Auf ein Wort mit… Mirjam Günther
Das Motto der diesjährigen Fastenaktion ist „Frau. Macht. Veränderung.“ Mit dem Ziel Geschlechtergerechtigkeit zu fördern. Inwiefern ist das Thema für ein Hilfswerk wie Misereor von Bedeutung?
Das Thema ist für uns als Werk der Entwicklungszusammenarbeit sehr zentral. Wir bekommen im Kontakt mit unseren Projektpartnerorganisationen immer wieder mit, wie wichtig Geschlechtergerechtigkeit für den Weg zu einer nachhaltigen, friedlichen und gerechten Welt ist. Wenn Frauen ihr Leben und die Gesellschaft aktiv (mit)gestalten können, hat dies positive Auswirkungen auf die Chancen für ein gutes Leben für alle.
Auch in der Politik, die wir beobachten und die Auswirkungen auf unsere internationale Arbeit hat, ist das Thema Geschlechtergerechtigkeit elementar: Unsere Entwicklungsministerin Svenja Schulze hat mit ihrem Amtsbeginn eine feministische Entwicklungspolitik ausgerufen. Auch wenn sich einige Menschen an diesem Begriff stören, der Hintergrund und die Botschaft sind extrem richtig und wichtig. Die aktuellen Ungerechtigkeiten (und Benachteiligungen von Frauen) sind eklatant: Frauen leisten einen Großteil der unbezahlten Pflege- und Hausarbeit, haben seltener Zugang zu Bildung, Finanzdienstleitungen und Landbesitz, erleben häufiger körperliche oder sexualisierte Gewalt und sind in nationalen Parlamenten und Führungspositionen deutlich unterrepräsentiert. Das muss sich meiner, unserer Meinung nach ändern. Hier setzt feministische Entwicklungspolitik an: Sie ist menschenrechtsbasiert, gender-transformativ, inklusiv und machtkritisch. Die wichtigsten Elemente für eine Veränderung sind dabei die sogenannten „3 R“: Rechte, Repräsentanz und Ressourcen.
Eine weitere wichtige Richtschnur für unsere Arbeit sind die 17 Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (SDG – Sustainable Development Goals). Auch hier ist im SDG 5 das Ziel Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen fest verankert. Das ist ein großes Ziel, das in viele einzelne Unterziele und Bereiche aufgeschlüsselt werden muss. Alle diese einzelnen Teile findet man in Projekten auf der ganzen Welt wider – in den Partnerländern von Misereor ebenso wie hier bei uns in Deutschland. Allen gemeinsam ist dabei, dass es um eine Überwindung patriarchaler Machtverhältnisse mit dem Ziel von gerechten Beziehungen und einem gelingenden Zusammenleben aller Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, geht.
Ungefähr zwei Drittel der von Misereor geförderten Projekte beinhalten Geschlechtergerechtigkeit als Haupt- oder Nebenziel. Das macht deutlich, welche hohe Bedeutung diesem Thema international zukommt. Dabei können Veränderungen angestoßen und umgesetzt werden, bei denen es um eine Änderung von gesellschaftlichen, politischen oder kirchlichen Strukturen geht. Genauso sind aber auch die Projekte von großer Relevanz, die das direkte Lebensumfeld und ein Miteinander innerhalb von Dörfern, Gemeinden oder Familien nachhaltig verändern.
Einige Beispiele für solche Veränderungen sind in der Misereor-Blogreihe „Starke Frauen. Weltweit.“ zu finden.
Im Zentrum der Aktion stehen vier Frauen aus Madagaskar. Was zeichnet die Frauen aus und was hat Sie an ihnen besonders fasziniert?
Die vier Frauen stehen für mich für Veränderung. Sie machen Veränderung und kämpfen um die Macht zur Veränderung. Und das in einer patriarchalen Gesellschaft und im ländlichen Bereich, in der Frauen und Mädchen es immer noch schwerer haben als in anderen Kontexten.
An Ursule Rasolomanana fasziniert mich besonders ihre Stärke, nicht aufzugeben und wieder neuen Mut zu fassen, auch nach Rückschlägen. Sie musste die Schule abbrechen, nachdem ihr Vater gestorben war und die Familie nicht mehr genug Geld hatte, um das Schulgeld zu bezahlen. Sie sah ihren einzigen Ausweg darin, eine Familie zu gründen. Aber anstatt sich damit abzufinden und ihre Träume aufzugeben, nutzt sie all ihren Mut und ihre Stärke dafür, für sich und ihre Familie ein besseres, ein gutes Leben zu gestalten. Sich aus Zwängen zu befreien und für Freiheit aufzustehen.
Besonders beeindruckend an Bodo Razafiniaina ist für mich ihr Selbstbewusstsein. Als Witwe ist ihr Ansehen im Dorf gering gewesen. Aber sie hat sich dem aktiv entgegengestellt und gezeigt: Sie ist wer – nicht durch oder mit oder ohne einen Mann, sondern sie hat ihren Wert als Person, als Frau. Und das merkt man ihr an – in ihrem Wesen, ihrer Haltung und ihrem Strahlen.
Josephine Rasolonomenjanahary begeistert mich mit ihrer Positivität. Trotz Schicksalsschlägen und der Hauptlast, alleine für ihre Familie sorgen zu müssen, da ihr Ehemann vollständig erblindet ist, gibt sie nicht auf und geht positiv durchs Leben. Sie ist davon überzeugt, dass nicht nur sie stark sein kann, sondern dass auch andere Frauen selbstbestimmt ihr Leben gestalten können. Als Dorfschullehrerin gibt sie diese positive Lebenseinstellung und Energie an ihre Schüler*innen weiter. Mit Erfolg – eine Mutter, deren Kinder bei ihr in die Schule gehen, erzählte mir im letzten Jahr, wie sehr sich ihre Kinder seit dem Schulbesuch verändert und wie gut sie sich entwickelt haben. Nicht nur schulisch, sondern vor allem charakterlich.
Faszinierend an Schwester Modestine Rasolofoarivola finde ich die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in der Männerdomäne Kirche behauptet und für andere Menschen und insbesondere Frauen einsetzt. Ihr Ansatz, mit kleinen Dingen, einfachen Mitteln und guten Ideen, Großes zu bewirken, anstatt sich mit Geschenken in ein gutes Licht zu rücken, entspricht genau dem Geiste Misereors. Sie ist Leiterin der Organisation Vahatra – das heißt Wurzel – und sie macht genau das: nicht den Fokus auf die kranken Äste legen, sondern die Wurzeln stärken und so ein Netz für Veränderungen bereiten.
Welchen Beitrag kann die Fastenaktion hierbei leisten? Wie können Engagierte in Deutschland konkret an dem Thema mitwirken?
Der Beitrag kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen: Zum einen geht es ganz konkret um das eigene Umfeld: Wahrzunehmen, wie ich in meiner Familie, in meinem Freundeskreis oder auf der Arbeit Veränderung bewirken kann. Wie gehe ich mit Männern und Frauen, Mädchen und Jungen um? Welche Rollenbilder, welche Haltungen vermittle ich? Welche lohnt es sich zu hinterfragen und neu zu ordnen, damit hier Geschlechtergerechtigkeit immer konkreter gelebt werden kann?
Auf die Frage, was die Fastenaktion ist, haben wir formuliert: In sich gehen – außer sich sein. Nach der Beschäftigung mit dem Thema, der Auseinandersetzung mit Hintergründen und den konkreten Beispielen, geht es darum, außer sich zu sein, aktiv zu werden, zu handeln:
Das kann die Gestaltung eines Gottesdienstes, einer Veranstaltungsreihe oder auch nur eines kurzen Impulses sein. Neben diesen Formen der Auseinandersetzung bietet es sich in diesem Jahr an, die zweite Märzwoche in den Blick zu nehmen. Diese Woche in der Fastenzeit ist voll mit interessanten und relevanten Tagen, die eine thematische Anknüpfung anbieten: Am 7. März ist der Equal Pay Day, am 8. März der Weltfrauentag. Am Freitag davor, dem 3. März findet der Weltgebetstag der Frauen statt und am Wochenende darauf, vom 9. bis zum 11. März wird die fünfte Synodalversammlung des Synodalen Weges stattfinden, auf der vor allem im Synodalforum „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ das Thema der Geschlechtergerechtigkeit präsent sein wird. Alle diese Tage bieten sich ganz wunderbar an, Geschlechtergerechtigkeit auch im internationalen Kontext in den Fokus zu stellen.
In der Fastenaktion stellen wir beispielhaft die oben beschriebenen vier Frauen aus Madagaskar dar. Wer hier kreativ werden möchte, kann diese Beispiele erweitern: Welche Frauen und auch Männer im eigenen Umfeld, in der Gemeinde, auf der Arbeit machen Veränderung, haben die Macht zur Veränderung und verändern mit ihrem Beitrag die Machtverhältnisse? Hier kann ich mir gut vorstellen, eine Ausstellung oder eine Veranstaltung zu machen und die gefundenen Personen und Portraits vielleicht sogar in einer Galerie vorzustellen: zum Abschluss gibt es eine leere Folie/ein leeres Blatt: Hier ist jeder und jede selbst eingeladen, die eigene Macht zur Veränderung zu spüren und beizutragen.
Und nicht zuletzt kann jede Spende Ermöglichung für Veränderung werden: Die vielen Initiativen von Misereor-Partnerorganisationen, die sich für Gleichberechtigung und gegen Benachteiligung stark machen, sind auf Spenden angewiesen, um ihre wichtige Arbeit fortsetzen zu können.
Im Januar findet ein Workshop zur Eröffnung der Fastenaktion in der TMA statt, was erwartet die Teilnehmerinnen und Teilnehmer?
Es wird ein vielfältiges Programm geben. Wir starten mit einer Einheit zum Misereor-Hungertuch, das in diesem Jahr von dem nigerianischen Künstler Emeka Udema gestaltete wurde. Unter dem Titel „Was ist uns heilig?“ tauchen wir in das Kunstwerk aus leuchtenden Farben und bunten Schnipseln ein. Dazu werden der Künstler selbst sowie meine Kollegin Claudia Kolletzki digital hinzugeschaltet sein. Anschließend wird es eine kurze Einführung ins Beispielland der Fastenaktion Madagaskar geben. Dieses Land und eine der beiden Partnerorganisationen durfte ich vor ein paar Monaten selbst besuchen und möchte meine Eindrücke mit den Teilnehmenden teilen und erweitern. Wir schließen den ersten Tag mit einem meditativen Ausklang zum Hungertuch.
Am Samstag widmen wir uns dem inhaltlichen Teil der Fastenaktion. Hier hören wir unter anderem in die Beispielgeschichten hinein und setzen sie in die jeweiligen Kontexte. Dann freuen wir uns auf den Input von Dr. Gisela Burckhardt, der Vorstandsvorsitzenden von FEMNET e.V., zum Thema Perspektiven einer feministischen Entwicklungspolitik für den globalen Süden. Am Nachmittag schauen wir dann auf die konkreten Materialien und entwickeln selbst Umsetzungsideen für die Fastenaktion vor Ort. Egal ob in Gemeinde, Gruppe, Schule oder anderen Orten, an denen die Fastenaktion lebendig werden kann. Auch der Erfahrungsaustausch und das Teilen von Ideen wird hier genügend Platz finden und uns gegenseitig bereichern. Mit einer Andacht werden wir die Veranstaltung beenden und sicherlich gestärkt und motiviert hinausgehen.
Liebe Frau Günther, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Judith Uebing, Akademiereferentin.
13. bis 14. Januar 2023 (Fr.-Sa.)
Frau. Macht. Veränderung.
Die MISEREOR-Fastenaktion 2023 im Erzbistum Köln
Workshop
Im Rahmen dieses Workshops lernen Sie die Hintergründe und Geschichten der Misereor-Fastenaktion 2023 genauer kennen. Wir stellen Materialien und Aktionsanregungen vor, mit denen Sie sich in Ihrer Gemeinde oder Ihrem Verband an der Fastenaktion beteiligen können.
Ganz herzliche Einladung nach Bensberg!
Einmal im Monat erscheint „Auf ein Wort mit…“ und stellt interessante und engagierte Personen vor, mit denen die Akademie auf unterschiedliche Weise verbunden ist. Gesprochen wird über Gott und die Welt, über Kunst und Kultur, über Aktuelles aus Gesellschaft und Kirche ….
Neugierig geworden? Dann abonnieren Sie hier unseren Newsletter! Wir freuen uns, mit Ihnen im Kontakt zu sein.
© Claudia Fahlbusch
8. Januar 2023 || ein Gespräch mit Mirjam Günther, Misereor, Abteilung Bildung und Pastoral, Team Fastenaktion, Aachen