Ein Jahr zum Vergessen? Schule neu denken!
Am vergangenen Wochenende (24.-26.9.2021) fand in der Thomas-Morus-Akademie die Fachtagung zum Thema „Mit Montessori in die Zukunft. 60 Jahre Deutsche Montessori-Vereinigung“ statt. Einer der Hauptreferenten war Prof. Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Die Situation der Kinder in der Pandemie war der Hauptfokus seines Beitrags, der aber auch einen Blick auf die Zukunft des Lernens in der Schule warf. Viele Ausführungen sprachen den Montessori-Pädagoginnen und -pädagogen aus dem Herzen und regten anschließend zu zahlreichen Diskussionen an. Wir dokumentieren in einem kleinen Essay den Vortrag, der bei den Teilnehmenden einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat.
Durchschnittlich ein halbes Jahr Lernrückstand
Groß war die Freude von Schulkindern (und ihren Eltern) als sie im Juni endlich wieder komplett in die Schulen durften. Kein Wechselunterricht mehr, kein Homeschooling. Doch ist jetzt wirklich alles wieder gut für die Schülerinnen und Schüler?
Klaus Zierer hat seit Beginn der Schulschließungen intensiv an der Frage geforscht, wie sich Schulschließungen und Distanzunterricht auf Kinder und Jugendliche auswirken. Er ist Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und hat im Rahmen einer Meta-Studie internationale Daten zu den Auswirkungen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ausgewertet. Sein Befund ist eindeutig: Kinder und Jugendliche weisen in allen Bereichen ihrer Persönlichkeitsentfaltung Defizite vor. Am stärksten betroffen sind Lernende aus bildungsfernen Milieus.
Mit Blick auf die Lernleistungen wurden Studien aus den USA, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland. Verglichen wurde jeweils die Lernleistung in normalen Schulzeiten und während der Schulschließung. Die Daten stammen aus dem Frühjahr 2020, als zu Beginn der Pandemie nahezu weltweit Schulen geschlossen wurden. Obwohl sich einzelne Studien in Umfang und Methodik unterschieden, wurde Eines sehr deutlich: alters- und fächerübergreifend fielen alle Schülerinnen und Schüler durch die Schulschließungen signifikant zurück. Ausgewertet wurde die Entwicklung der mathematischen und muttersprachlichen Kompetenz. „Auf ein Schuljahr hochgerechnet entsprach der Rückgang der Lernleistungen durchschnittlich etwa dem Verlust eines halben Jahres. Man muss zudem davon ausgehen, dass sich diese Lernrückstände im Lauf des Schuljahres und mit dem Fortschreiten der Pandemie weiter verstärkt haben“, erklärt Zierer. Dass die Lernrückstände damit größer sind als die Dauer der Schulschließungen selbst, lässt sich auf negative Effekte der sozialen Isolierung zurückführen. „Lernende“, so fasst es Zierer zusammen, „haben in der Einsamkeit häufig auch zu lernen verlernt.“ Besonders die Situation jüngerer Schulkinder alarmiert: teilweise war der Lernzuwachs bei Grundschulkindern im Homeschooling nur halb so hoch wie im Präsenzunterricht. Markant war überdies die Beobachtung, dass sich während des Distanzunterrichts die schon bestehenden Differenzen zwischen Schülerinnen und Schülern in Abhängigkeit zum Leistungsniveau und zum sozio-ökonomischen Hintergrund der Familien vergrößerten. „Lernende, die bereits vor der Pandemie schlechtere Lernleistungen erbrachten, waren ebenso stärker betroffen wir Lernende, die in einem sozialen Brennpunkt aufwachsen“, erklärt Zierer.
Weltweite Zunahme an psychischen Beeinträchtigungen
Mit Blick auf die psycho-soziale Entwicklung liefern internationale Studien ein einhelliges Urteil: Ängste, Depressionen, Einsamkeit, Gereiztheit, Einschlafprobleme, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit, Bauchschmerzen und Nervosität haben im Vergleich zu Erhebungen aus den früheren Jahren in allen Altersgruppen deutlich zugenommen. „Wer sozial isoliert wird, keine Kontakte mehr hat, Freunde nicht mehr treffen kann und ständig Abstand halten muss, hat schwierige Voraussetzungen, um sich gesund entwickeln zu können“, resümiert Zierer die Datenlage. Bemerkenswert ist auch in diesem Kontext, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus stärker unter den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gelitten haben. „Die Corona-Krise“, so schlussfolgert Zierer, „hat zu einer Verschärfung von Bildungsungerechtigkeit geführt.“
Körperliche Verfassung angezählt
Mit Blick auf die körperliche Verfassung lässt sich an der internationalen Datenlage zwar erkennen, dass Kinder und Jugendliche während der Pandemie nicht weniger Zeit im Freien verbrachten, aber doch weniger systematisches Training wie in Sportvereinen hatten und zudem die Bildschirmzeiten bedingt durch die Schulschließungen gestiegen sind. „Wer bis zu neun Stunden am Tag vor den Rechnern sitzt, der hat keine Zeit mehr für Bewegung“, erklärt Zierer das Problem, „die Folge ist eine Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit und eine Zunahme des Körpergewichts.“ Auch hier sind die Effekte in bildungsfernen Milieus größer, was erneut die Frage der Bildungsgerechtigkeit ins Zentrum rückt.
Droht eine Bildungskatastrophe? Bildungspolitik muss entschlossen handeln
Nimmt man die genannten Aspekte zusammen, so zeigt sich, dass gerade in der Bildung von Kindern und Jugendlichen Kollateralschäden der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie festzustellen sind. „Wenn wir bedenken“, so bringt es Zierer auf den Punkt, „dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft und Bildungsniveau ebenso besteht wie zwischen Demokratiefähigkeit und Bildungsniveau, dann ist es höchste Zeit, dass bildungspolitisch entschlossen gehandelt wird.“ Seiner Meinung nach reicht es nicht aus, dass in den Ministerien lediglich virologisch argumentiert wird und Schulen nur verwaltet werden. Vielmehr fordert der Wissenschaftler: „Um eine Krise zu bewältigen, bedarf es eines pädagogischen Masterplans. Schule und Bildung muss neu gedacht werden.“ Konkret fordert er zum Beispiel eine längst überfällige Lehrplanreform, die bestehende Curricula neugewichtet und entrümpelt, die Implementation von Maßnahmen zur individuellen Förderung, beispielsweise durch Sommerschulen auf höchsten Niveau und nicht als Beschäftigungstherapie, die Stärkung der Elternkooperation und eine Digitalisierung im Bildungsbereich mit Augenmaß, damit nicht viel Technik angeschafft wird, ohne sinnvoll eingesetzt zu werden. „Wie sich Schulschließungen auswirken, hängt stark von der jeweiligen Schule und der familiären Situation ab“, sagt Zierer und macht damit deutlich, dass es durchaus Schulen und auch Familien gab, die in der Krise über sich hinausgewachsen sind. „Aber es ist die bildungspolitische Verantwortung, dass flächendeckend alle Kinder und Jugendliche die Chance haben, einigermaßen unbeschadet durch die Krise zu kommen. Kein Kind darf zurückgelassen werden.“
In seinem neuen Buch „Ein Jahr zum Vergessen. Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern“ stellt er neben den Forschungsergebnissen auch weiterführende Lösungsansätze vor und entwickelt eine Vision, um Schule und Bildung neu zu denken. Darin lenkt er den Fokus auf die Freude: „Freude ist der Motor des Lernens, der Bildung und des Lebens“, sagt Zierer, „und es ist höchste Zeit, sie als Leitmotiv in der Schule zu verankern, damit die um sich greifende pädagogische Klimakrise bewältigt werden kann.“
28. September 2021 || ein Beitrag von Prof. Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik, Universität Augsburg