Buchtipp: Ein Sommer-Liebes-Bildungs-Entwicklungsroman

Der 1960 in Detroit geborene Jeffrey Eugenides gilt vielen als Kultautor der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur. Bereits sein erster Roman „Die Selbstmord-Schwestern“ (1993) wurde ein internationaler Erfolg und von Sofia Coppola verfilmt. Für seinen zweiten Roman „Middlesex“ (2002) erhielt Eugenides zahlreiche Ehrungen, darunter den Pulitzer-Preis. Entsprechend groß waren die Erwartungen an den dritten Roman. Eugenides legte ihn nach einer neunjährigen Pause im Oktober 2011 unter dem Titel „The Marriage Plot“ (Titel der deutschen Ausgabe: „Die Liebeshandlung“) vor. Wenngleich das internationale Feuilleton auch dieses über 600 Seiten starke Werk überwiegend positiv aufnahm, gab es auch enttäuschte Stimmen. Zu konventionell erschienen manchem Kritiker Konstruktionsweise und Figurenzeichnung des Romans. Dies sei mit dem Hinweis vorausgeschickt, dass ich die beiden ersten Romane noch nicht gelesen habe, was bei manchen Freunden auf Unverständnis stößt. Aber so konnte ich mich „Der Liebeshandlung“ ganz ohne Erwartungshaltung nähern und die Lektüre unvoreingenommen genießen.

Eine Frau, zwei Männer und der klassische Liebesroman
Trotz seines Umfangs ist die Handlung recht schnell zusammengefasst: Eugenides folgt drei jungen Erwachsenen, die Anfang der 1980er Jahre ihren Abschluss an der elitären Brown University machen (Der Präsidentensohn John F. „John-John“ Kennedy Jr. wäre ihr Kommilitone gewesen, taucht im Buch aber nicht auf): Die Professorentochter Madeleine Hanna liebt die viktorianischen Romane von Jane Austen, George Eliot und den Brontë-Schwestern. Der grübelnde Sinnsucher Mitchell Grammaticus – wie Eugenides Spross einer Familie mit griechischen Wurzeln aus Michigan – liebt Madeleine Hanna. Die aber stürzt sich in eine vertrackte Beziehung mit dem rätselhaften Genie Leonhard Bankhead, in dem manche ein Porträt des vielseitig begabten Schriftstellers David Foster Wallace sehen. Während der zurückgewiesene Mitchell nach dem College durch Europa und bis nach Indien reist, versuchen sich Madeleine und Leonard in der akademischen Welt zu etablieren.

Der Geist der Zeit
Eugenides fängt die Atmosphäre des bildungsbürgerlichen Milieus an der amerikanischen Ostküste der 1970er und 1980er Jahre mit vielen Verweisen auf Musik und Filme der Zeit, wie auch insbesondere mit – durchaus ironischen – Darstellungen der damals angesagten (post)strukturalistisch-dekonstruktivistischen Philosophie ein. Die intellektuell ambitionierte Jugend hört New Wave und liest Derrida, Lyotard, Baudrillard. Sie ist verliebt, verzweifelt, betrunken, begeistert, in Sorge um das eigene Fortkommen und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Eugenides folgt ihr in der Nahaufnahme und aus eigenen Erinnerungen schöpfend und lässt uns dabei teilhaben an glückhaften Bildungserfahrungen, wie sie Mitchell etwa im religionsphilosophischen Kurs des gestrengen Professors Richter erlebt: „Mitchell beobachtete Richters Gründlichkeit, sein Bedauern beim Aufdecken von Irrtümern, seine ungebrochene Begeisterung darüber, dass er bei der Entwirrung jedes einzelnen der etwa zwanzig um den Seminartisch gescharten Köpfe den Vorsitz führte. Dass er die Gehirne dieser Kids funktionstüchtig machte, auch jetzt noch, kurz vor Toresschluss.“ Wir folgen Mitchell nach Europa und bis in Mutter Teresas Leprosenhaus in Kalkutta. Wir erleben Leonards einander abwechselnde Schübe von Manie und Depression und Madeleines teils hilflose, teils entschlossene Reaktionen. Schließlich, soviel sei verraten, lässt uns Eugenides der einzigen Begegnung der Rivalen Mitchell und Leonard beiwohnen, die nicht zum Showdown, sondern zum von gegenseitiger Achtung geprägten Treffen zweier Suchender wird.

Lektionen des Scheiterns
Madeleine, Mitchell und Leonard scheitern auf ihre je eigene Weise und finden so ihren Weg in die Welt, was Eugenides bisweilen komisch, aber auch anrührend aus verschiedenen Perspektiven und mit zahlreichen Rückblenden, aber nicht übermäßig konstruiert erzählt. So hat er einen leichtfüßigen und doch tiefgründigen Sommer-Liebes-Bildungs-Entwicklungsroman geschaffen, über den sein Schriftstellerkollege Daniel Kehlmann begeistert urteilte: „Ein Buch über all die großen Themen: Liebe, Hoffnung, Verzweiflung, Glauben, dazu ein Roman über die Geschichte des Romans, über Abend- und Morgenland, über das Erwachsenwerden, das Denken und das Lesen. Nur Jeffrey Eugenides konnte daraus etwas so schwebend Schönes komponieren, ein so helles, vollkommenes Werk.“

Jeffrey Eugenides: Die Liebeshandlung.
Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt-Verlag. 2011.
624 Seiten

15. Juni 2020 || ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR

Titelbild:
A summer picnic. Foto von Liana Mikah auf Unsplash, gemeinfrei

Beitragsbilder:
Madeleine, Mitchell und Leonard? Nein. „Brown Graduation Classics reception in back of the department: Danielle, me, Stewart“. Foto von Ken Mayer auf Flickr, gemeinfrei (CC BY 2.0). Bildausschnitt.

Jeffrey Eugenides 2011 NBCC Awards 2012. Foto von David Shankbone auf Flickr, gemeinfrei.