die Hertie Stiftung geförderte Crowdfunding-Kampagne ab Mitte Juli möchten wir gemeinsam 10 Stationen in Sachsen im Frühsommer 2021 finanzieren. Dazu geht es noch in weitere fünf Länder: Dänemark, Polen, die Tschechische Republik, Rumänien und Bulgarien. Es ist und bleibt viel los in der Demokratiewelt!
Vielleicht haben ja auch die Leser*innen des Blogs Lust, unsere Sachsen-Reise „Sax it Up!“ ab dem 14.7. auf Startnext zu unterstützen…
Vielen Dank für das Gespräch!
Bilder im Beitrag:
Flickr, Democracy International (CC BY-SA 2.0)
3. Juli 2020 || ein Interview von Julia Steinkamp, Projektreferentin