Sommerreihe in unserem Blog

Eine machtvolle Erscheinung – Der Moses von Michelangelo

Was für eine Präsenz! Dabei ist der 2,35 m große Marmorkoloss in San Pietro in Vincoli in Rom nur ein Teil eines Ensembles aus insgesamt sieben Figuren, die sich großzügig auf zwei Etagen verteilt in einer opulenten architektonischen Konstruktion finden. Und dies ist nur die kleine Variante, die ursprüngliche Idee war ein freistehendes Mausoleum von acht Metern Höhe, bevölkert von 40 bis 50 Figuren.

Was ist passiert?

Es handelt sich um ein Grabmal, um genau zu sein um den Kenotaph Papst Julius II. Michelangelo Buonarotti erhielt den prestigevollen und exzellent bezahlten Auftrag 1505 im Alter von 30 Jahren, eine große Ehre, die ihn dazu veranlasste, dem Ruf sofort zu folgen und von Florenz nach Rom aufzubrechen. Womöglich führte nicht zuletzt dieses glanzvolle Projekt für den amtierenden Papst zu des Künstlers immer rascher wachsenden Erfolg. Viele neue Aufträge folgten, einer prachtvoller als der andere. Und das wurde dem Juliusgrabmal sozusagen zum Verhängnis. Nicht nur brauchte der Meister 40 Jahre für die Vollendung des Monuments, die Entwürfe mussten auch ständig angepasst werden. „Ganz nebenbei“ entstanden künstlerische Glanzpunkte wie die Sixtinische Kapellendecke in Rom, das ebenfalls dort befindliche Jüngste Gericht, die Medici-Grabmäler in San Lorenzo in Florenz und die Kuppel des Petersdoms. Dieser Konkurrenz musste sich die Bearbeitung des Juliusgrabmales beugen, und so wurde es im Laufe der Jahre immer kleiner und bescheidener.

Diese Vorgeschichte erklärt dem Betrachter einiges über die Rolle des Moses. Er stellt nicht nur alle anderen Begleitfiguren in den Schatten, sondern läuft sogar der eigentlichen Hauptperson, Papst Julius II selbst, den Rang ab. Das liegt schon allein an seiner Größe, die noch auf den ursprünglichen Entwurf zurückgeht, zu dem sie besser gepasst hätte.

Michelangelo-Rom-Mose-Italien-Akademie in den Häusern

Es handelt sich bei dem Moses um die einzige Figur, die zweifelsfrei und vollständig dem Meister selbst zugeschrieben werden kann. Und seine Version des Propheten, der die Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei führte, das rote Meer teilte und die Gesetzestafeln vom Berg Sinai herunter brachte, braucht eigentlich nur sich selbst. Er wirkt am besten allein und erzählt so am deutlichsten seine Geschichte. Jede Figur, so meinte Michelangelo, befindet sich bereits im Stein und muss nur von allem überflüssigem Material befreit werden. Und genauso sieht sein Moses auch aus. Er scheint der echte, lebendige Prophet selbst zu sein, der – gewissermaßen umgekehrt gedacht – hier zu Stein geworden erscheint.

Diese Echtheit findet sich in jedem Detail von den Zehenspitzen bis zur Stirn, eigentlich zu den Hörnern, die aus einer Übersetzungsproblematik entstanden einige Zeit statt der eigentlich gemeinten Strahlen dargestellt wurden. Die Muskulosität der Anatomie, die Spannung der Körperhaltung, die Stofflichkeit der Kleidung, die Weichheit des Bartes, jedes Detail scheint Lebendigkeit zu atmen. Die Zehn Gebote klemmen noch unter dem rechten Arm, doch offenbaren die Wendung von Oberkörper und Kopf, sowie die gerunzelte Stirn einen zutiefst erregten Gemütszustand. Wurde er gerade Zeuge des Götzendienstes am Goldenen Kalb? Wird er in seiner Wut nicht jeden Augenblick aufspringen und die Gesetzestafeln zerschlagen?

Die Figur des Moses ist ein Beispiel mehr für Michelangelos meisterhafte Fähigkeit, Figuren Leben einzuhauchen. So hat er nicht nur Julius II ein Monument zu seiner Ehre und Erinnerung geschaffen, er hat auch sich selbst wieder einmal ein Denkmal gesetzt.

In den Sommerferien reist Akademiereferentin Judith Graefe mit ihrer Familie durch Italien. Ihre Reise verspricht unvergessliche Erlebnisse von Norden bis Süden. Für den Blog der Akademie schreibt sie von prächtigen Kunstwerken, historischer Spurensuche und unentdeckten Orten. Heute ist sie in Rom angekommen und besichtigt die Basilika San Pietro in Vincoli mit einer großen Berühmtheit: Die Moses Statue von Michelangelo.

In unserem Blog können Sie ihre Reise miterleben. Los ging es in Sterzing, weiter nach Pisa, dann nach Rom, zum Schluss über Pompeji zurück ins Rheinland.


Bildnachweis:
Michelangelo, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

20. Juli 2022 || ein Beitrag von Judith Graefe, Akademiereferentin Erkundungen