Die Brauchtumszone – Der Ort der 5. Jahreszeit in Köln
Nach dem pandemiebedingten vollständigen Entfall der für Köln und sein Umland wesentlichen 5. Jahreszeit – dem Karneval – im vergangenen Frühjahr keimte im Frühherbst 2021 zunächst Hoffnung auf eine halbwegs gelingende Session auf. Doch seit Wochen ist klar: Das Virus war wieder schneller, das Brauchtum hat das Nachsehen.
Verantwortungsbewusst haben viele Vereine ihre Umzüge im Straßenkarneval abgesagt – verboten aber, so die Politik, seien sie nicht. Dieses „Delta“ von Theorie und Praxis erwies sich nun als Strohhalm für alle Verfechter des rheinischen Brauchtums.
Die neue Coronaschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen nämlich sieht vor, dass die Kommunen an den Karnevalstagen sogenannte „Brauchtumszonen“ ausweisen können – Bereiche, in denen durch das brauchtumsbedingte Zusammentreffen einer Vielzahl von Menschen von erhöhten Infektionsrisiken auszugehen ist. Innerhalb dieser Zonen ist das Verweilen im öffentlichen Raum „zum Zwecke des geselligen Zusammenseins“ unter 2G-plus-Voraussetzungen zulässig.
Wer einmal an Karneval in Köln war, der weiß: Fastelovend wird in der ganzen Stadt gefeiert, nicht nur an „einigen definierten Orten“. Darum wird vom 24. Februar 8.00 Uhr bis 1. März 2022 um 24.00 Uhr das ganze Kölner Stadtgebiet zur „Brauchtumszone“ erklärt, in dem geimpfte Narren mit einem zusätzlichen negativen Test oder einer Booster-Impfung Karneval feiern dürfen. Zutritt zu einer Kneipe erhält darüber hinaus nur, wer zusätzlich zu Impfung oder Booster einen negativen Schnelltest vorweisen kann.
Besser ist kaum auszudrücken, wie groß der Druck auf Politik und Verwaltung geworden sein muss, den Menschen ein Stück ihrer Freiheit – für die Brauchtum hier eine schöne Chiffre ist – zurückzugeben. Und sei es auch nur für die Stunden des Straßenkarnevals.
Warum dieses Brauchtum für Köln, die Kölnerinnen und Kölner so wichtig ist und was genau die 5. Jahreszeit ausmacht, klärt Dr. Manfred Becker-Huberti, katholischer Theologe und Honorarprofessor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Vinzenz-Pallotti-University in Vallendar für uns.
Vom Sinn des Unsinns
Nun hat sie uns wieder, die ultimative fünfte Jahreszeit, die Zeit der Jecken und Narren, die am Rosenmontag ihren höchsten Festtag in den rheinischen Hochburgen des Karnevals mit Festumzügen ausgelassen feiern. Auch wenn wir ein weiteres Jahr unter Pandemie-Bedingungen zum Feiern „auf die Straße gehen“ müssen, möchten echte Jecken diese närrischen Tage um nichts in der Welt missen – andere fürchten sich närrisch und fliehen in karnevalsresistente Gegenden des In- und Auslandes. Gewiss, die Karnevalszeit ist kein Bestandteil des Kirchenjahres, trotz anders lautender Vermutungen ist sie selbst im Rheinland nicht liturgisch vorgeschrieben. Allerdings gäbe es den Karneval nicht, gäbe es auch nicht die Fastenzeit. Dies ist eine Erkenntnis, die vielen nicht mehr bekannt zu sein scheint.
Wenige Jahre ist es erst her, als die Jungfrau des Kölner Dreigestirns durch den frohgemuten Wunsch einer „Gesegneten Session“ die Berufsnarren zum Schäumen brachte. Blasphemie lautete die Diagnose einiger Karnevalsbosse, Rausschmiss die zugehörige Therapie.
Erstaunt registrierte die närrische Öffentlichkeit, dass sich die rheinisch-eingeborene Kirche nicht empörte. Warum auch? War der Wunsch ernst gemeint, so war er die christliche Maxime einer richtig verstandenen Vor-Fastenzeit. Was ist der Karneval denn schließlich anderes als die Zeit vor dem Fasten? Und warum soll dieser Segenswunsch für diese Zeit blasphemisch sein?
War der Wunsch weniger ernst gemeint, so machte er doch deutlich, dass die, die sich empörten, zu wenig von ihrem eigenen Karneval verstehen. Karneval ohne Fastenzeit ist wie Kultur ohne Kultus: eben bloß Folklore, ein Ritual ohne Verwurzelung, das über kurz oder lang an sich selbst verstirbt, weil es eintrocknet und verhungert. Karneval und Fastenzeit sind wie zwei Pflanzen, die miteinander in Symbiose leben: Die Mistel „Karneval“ kann ohne ihren Wirtsbaum „Fastenzeit“ nicht leben, der Wirtsbaum „Fastenzeit“ aber durchaus ohne Mistel. Wie in etlichen Te¬len dieser Welt zu sehen, gibt es die Fastenzeit auch ohne vorangehenden Karneval. Das einseitige Abhängigkeitsverhältnis drückt auch unsere Sprache aus: Unsinn definiert sich nicht selbst, sondern braucht den Sinn, um sich als Nicht-Sinn, Gegen- oder Widersinn, eben als Unsinn zu bekennen. Narretei braucht Wahrheit. Narretei ist ohne Wahrheit nicht lebensfähig.
Was das mit einem Geistlichen Wort zu Karneval zu tun hat? Eine ganze Menge, schließlich vertreten Christen eine Frohbotschaft und keine Drohbotschaft. Und außerdem: bei allem Ernst – auch Jesus Christus hat gefeiert und war fröhlich. Die Hochzeit zu Kana war sicher keine traurige Angelegenheit und der Wein wird dabei nicht plötzlich verdunstet gewesen sein, was immerhin den Grund für Christi erstes Wunder war. Nein, Christen müssen keine Trauerklöße und Nüchternheitsfanatiker sein. Aber sie dürfen auch nicht zum Gegenteil werden. Man kann Narr und Christ zugleich sein, wenn auch nur auf überschaubare Zeit. Deshalb sind alle Narrenkönige auf Zeit gewählt, alle Narrenreiche immer auf eingeschränkte Zeit errichtet. Der Unsinn weicht dem Sinn, das Verrückte rückt das Rechte wieder in den Blickwinkel. Die schräge Sichtweise ermöglicht das richtige Sehen, die Ausgelassenheit befreit zur Gelassenheit. Rosenmontag hat eben nichts mit Rosen zu tun, sondern mit rasen, toben, tollen. Aber ein Rosenmontag ohne Aschermittwoch in Sichtnähe macht keinen Sinn.
Deshalb: Das Wissen um die Endlichkeit und die Fähigkeit des Maßhaltenkönnens unterscheiden die weisen Narren von den dummen. Echte Fröhlichkeit erblüht nicht in Alkohol-Seen, die mit Zoten garniert sind. Eben weil sie keine Skandale produzieren, wissen nur die Eingeweihten von den zahlreichen Karnevalssitzungen und Maskenbällen in Pfarr- und Jugendheimen. Die Nähe von Karneval und Kirche und die fehlende Berührungsangst dokumentiert das Kölner Dreigestirn jedes Jahr durch seinen Besuch beim Kölner Erzbischof.
In Anlehnung an ein unvergessenes Wort des früheren Bundespräsidenten „Papa“ Heuss darf man deshalb den weisen Narren heute fröhlich wünschen: „Nun feiert ‚mal schön!“
24. Februar 2022 || ein Beitrag von Prof. Dr. Manfred Becker-Huberti
Der Theologe Manfred Becker-Huberti war von 1991 bis 2006 Pressesprecher des Erzbistums Köln. Seit 2007 ist er Honorarprofessor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Er forscht zu religiösem Brauchtum, Heiligen und der Heiligenverehrung speziell im Rheinland.