Parlamentarier, Staatsmann, Demokrat: Vor 100 Jahren wurde Matthias Erzberger ermordet

Hätten die Deutschen bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 so votiert wie es der Leistungskurs Geschichte meines niederrheinischen Kleinstadtgymnasiums Ende der 1990er Jahre tat – wer weiß, vielleicht hätte Matthias Erzberger anstelle des nur drei Monate jüngeren Sozialdemokraten Paul Löbe 1949 den ersten Deutschen Bundestag als Alterspräsident eröffnet. Die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen, und heute jährt sich die Ermordung des Zentrumspolitikers und ehemaligen Finanzministers Matthias Erzberger zum 100. Mal.

Weimarer Koalition
Im Leistungskurs studierten wir die Positionen und Programme der vielen Parteien, die sich um den Einzug in die Nationalversammlung bemühten. Dann gab der Lehrer unserem Drängen nach und rief eine fiktive Wahl aus, an der er sich neben seinen 18 Schülerinnen und Schülern auch selbst beteiligte. Das Wahlergebnis stand schnell fest: Die Parteien der „Weimarer Koalition“ fuhren einen fulminanten Sieg ein: Jeweils sechs Stimmen entfielen auf die Sozialdemokraten (auf die „Mehrheitssozialdemokraten“ der MSPD, um genau zu sein), das katholische Zentrum und die linksliberale DDP. Die linken „unabhängigen“ Sozialdemokraten der USPD erhielt eine Stimme, von der wir aufgrund laienhafter graphologischer Bemühungen meinten, dass sie von unserem Lehrer stammte. Die rechtsliberale DVP verfehlte den Einzug ebenso wie die nationalkonservative DNVP.

Bei einem solchen Wahlergebnis hätte es einer „Weimarer Koalition“ gar nicht bedurft, so dass vielleicht eine sozialliberale Regierung aus SPD und DDP unter Kanzler Scheidemann hätte gebildet werden können. Tatsächlich konnten sich SPD und DDP damals recht schnell auf ein Regierungsbündnis verständigen, während es in der Zentrumspartei deutlichere Vorbehalte gegen eine Koalition mit den Sozialdemokraten gab. Dass diese überwunden wurden, war nicht zuletzt das Verdienst ihres herausragenden Parlamentariers: Matthias Erzberger.

Ein rascher Aufstieg
1875 als ältestes von sechs Kindern in eine württembergische Handwerkerfamilie geboren, gehörte Matthias Erzberger zur katholischen Minderheit in seinem Dorf. Früh erkannten die Volksschullehrer die intellektuellen Begabungen des Jungen und eröffneten ihm die Möglichkeit, seinerseits Volksschullehrer zu werden. Schon während der Ausbildung begann der junge Erzberger sich für politische Fragen zu interessieren.

Irgendwo zwischen Marbach, Göppingen und Stuttgart wurde der sozialreformerische Priester Josef Eckard auf den kaum zwanzigjährigen Lehramtspraktikanten aufmerksam und holte ihn zum erst wenige Jahre alten Volksverein für das katholische Deutschland. Hier machte Erzberger rasch Karriere als Zeitungsredakteur, engagierte sich zudem in katholischen Arbeitervereinen und der Zentrumspartei, gründete bald selbst katholische Gewerkschaften, einen Bauernverein und einen Handwerkerverbund. Richtschnur seines rastlosen Handelns war Erzbergers katholischer Glaube und insbesondere die katholische Soziallehre, wie sie in den 1890er Jahren maßgeblich durch die erste Sozialenzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. geprägt wurde. Hauptgegner waren der Marxismus und die Sozialdemokratie, denen Erzberger und der gesamte Volksverein in zahlreichen Veranstaltungen, Publikationen und Arbeitsgemeinschaften das Wasser abgraben wollen.

Abgeordneter und Publizist
Bereits mit 28 Jahren wurde Erzberber 1903 als jüngster Abgeordneter in den Deutschen Reichstag gewählt. Damals erhielten Abgeordnete noch keine Diäten, so dass Erzberger mit unermüdlicher publizistischer Tätigkeit sein Auskommen erwirtschaften musste. Der leidenschaftliche Parlamentarier griff die Regierung im Reichstag mit scharfen Reden an und wendete sich insbesondere gegen die damals sehr populäre Kolonialpolitik. Als Erzberger den Klüngel zwischen Ministerialbürokratie und Kolonialwirtschaft öffentlich attackierte, brachte er sogar einen Verwandten des Kaisers zu Fall. Wilhelm II. hielt daraufhin die Regierung an, Mittel und Wege zu finden, um „unsere Beamten- und Offizierswelt vor dem gewerbsmäßigen Hintertreppen-Schleicher, Ehrabschneider und Verleumder Erzberger zu decken“.

Dabei war Erzberger durchaus Kind seiner Zeit: Kolonien lehnte er mit Blick auf die Missionierungsmöglichkeiten nicht rundheraus ab. Auch unterstützte er lange die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg und trat noch Anfang 1916 für einen „Siegfrieden“ ein. Zwar verwandte sich Erzberger als einziger Reichstagsabgeordneter neben dem Sozialdemokraten Karl Liebknecht dafür, den Völkermord an den Armeniern zu beenden. In seiner Denkschrift an die osmanische Regierung konzentrierte er sich aber ausschließlich auf die „katholischen Armenier“.

Hassfigur
Dass Erzberger für große Teile des Adels und der bürgerlichen Oberschicht zur Hassfigur wurde, gründet in der zunehmend kritischen Haltung, die der Parlamentarier gegenüber der deutschen Kriegspolitik einnahm. Ab Ende 1916 setzte sich Erzberger für eine Verständigung mit den gegnerischen Kriegsbeteiligten ein, bei der Deutschland auch auf Annexionen hätte verzichten sollen. Diese Bemühungen waren bei den ärmeren Bevölkerungsteilen sehr populär, trugen Erzberger in rechtsgerichteten Kreisen aber bald den erbitterten Vorwurf ein, die deutsche Kriegspolitik zu sabotieren.

Dass dieses Zerrbild nach Kriegsende als „Dolchstoßlegende“ schreckliche Wirkung entfalten konnte, liegt nicht zuletzt an der vielleicht folgenreichsten Entscheidung, die Erzberger in seiner bewegten politischen Laufbahn traf: Als Erster Bevollmächtigter der Waffenstillstandskommission ließ er sich von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg dazu bewegen, das Waffenstillstandsabkommen mit den Alliierten zu unterzeichnen. So entstand schon kurz darauf die Legende, das „im Felde unbesiegbare Heer“ sei vom zivilen inneren Feind „hinterrücks erdolcht“ worden. Dieser auch von Hindenburg befeuerte Mythos zielte nicht zuletzt auf Erzberger.

Hätte er doch nur …!
Aus heutiger Sicht ist unverständlich, warum Erzberger sich überhaupt an die Spitze der Kommission hatte setzen lassen und warum er nicht zumindest Hindenburgs Finte witterte. Hätte Erzberger doch nur zum Generalissimus gesagt: „Herr Hindenburg, Sie und Ihre Leute haben das deutsche Volk in großes Unglück gestürzt. In den letzten zwei Jahren hat Ihre Clique das Reich diktatorisch regiert, das Parlament systematisch belogen und sich jeglicher Verständigung widersetzt. Jetzt löffeln Sie gefälligst diese stinkende Suppe aus, die Sie uns eingebrockt haben!“ Dann wäre der „Held von Tannenberg“ schmählich in der Versenkung verschwunden und wäre Erzberger vom Ruf des „Vaterlandsverräters“ und „Novemberverbrechers“ verschont geblieben.

Im Schatten von Compiègne
Erzbergers weiteres politisches Wirken fand im Schatten dieser Unterschrift im Eisenbahnwagen von Compiègne statt. Darüber machte er sich keinerlei Illusionen. Einschüchtern ließ er sich jedoch nicht. So gehörte Erzberger auch zu den Kräften, die die Annahme des Versailler Friedensvertrags maßgeblich vorantrieben. Seine Hoffnung, zumindest den Kriegsschuldartikel aus dem Vertragswerk herausverhandeln zu können, erwies sich als illusionär. Letztlich blieb nur die offizielle Anerkennung, „daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind“. Diese Aussage erwies sich nicht nur als psychologische, sondern – über die auf ihr beruhenden Reparationszahlungen – ökonomische Hypothek der jungen Republik. Die Alternative wäre aber wohl die Zerteilung des Deutschen Reiches in viele Kleinstaaten gewesen – mit allen ökonomischen Nachteilen, die ein solcher Flickenteppich mit sich gebracht hätte. Dass man Erzberger heute nicht als frühen Vater der deutschen Einheit verehrt, mag daran liegen, dass die Auflösung des Reichs der Welt jene Schrecken, Verbrechen und Übel wohl erspart hätte, die nur wenige Jahre später folgen sollten.

Vater der deutschen Finanzverfassung

Mit dem Friedensvertrag hängt auch die Leistung zusammen, mit der Erzbergers Name bis heute am engsten verbunden ist: die nach ihm benannte Finanzreform. Sie gilt als umfangreichstes Reformwerk der deutschen Steuer- und Finanzgeschichte und prägt bis heute die Finanzverfassung und das Steuerwesen der Bundesrepublik. Dass Erzberger in den wenigen Monaten, die er das Amt des Reichsfinanzministers bekleidete, dieses Jahrhundertwerk realisieren konnte, ist unglaublich. Die Reform zentralisierte das kleinteilige Steuerverwaltungswesen und machte das Reich von den Ländern unabhängig, schuf mit dem direkten Lohnsteuerabzug die bis heute wichtigste finanzielle Grundlage des deutschen Staates und führte unmittelbar zu einer deutlichen höheren Steuerquote. Die Reichsnotopferabgabe – eine Vermögensabgabe, die Teil des Reformwerks war – trug erheblich zur Sanierung der durch den Krieg völlig zerrütteten Staatsfinanzen bei, ihrem Schöpfer Erzberger aber den noch gesteigerten Hass der vermögenden Schichten ein.

Vor allem der DNVP-Abgeordnete Karl Helfferich verstieg sich zu immer aggressiveren verbalen und publizistischen Attacken auf den Finanzminister, wofür er zwar angeklagt, aber nur milde bestraft wurde. Erzberger trat daraufhin mit gerade einmal 44 Jahren von seinem Ministeramt zurück.

Hätte, hätte …
Eine Rückkehr auf die nationale politische Bühne schien allerdings durchaus nicht ausgeschlossen. Nach dem Ausscheiden aus der Regierung entwickelte Erzberger ein großangelegtes Reformprogramm auf Grundlage der katholischen Soziallehre und wirkte weiterhin publizistisch in Tagesdebatten mit. So wäre es denkbar gewesen, dass ihn seine Partei wieder in die Verantwortung gerufen hätte. In den „guten mittleren Jahren“ der Republik, die bald schon folgen sollten, hätte Erzberger vielleicht sogar Reichskanzler werden können. Dies ist ein weiteres der vielen „Hätte“, die die populäre Beschäftigung mit der Weimarer Republik oft prägen: Hätten die Deutschen nur anders gewählt! Hätte Friedrich Ebert den Arzt aufgesucht, statt ins Gericht zu gehen! Hätte Erzberger das Waffenstillstandsabkommen nicht unterzeichnet. Diese Spekulationen führen jedoch allenfalls zum Bonmot eines späten Nachfolgers von Matthias Erzberger im Amt des Finanzministers führen: Hätte, hätte, Fahrradkette.

Es blieb beim „Hätte“. Nachdem er mehrere von der deutschnationalen Hetzpropaganda angestachelte Mordversuche überlebt hatte, erlag Matthias Erzberger am 26. August 1921 den Verletzungen, die ihm zwei ehemalige Marineoffiziere und Angehörige rechtsgerichteter Vereinigungen mit sechs Schüssen aus dem Hinterhalt zugefügt hatten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die beiden Täter zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, aber schon nach wenigen Jahren aus der Haft entlassen.

Ein großer Republikaner
Die Ermordung Erzbergers wie das Attentat auf den liberalen Politiker Walther Rathenau im darauffolgenden Jahr, die frühen Tode des Reichspräsidenten Friedrich Ebert und des Außenministers Gustav Stresemanns, und auch die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht haben der Weimarer Republik den traurigen Titel der „Republik ohne Republikaner“ eingebracht. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass es in dieser schwierigen Zeit hervorragende Republikaner gab, furchtlose Demokraten, leidenschaftliche Parlamentarier. Es waren Männer – und wenige Frauen! – aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus, oft aus „einfachen Verhältnissen“, früh und stark geprägt durch ihr gesellschaftliches Umfeld, mit tief wurzelnden Überzeugungen. Matthias Erzberger war einer von ihnen. Wir sollten uns an ihn und seine Lebensgeschichte erinnern.

Bilder

Gedenkmarke der Deutschen Bundespost, 1975, Wikimedia commons, gemeinfrei

Verabschiedung der Kommission nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands. Matthias Erzberger stehend im dunklen Mantel. Gemälde von Maurice Pillard Verneuil, Wikimedia commons, gemeinfrei

Die Dolchstoßlegende in Postkartenform, etwa 1924: Philipp Scheidemann erdolcht hinterrücks deutsche Frontsoldaten. Hinter ihm Erzberger und zwei als Juden stilisierte Männer auf Geldsäcken, Wikimedia commons, gemeinfrei

Matthias Erzberger als Minister in der Weimarer Regierung, 1919, Wikimedia commons, gemeinfrei

26. August 2021 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert