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Zum 100. Todestag Franz Kafkas: Besuch im Sterbehaus

Vielleicht war mein Wunsch ziemlich unzeitgemäß: Den Sterbeort eines Schriftstellers mit eigenen Augen sehen zu wollen. Heutzutage erlauben Fotos und Videos in hoher Auflösung ohnehin jedem, jederzeit allerorten herumzuspazieren – rein virtuell jedenfalls. Warum also an den Ort reisen, an dem Franz Kafka am 3. Juni 1924 starb? Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin nicht so sentimental, dass ich einen Fliederzweig oder eine Pfingstrose auf der Schwelle des Sterbehauses hätte niederlegen mögen. Obwohl Kafka Blumen liebte und sich auch noch in seinen letzten Tagen um den Durst seiner Schnittblumen sorgte. Er, der wegen seiner fortgeschrittenen Kehlkopftuberkulose nur noch unter quälenden Schmerzen schlucken konnte und ständig durstig war. „Das Schlimmste ist, daß ich nicht ein einziges Glas Wasser zu mir nehmen kann, ein wenig sättigt man sich auch an dem Verlangen.“

Kafka war sterbenskrank, als er sein Einzelzimmer im zweiten Stock des privaten Sanatoriums Dr. Hoffman in Kierling bezog. Dieser kleine Ort in der Nähe von Wien wirkt so fremd und zufällig in der Biographie Kafkas, dass ich mir selbst ein Bild machen wollte.

Kafka in Prag

So hatte ich es bereits in Prag gehalten, wo Kafka 1883 geboren wurde. Ich wanderte kreuz und quer durch die Stadt, vorbei an den verschiedenen Wohnungen der Familie und den Standorten des väterlichen Geschäftes für Galanteriewaren. Der Radius des äußeren Lebens dieses weltweit rezipierten Autors blieb klein. Auch als Kafka nach seinem Jurastudium im Büro einer Versicherungsanstalt arbeitete, wohnte er immer noch bei den Eltern. Er litt unter der familiären Geschäftigkeit im „Hauptquartier des Lärms“, die ihn am Schreiben hinderte. Seine Lieblingsschwester Ottla stellte ihrem Bruder für die Nachmittags- und Abendstunden ein von ihr gemietetes Zimmer im Goldenen Gässchen der Prager Burg zur Verfügung. Im heutigen Touristenrummel ist schwer vorstellbar, dass er hier die ersehnte Ruhe für seine eigentliche, die schriftstellerische Arbeit fand. Schließlich konnte Kafka sogar eine erste eigene Bleibe im Schönbornpalais unterhalb der Prager Burg beziehen. Dort aber erlitt er in der Nacht zum 11. August 1917 einen ersten Blutsturz.

Kafka und seine Krankheit

Kafka verstand die dann diagnostizierte Lungentuberkulose als „Verstärkung des allgemeinen Todeskeimes“. Seine Hoffnung auf ein eigenständiges, von der Familie unabhängiges Leben schwand. Erst 1923, im Jahr vor seinem Tod, gelang Kafka der Ausbruch aus dem engen Prager Umfeld. In Müritz an der Ostsee hatte er die junge Dora Diamant kennengelernt. Mit ihr zog er nach Berlin. Es war wie eine Flucht. Trotz galoppierender Inflation und seiner schnell fortschreitenden Krankheit scheint Kafka in Berlin-Steglitz glücklich gewesen zu sein. Als sich sein Gesundheitszustand jedoch weiterhin rapide verschlechterte, was mit ständigem Fieber, Husten und Auswurf verbunden war, schickte die alarmierte Familie Kafkas Onkel Siegfried Löwy nach Berlin. Der „Landarzt“ verfügte eine baldige Übersiedelung seines Neffen in ein Sanatorium. Kafka und Dora Diamant nahmen vorerst Abschied. Sein Freund Max Brod begleitete ihn nach Prag, da er alleine nicht mehr reisefähig war. Nach einem kurzen Aufenthalt bei der Familie sollte es eigentlich in die Schweiz gehen, vermutlich nach Davos. Möglicherweise scheiterte dieser Plan an den notwendigen Ausreisepapieren. Stattdessen fiel die Wahl auf das Sanatorium „Wienerwald“ bei Pernitz in Niederösterreich. Löwy kannte einen der beiden leitenden Ärzte. Man versprach sich Protektion und einen Rabatt auf die Behandlungskosten. Kafka verließ Prag in Richtung Österreich. Er sollte seine Heimatstadt nie wiedersehen.

Kafka in Österreich

Vom Sanatorium „Wienerwald“ wurde Kafka bald wegen seiner nun endlich diagnostizierten Kehlkopftuberkulose ins Allgemeine Krankenhaus nach Wien überwiesen, wo er es aber nicht lange aushielt. Im Mehrbettzimmer musste er dem elenden Sterben eines Mitpatienten zusehen. Dora Diamant durfte ihn nur zwei Stunden täglich besuchen. Auf eigenen Wunsch wurde Kafka angeblich „in häusliche Pflege entlassen“. In Wahrheit übersiedelte er in das „Sanatorium Dr. Hoffmann“. In dem heute noch erhaltenen Gebäude an der Kierlinger Hauptstraße Nr. 187 richtete die Österreichische Franz-Kafka-Gesellschaft 1983 einen Gedenkraum ein. Den wollte ich mir ansehen.

Das Sanatorium in Kierling

Vom Zentrum Wiens nahm ich die U 4 nach Heiligenstadt. Dort kam mir ganz kurz Beethoven in den Sinn, der dort sein „Heiligenstädter Testament“ verfasste. Vor allem aber dachte ich an Beethovens Konversationshefte, in die der taube Komponist seine Gesprächspartner schreiben ließ. Der Schriftsteller Kafka musste in Kierling Gesprächszettel nutzen, da seine Kehlkopferkrankung ihn fast hatte verstummen lassen. Ein Bus brachte mich, vorbei an der prächtigen Abtei Klosterneuburg, nach Kierling. Ganz in der Nähe des ehemaligen Sanatoriums stieg ich aus und war erst einmal arg enttäuscht. Ich hatte ein Dorf erwartet. Oder zumindest einen Rest dörflichen Charakters, vielleicht sogar mit dem morbiden Charme eines einstigen k.u.k. Luftkurortes. Das Sanatorium selbst wirkt fast unverändert: Ein schlichtes, aber stattliches Gebäude, traufständig an der viel befahrenen Durchgangsstraße. Aber gleich gegenüber waren kürzlich mehrgeschossige Wohnungen errichtet worden. Unmittelbar neben dem ehemaligen Sanatorium drängt eine Supermarktfiliale ihren großen nackten Parkplatz dem Auge auf. Ich wandte mich ab und klingelte bei der Franz-Kafka-Gesellschaft. Die braun gestrichene Haustür mit ihrem schönen schmiedeeisernen Blumenschmuck im Jugendstil öffnete sich. Den Hausflur betrat ich lesend: „Salve“ war in schwarzen Buchstaben in den Terrazzofußboden eingelegt. Und „1901“. In diesem Jahr erfolgte der Ausbau des Hauses, in dessen Erdgeschoss Dr. Hoffmann seit langem seine Praxis betrieb, zum Sanatorium. Dr. Hoffman war lediglich praktischer Arzt. Spezialisten wurden eigens nach Kierling zu den Kranken gerufen. Die technische Ausstattung des Sanatoriums beschränkte sich auf einen Inhalationsapparat und eine Höhensonne. Aber hier konnte Kafka zur Ruhe kommen. Am 19. April 1924 traf er in Kierling ein. Dora Diamant bezog eine Kammer unter dem Dach und durfte ihren Geliebten nun ständig umsorgen.

Der Gedenkraum

Im Treppenhaus bewunderte ich das original erhaltene schmiedeeiserne Geländer. Schließlich stand ich vor der Wohnungstür des „Gedenkraumes“, der nicht in der ursprünglichen Krankenstube Kafkas eingerichtet werden konnte. Aber das ist sicher nicht der Grund dafür, dass man auf die weihevolle Inszenierung eines authentischen Sterbezimmers verzichtet hat. Der Besucher betritt den Gedenkraum als Leser, nicht als Pilger oder gar als Voyeur. Texttafeln zeichnen die Biographie Kafkas nach. Faksimiles von Krankenakten informieren über seinen Zustand. Ein Eisenbett, eine Pinselspritze zur Betäubung des Kehlkopfes oder ein Kehlkopfspiegel machen die Krankheit anschaulich, taugen aber nicht zur Reliquie. Der Gedenkraum wurde 2014 nach einem Ausstellungskonzept der Psychotherapeutin Charlotte Spitzer vom Wiener Designer Michael Balgavy neu gestaltet. Didaktische Hilfsmittel sind an solch einem Ort sicher wichtig. Tafeln, Vitrinen und Bücherregale behaupten zu Recht ihren Platz.

Fasziniert war ich aber vom künstlerisch-spielerischen Charakter zweier Objekte, die die Fantasie des Besuchers ansprechen. Da ist zum einen der „Zettellüster“. Dabei handelt es sich um eine Art literarischen Kronleuchter. Eine schlichte Lampe wurde mit Faksimiles von Kafkas Gesprächszetteln bestückt. Sie beleuchtet die wegen der verordneten Schweigekur zur Schonung des angegriffenen Kehlkopfes nicht mehr gesprochenen Dialoge. Es sind mitunter anrührende Gesprächsfetzen, die so am Sterbeort Kafkas in der Schwebe gehalten werden.  „So geht die Hilfe wieder ohne zu helfen weg“ schrieb der Todkranke. Oder „Ein Vogel war im Zimmer.“ Kommunikation blieb ihm wichtig, auch wenn die umfangreiche Korrespondenz letztlich größtenteils von Dora Diamant erledigt werden musste. Kafka korrigierte noch auf dem Sterbebett Druckfahnen und er las den Verdi-Roman Franz Werfels. „Mit Büchern und Heften spielen macht mich glücklich“.

Das zweite künstlerische Element im Kierlinger Gedenkraum, das meine Aufmerksamkeit fesselte, war eine Tür. Ein Kassettentüre, so wie die übrigen in der Wohnung. Allerdings im Miniaturformat. Man kann sie nicht öffnen, geschweige denn hindurchgehen. Es handelt sich eher um das ironische Zitat einer Tür. Scheintüren kennen wir aus der antiken Grabmalskunst. Aber hier ist wohl etwas anderes gemeint: Die Tür zum Gedenkraum kann jedermann öffnen. Die enge Tür ins Innenleben (des Autors oder des Lesers?) lässt sich hingegen nicht beherzt durchschreiten. Vielleicht bleibt sie verschlossen. Manch einer sehnt sich nach letzten Worten, letztgültigen Erkenntnissen oder einer Botschaft, die man vom Sterbeort eines großen Schriftstellers mitnehmen könnte. Aber man täte besser daran, einen Text Kafkas zur Hand zu nehmen: „Niemand dringt hier durch und gar nicht mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.“

Tipp: Ein sehr hörenswerter Podcast der Österreichischen Franz-Kafka-Gesellschaft zeichnet „Kafkas letzte Tage“ in Kierling, jeweils genau im Abstand von 100 Jahren, in etwa fünfminütigen Beiträgen nach.

alle Bilder: © Elisabeth Peters

3. Juni 2024 || ein Beitrag von Dr. Elisabeth Peters, Kunsthistorikerin, Bonn

25. bis 31. Oktober 2024 (Fr.-Do.)
Literarisches Prag
Zum 100. Todestag von Franz Kafka

Dr. Elisabeth Peters reist mit Ihnen nach Prag. „Prag läßt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen“, schrieb der 1883 in Prag geborene Frank Kafka einmal. 100 Jahre nach seinem Tod wird 2024 mit vielen Veranstaltungen das Kafka-Jahr begangen, welches auch diese Reise prägen wird. Seitenblicke auf tschechischsprachige Prager Literaturschaffende werden dabei ebenso nicht fehlen.