Hans Krása – Von der Prager Bohème ins KZ
Hans Krása und das Prager Milieu nach 1900
Als Erbe der K.u.K.-Zeit bleibt die deutsch-österreichische Kultur in Prag bis weit nach 1917 dominant: Dichter wie Rilke oder Kafka gehören zum Kern des künstlerischen Lebens, ebenso wie die deutsche Lokalpresse (Prager Tagblatt, Prager Abendblatt), Kritiker wie Max Brod, die Aufführungen im Neuen Deutschen Theater, die akademische Lehre an der Deutschen Universität, dazu die willkommenen Einflüsse aus München und Wien (Der Blaue Reiter, G. Mahler, A. Schönberg). Gleichzeitig entwickelt sich, vor allem seit der Gründung des Tschechischen Nationaltheaters im 19. Jahrhundert, die tschechische Kunst, insbesondere das Musiktheater aus dem Erbe von B. Smetana.
Deutsche und tschechische Künstler begegnen sich unverkrampft und schaffen in Prag eine lebendige Kultur, und seit der Staatsgründung 1918 unter Masaryk öffnet sich der Geist auch in Richtung Pariser Moderne.
Verschiedene deutsche Institutionen tragen zur Verbreitung europäischer Kultur bei: der Deutsche Kammermusikverein ermöglicht Aufführungen von Werken der klassischen Moderne wie auch von Musik einheimischer Komponisten wie Schulhoff, Ullmann oder Krása. F. Weingarten und A. von Zemlinsky leiten einen Riesenchor bei Aufführungen der Bach-Passionen oder der 9. Beethoven-Symphonie im Neuen Deut-schen Theater. An der Deutschen Universität und der Deutschen Akademie für Musik und darstellende Kunst (Leitung A. von Zemlinsky) wird Musikgeschichte (z.B. Hindemith, Ravel, Martinu) und Komposition gelehrt. Hans Krása gehört zur Prager Avantgarde nach dem Weltkrieg und neigt dazu, in der Musik eine pessimistische Botschaft zu vermitteln, der Tugend der Dekonstruktion zu frönen, sich von jeglichen Nachwehen der Spätromantik (R. Strauss) zu distanzieren, ja sich bis in die Groteske zu steigern.
Neues Deutsches Theater – alte Postkarte ( © prager-literaturhaus.com)
Familie und Jugendzeit
Hans Krása wird am 30.November 1899 in Prag geboren und wächst mit drei Schwestern in einem wohlhabenden jüdischen Milieu auf. Sein Vater führt ein florierendes Anwaltsbüro und entstammt der tschechischen Kultur. Die deutsche Kultur und die Liebe zu Kunst und Literatur wird ihm von seiner Mutter vermittelt. Im Haus stehen zwei Flügel, Hans spielt mit seiner Schwester Marie 4-händig und beginnt mit 11 Jahren zu komponieren: Ein frühes Streichquartett wird – von seinem Vater während des Sommerurlaubs eingefädelt – in St. Moritz von den Salon-Musikern aufgeführt.
Als Jugendlicher studiert er privat bei A. von Zemlinsky und begeistert sich für Mahler und Schönberg. Mit 22 Jahren erlebt Krása die erste öffentliche Aufführung eines Werks im Neuen Deutschen Theater unter seinem Lehrer, der 4 Orchesterlieder op. 1 (nach Christian Morgenstern).
Entsprechend der expressionistischen Groteske der Texte überrascht die Musik mit einer neuartigen Behandlung des großen Orchesters. Die Instrumente werden sparsam und einzeln eingesetzt, selten erklingt der große Gesamtkörper, dafür bringt Krása witzige Motive, ppp-Effekte, Glissandi, Tritoni und Nonenakkorde. Max Brod nennt das Werk „Orchestergrotesken“ und meint im „Prager Tagblatt“, Krása sei ein „Sucher des neuen Tons“ und unterstreicht gleichzeitig den Nachhall von Debussy und Zemlinsky.
Gleich danach entsteht Krásas Streichquartett op. 2, ein Ausdruck düsterer Weltsicht, wo sich meditative Lyrik und groteske Einfälle ablösen. Die Themen-Behandlung zeigt zu Beginn viele Tritoni und schleifende Wellenlinien mit kleinen Sekunden („Moderato“). Im zweiten Teil erklingt eine Parodie auf Smetanas Ouvertüre der „Verkauften Braut“, zudem häufen sich Motive in Sexten-Parallelen und penetrante Abwärtsglissandi. Wie schon im op. 1 zieht Krása hier dem satten Klang den dünnen Sound vor (s. als Vergleich Anton Webern) und das Werk verklingt im Pianissimo wie ein Verstummen im Nebel.
1923 reist Krása nach Paris, studiert bei Albert Roussel und knüpft Kontakte zu den Komponisten der Groupe des Six, besonders zu Darius Milhaud. Die Aufführung seines Streichquartetts bei einem Gala-Empfang im Mai erzeugt Erstaunen und stößt auf großes Echo in der „Revue Musicale“. Der junge Tscheche fühlt sich ermutigt und schreitet zur großen Geste: der Symphonie für kleines Orchester, die vorerst nur aus 2 Sätzen besteht: Im Einleitungssatz – „Pastorale“ überschrieben – erklingt das kurze Hauptthema mit Arpeggien-Unterstützung der Harfe in der Flöte, ein Thema, das in späteren Werken wieder auftauchen wird: zuerst filigran eingestreut wird es impressionistisch untermalt, dann plötzlich mit grotesken Trompeten-Staccati wiederholt und zuletzt von wilden Klarinetten-Arpeggien umspült.
Im 2. Satz („Marsch“) paart Krása die punktierten Triolen mit Trommelrauschen, dazu bizarre Cello-Pizzicati, Fagotten-Sprenkel und Pfeif-Intermezzi der Piccoloflöte. Die Sprödigkeit dieser Variationen lässt unweigerlich an Strawinsky denken. Der 3. Satz (erst viel später vollendet) über einen Rimbaud-Text erinnert in seinem Sprechgesang-Charakter an Schönberg, nur dass Krása die expressionistische Tragik hier in schwarzen Humor ummünzt. Krásas Symphonie wird in Paris vielfältig gewürdigt und in Beziehung zur „Groupe des Six“ gesetzt.
Zurück in Prag wendet sich unser Komponist wieder der Lyrik zu und vertont Texte von Rilke, Morgenstern und Volkweisen. Seine Fünf Lieder op. 4 für mittlere Stimme und Klavier erklingen 1926 im Mozarteum in Prag und finden großen Anklang, ebenso andernorts die Symphonie (am IGNM-Festival Zürich und in Boston, unter Koussevitzky), dann 1927 in Prag mit der Tschechischen Philharmonie unter Zemlinsky.
In dieser Zeit gesellt sich Krása zu den Intellektuellen um die Redaktion des „Prager Tagblatts“: Man trifft sich beim Verlag, danach geht es auf Streifzügen durch die Nachtlokale. Krása gilt als Bohémien und in den literarischen Cafés (z.B. im „Arco“) trifft er u.a. Franz Kafka und Milena Jesenska, die Muse dieses Kreises. In Kafkas „Briefe an Milena“ taucht ab und zu Krásas Name auf.
Prag: Café ARCO 1907 (© Vitalis)
Als Bewunderer der Werke Dostojewskijs (dessen Antisemitismus ihn nicht sonderlich zu stören scheint) denkt Krása ab 1928 an eine Oper, und innerhalb von 2 Jahren entsteht ein auf der Novelle „Onkelchens Traum“ basierendes Bühnenwerk: Die Verlobung im Traum. Viktor Ullmann (sein späterer Schicksalsgenosse in Theresienstadt) zeigt sich vom Entwurf beeindruckt, doch die Presse ist nach der Prager Uraufführung von 1933 (unter G. Szell) gespalten: Max Brod unterstreicht die Qualität der „prägnanten Thematik“, ein anderer Kritiker hält fest: „Seine musikalischen Gedanken haben einen sehr persönlichen Ausdruck und charakterisieren die einzelnen Personen treffend.“ Er lobt den „rhythmischen und klanglichen Elan“, die „Kom-promisslosigkeit bei der Wahl der Mittel“. Im Selbstkommentar gesteht der Komponist den Einfluss Schönbergs, will die Oper aber als Gesang verstanden wissen, mit zugänglicher Melodik, also gegen die mathema-tische Reihentechnik. Ein für Verrisse bekannter Journalist bekrittelt Krásas „Beliebigkeit und Desorientiertheit“, seine „blutarme Invention“ usw.
Die Oper wird über den Rundfunk ausgestrahlt und mit dem tschechischen Staatspreis ausgezeichnet. Danach verschwindet sie im Laufe des politischen Umbruchs in der Versenkung, bis zu ihrer Wiederentdeckung 1994 in Prag und vielen Aufführungen weltweit.
In Krásas letzten Prager-Jahren vor der Deportation entstehen 1936 noch zwei bedeutende Kammermusikwerke: das Thema mit Variationen für Streichquartett – das erst in Theresienstadt zur Aufführung gelangen wird – basiert auf einem gesanglichen Dur-Thema, dessen Variationen einen besinnlichen, fast romantisch-melancholischen Grundton aufweisen.
Thema mit Variationen: 1. Vl. Anfang (aus Blanka Cervinkova, Hans Krasa, Leben und Werk)
Nichts hindert Krása daran, mit grotesken Effekten wie Glissandi, Pizzicati, abrupten Tempo-Wechseln und heiterem Flageolett- oder Tremolo-Gesäusel das Werk aufzumischen. Ähnlich dem Schluss des Streichquar-tetts op. 2 endet das Stück in einem verhauchenden pp-morendo.
Die Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente wird 1936 mit dem Cembalisten Frank Pollak in Prag auf-geführt. Pollak nimmt das Manuskript mit nach Israel und rettet es damit vor dem Verlust. Den musikali-schen Auftakt macht ein vulkanischer Ausbruch des Cellos, gefolgt vom fugiert abgewandelten Sechzehn-telthema der Bläser, wobei die Trompete der wilden Motorik des Satzes mit Triolen Gegensteuer gibt. Der 2. Satz variiert das in den Quartett-Variationen bereits verwendete Thema und bildet damit einen Kontrast zur Hektik des Eingangssatzes.
Nach Theresienstadt – „Brundibár“
Nach 1936 wird das Leben für tschechische Juden immer bedrohlicher. Vielen gelingt noch rechtzeitig die Auswanderung, andere tauchen vor Ort ab, so auch Hans Krása. Er versteckt sich in einem Prager Waisen-haus. Zusammen mit seinem Freund Adolf Hoffmeister schreibt er 1938 sein wohl berühmtestes Werk, die Kinderoper Brundibár, ein Singspiel für die Kinder des Heims über den Kampf zwischen dem Bösewicht und den mutigen Kindern, die am Ende über das Böse siegen.
Als Krása im August 1942 nach Theresienstadt gebracht wird ist der Lagerbetrieb schon in vollem Gang, das Ghetto mit tschechischen Juden bereits gefüllt, darunter viele Künstler und Intellektuelle. Man ist sich einig: Die Musik ist unsere Waffe des Widerstands, ist Garant unserer Würde und Trost für die geschundenen Häftlinge. Mit Viktor Ullmann, Gideon Klein, Pavel Haas und Rafael Schächter baut Krása hier eine Art Musikzentrum auf. Es entstehen viele neuen Werke, die an den Konzertabenden der „Freizeitgestaltung“ auf-geführt werden. Werden die Kultur-Aktivitäten anfänglich noch unterdrückt, so dienen sie mit der Zeit aber der Nazi-Propaganda über das friedliche und humane Lagerleben hier in Terezin. Für die vielen Kinder (insgesamt 15.000 innerhalb von 3 Jahren, schichtweise im Transit vor dem Abtransport nach Auschwitz) wird Brundibár zum Highlight des tristen Lageralltags. Das Stück erlebt 55 Aufführungen, und die wenigen Überlebenden können es noch heute auswendig mitsingen. Wie gerät das Stück aber hierher? Einer der Prager Häftlinge schmuggelt den Klavierauszug ins Lager und bittet Hans Krása, das Werk für die zur Verfügung stehenden Musiker nochmals zu orchestrieren. Die Musik spricht die Kinderherzen mit einfachen Tonschrit-ten und gradtaktigen Rhythmen an. Schon die Einleitung bohrt sich mit ihrem simplen Charakter in die Ohren der kleinen Sänger und das nachfolgende 6/8-Thema hat etwas Beschwingtes. Hauptsache: die Kinder erleben hier heitere Momente, wie z.B. auch im Walzer des 5. Auftritts, der mehrmals die gesprochenen Szenen untermalt und wie süffige Salonmusik daherkommt.
Die Unisono-Partien der Kinder wirken durch ihre Einfachheit wie ein Volkslied-Treffen und kulminieren im triumphalen marschmäßigen Schlusschor über die Freundschaft, die der Gemeinheit den Garaus macht.
Die Hauptfigur des Brundibár wird in Theresienstadt auf Hitler gemünzt, was die SS-Leitung wohl realisiert, jedoch toleriert, da die Kinder ja demnächst nach Auschwitz gebracht werden.
Brundibar – Aufführung in Theresienstadt 1944 (gemeinfrei)
Heute wird das Werk überall auf der Welt und in vielen Sprachen aufgeführt, in Opernhäusern, an Gedenk-veranstaltungen und an Schulen, wo damit die Erinnerung an den Holocaust wach wird.
Im Kulturbetrieb des Ghettos fungiert Krása als Leiter der Musikabteilung. In den riesigen Kasernen wird täglich musiziert und gespielt: Rezitals, Quartett-, Trio- und Opernaufführungen, Theater und Kabarett. Davon gibt es zahlreiche mündliche und schriftliche Zeugnisse von Überlebenden (wie z.B. jene des Schrift-stellers Ivan Klima). Obwohl die gerade erst entstandenen Kompositionen z.T. schwer verständlich klingen, werden sie von den Häftlingen gern gehört, haben sie hier doch einen über die Musikgeschichte hinaus gehenden Sinn.
Neben den 3 Liedern für Bariton, Klarinette, Viola und Cello von 1943 (auf Texte von Rimbaud) komponiert Krása im „kleinen Häuschen“, das er zusammen mit Gideon Klein und dessen Schwester Eliska (die er hier heiratet) bewohnt, seine letzten Werke:
Die Ouvertüre für kleines Orchester von 1943/44 ist ein Werk von kaum zu bremsender Hektik, mit 3 grad-taktigen Themen, deren Verflechtungen auf einen schrillen Dissonanzen-Schluss zusteuern. Das Stück wird erst 1993 uraufgeführt.
Das Tanzstück Tannec für Streichtrio von 1944 spricht aus dem Herzen der böhmisch-mährischen Volkstanz-Tradition: Über dem wilden Gefusel des Cellos führt die Violine durch den 2/4 Tanz, bevor im Mittelteil besänftige Töne angeschlagen werden. Im Schlussteil verarbeitet Krása die vorangegangenen Themen in forschem Tempo.
Als Vermächtnis des Komponisten betrachten wir sein letztes Werk von 1944, die außerordentlich berührende Passacaglia und Fuge für Streichtrio, eine Art Kathedrale der Kammermusik, streng symmetrisch auf-gebaut, kontrapunktisch durchgestaltet und gleichzeitig Kaleidoskop wechselnder Gefühlslagen eines bedrohten Lebens.
Das Cello trägt das 8-taktige Thema im flachen pp-Ton ohne Vibrato vor und leitet damit eine religiöse homophone Passage ein, die an Beethovens op. 132 erinnert. Alle drei Streicher übernehmen später das Thema mit jeweils verschiedenartiger Begleitung. Da legt plötzlich die Violine eine aus dem Thema abgeleitete Walzermelodie hin, die dem Ganzen kurzzeitig einen Salon-Charakter verleiht. Mit Oktavengriffen und Fortissimo-Arpeggien des Cellos wird es höchst dramatisch, verdünnt sich danach wieder, bis hin zu filigranen Flageolett-Klängen. Das von der Bratsche initiierte Fugenthema wird x-fach variiert, verkürzt, gedehnt, akzeleriert, im synchronen Sechzehntel-Galopp gesteigert und – anstelle des erwarteten Schlussakkords – mit einem lauten Glissando in den Nachthimmel hinausgeschleudert.
Hans Krása bei einer Aufführung 1944 in Theresienstadt (© culturacolectiva.com)
Der Himmel wird sich noch mehr verdüstern: Kurz nach der Uraufführung im Ghetto – auch Verdis Requiem ist eben erst verklungen – werden die Musiker um Hans Krása im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und dort 2 Tage später ermordet.
Die Kinderoper Brundibar von Hans Krása wurde am 5. Mai 2014 im Rahmen der Befreiungsfeier des KZ Mauthausen aufgeführt. Ort war der historische Sitzungssaal des österreichischen Parlaments.
Regie: Beverly Blankenship
Dirigent: Andreas Penninger
Studierende der Musikuniversität Wien
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Theresienstadt: Nazi-Zitadelle – Judenghetto – Hochburg der Shoah-Musik
Gideon Klein – das frühe Verstummen des jüdischen Musikers
Quellen:
Blanka Cervinkova, Hans Krása. Leben und Werk. Dt. Uebersetzung bei Pfau, Saarbrlücken 2005
Div. Zeitschriftenartikel zum Thema „Musik in Theresienstadt“
Zeitungsberichte über „Brundibár“- Aufführungen weltweit
9. November 2021 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.
Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.