Perspektivwechsel
Ostermontag, Evangelium: Lukus 24, 13-35
Ein großer Teil der biblischen Bücher ist im Kontext von Krisen und Katastrophen entstanden. Die biblischen Geschichten versuchen, die Erfahrungen von Unheil im Licht des Glaubens an einen Gott zu deuten, der in der Geschichte der Menschheit als guter Gott gegenwärtig ist und wirkt. Im Ersten Testament deutet das biblische Israel die Katastrophen als Folge seiner eigenen Untreue gegen Gott, dessen Bund es gebrochen hat. In der prophetischen Tradition wird der neue Bund verheißen, der ewig Bestand hat, weil Gott selbst ihn unverbrüchlich macht.
Auch das Neue Testament kommt an Katastrophenerfahrungen nicht vorbei. Die Jesusgeschichte endet für die Anhängerschaft des Wundertäters aus Nazareth in einer einzigen Katastrophe. Mit dem Tod am Kreuz, der grausamsten und schändlichsten Hinrichtungsart, sind alle Hoffnungen auf das messianische Reich zunichte. Ein weiteres kommt hinzu. Nicht einmal seinen Leichnam lässt man denen, die ihm bis zuletzt gefolgt sind. Wieder eine Verlusterfahrung: Die Botschaft vom leeren Grab verbreitet sich zwar wie ein Lauffeuer, findet aber keine Resonanz. Die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus wollen Abstand von all dem gewinnen. Durch die Entfernung vom Ort des Geschehens und im Sprechen über die vergangenen Ereignisse versuchen sie, mit ihrer Trauer über den Verlust fertig zu werden. Da kommt der geheimnisvolle Dritte ins Spiel. Er wird zum Interpreten des Schicksals Jesu im Licht der Glaubensgeschichte Israels: „Musste nicht der Christus das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ (Lk 24, 26 f). Das unerbittliche „Muss“ macht stutzig: Was ist das für ein Gott, der die lange Geschichte seines auserwählten Volks auf den qualvollen Tod eines Menschen hinauslaufen lässt, von dem es heißt, dass er sein eigener Sohn gewesen sei? An dieser Frage hat sich schon Paulus abgearbeitet und mit ihm die ganze theologische Tradition. Tatsache ist, dass die Jünger Jesu den Tod Jesu in einem neuen Licht zu deuten lernten. War der Auferstandene selbst der Lehrmeister? Die Erscheinungsberichte der Evangelien legen großen Wert auf die Identität des Auferstandenen mit dem irdischen Jesus, betonen zugleich aber auch die Differenz: Der Gekreuzigt-Auferstandene lebt in einer anderen Wirklichkeit. Er ist, wie den Jüngern auf dem Weg zu Emmaus erklärt wird, in seine Herrlichkeit eingegangen.
Es gibt keine zwangsläufige Entwicklung aus dem Willen des in der Geschichte wirkmächtigen Gottes hin zum Kreuzestod, wohl aber hin zum Leben. Erst aus der Ostererfahrung, der Begegnung mit dem Auferstandenen, wird die Kontinuität der Geschichte durch die Katastrophen hindurch zum endgültigen Heil plausibel. Das Vergangene wird dadurch nicht ungeschehen gemacht, aber die Blickrichtung ändert sich. Die Emmauserzählung veranschaulicht dies in den zwei Weisen menschlicher Kommunikation, die wir aus der Gestalt unserer Gottesdienste kennen: in Wort und Zeichen. Die Worte des Wegbegleiters, der den Jüngern die Schrift erklärte und ihre Verlusterfahrung deutete, drangen in ihr Herz, so dass es brannte. Aber als er den Lobpreis sprach, das Brot brach und es ihnen gab, da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn als den Lebendigen. Das Brotbrechen, der Auftakt der jüdischen Mähler und für Lukas die Bezeichnung für die Eucharistie der Christen, ist zum Ort der Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen geworden.
Unmittelbar nach dem Höhepunkt der Erzählung, als die beiden Jünger Jesus erkennen, heißt es aber: „Und er entschwand ihren Blicken.“ Müssen sie also von Neuem eine Verlusterfahrung machen? Nun kommt es anders. Ihre anfängliche Traurigkeit kehrt nicht wieder. Im Gegenteil. Es heißt: „Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück.“ Das Erkennen Jesu beim Brotbrechen bedeutet für sie den Wendepunkt, sie vollziehen einen Perspektivwechsel: Der Blick richtet sich nach vorn. Die Trauer ist gewichen, und am Ende des Kapitels, nach der Himmelfahrt, ist von „großer Freude“ bei den Jüngern die Rede.
Die jährliche Osterfeier ist eine Einladung, sich auf diesen Perspektivwechsel einzulassen. Gewiss ist auch unsere Zeit voll von Katastrophen und befindet sich ohne jeden Zweifel in einer tiefen Krise. Dies gilt weltweit in Bezug auf die Pandemie und ihre Folgen sowie insbesondere auch für die katholische Kirche. Will man nicht in Resignation verfallen, so bleibt nur der Blick nach vorn. Wenn man die Aussage der Emmauserzählung ernst nimmt, so wird das Krisen- und Katastrophenhafte nicht einfach verdrängt werden können durch einen vordergründigen Optimismus. Dann würde der Osterjubel folgenlos verhallen. Es gibt auch kein Zurück hinter das Vergangene. Der Auferstandene ist nicht derselbe wie Jesus vor der Kreuzigung. Jede Katastrophe und jede tiefgreifende Krise führt zu Transformationen. Vieles davon ist unabänderlich weil schicksalhaft, manches aber veränderbar und bietet so neuen Gestaltungsraum. Ostern als Fest der Befreiung will dazu einen unverhofften Motivationsschub geben aus der gläubigen Gewissheit, dass einer mit unterwegs ist, dessen Worte die Herzen bewegen und dessen Zeichen die Augen öffnen können. Eines allerdings ist notwendig: man muss sich auf den Weg machen.
Bildnachweis:
Gang der Jünger nach Emmaus
Triptychon in der Autobahnkapelle Hegau (Engen)
von Bernhard Maier, Sigmaringen (2005)
Öl auf Leinwand 240×240 | 240×200 | 240×240 cm
von: Asurnipal, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons
5. April 2021 || ein Beitrag von Prof. Dr. Albert Gerhards, Theologe, Priester und bis 2017 Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn