Zum 100. Todestag des Komponisten: Max Bruch und Bergisch Gladbach
Aus dem schattigen Strundetal trete ich auf besonnte Wiesen hinaus. Eine schmale Allee führt in einer weiten Kurve zum Igeler Hof hinauf. Das Gebäude verbirgt sich hinter noch belaubten Bäumen. Der Hofname leitet sich von der Dialektbezeichnung für „Erlen“ her. Nur einen verstohlenen Blick durch das große Tor erlaube ich mir, denn das Anwesen ist in Privatbesitz und nicht zu besichtigen. Nur der Lärm eines Laubbläsers stört die Idylle. Auf dem modernen Klingelschild kann man den Namen Zanders lesen, der in Bergisch Gladbach immer noch einen ganz besonderen Klang hat.
Max Bruch, Maria Zanders und Bergisch Gladbach – darum soll es im Folgenden gehen. Die Beziehung zwischen diesen beiden Menschen und dem durch die Papierindustrie geprägten Ort im Bergischen Land kann man seit Kurzem spazierend erleben. Zu diesem Zweck und im Hinblick auf den 100. Todestag des Komponisten wurde der Max-Bruch-Weg in und um Bergisch Gladbach angelegt. Er ist etwa 11,7 km lang und mit einem bunten Violinschlüssel durchgehend markiert. Ein Faltblatt mit Karte und Erläuterungen kann man sich hier herunterladen.
Leider ist der Igeler Hof nicht in diesen Rundgang einbezogen. Dabei hatte alles hier begonnen. Damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, wohnte Therese Niessen auf diesem ehemaligen Zehnthof der Malteser. Sie war, nach eigenen Worten, eine „mütterliche Freundin“ des jungen Max Bruch. Als Zwölfjähriger hatte Bruch bei ihr auf dem Igeler Hof seine erste Sommerfrische verbracht. Viele weitere Aufenthalte sollten folgen. Max Bruch war 1838 in Köln in eine gut situierte Familie hineingeboren worden. Sein Vater hatte die Position eines stellvertretenden Polizeipräsidenten inne, seine Mutter war als Sängerin anerkannt. Der Sohn sollte nie eine öffentliche Schule besuchen. Durch seine frühen Kompositionen galt er als „Wunderknabe von Köln“. Diese hochgesteckten Erwartungen würden sich nicht erfüllen. Berühmt blieb nur sein 1. Violinkonzert in g-Moll, op. 26. Das erbitterte Bruch so sehr, dass er daran gedacht haben soll, dessen Aufführung verbieten zu lassen.
Seine Eltern waren mit den Besitzern des Igeler Hofes befreundet. Er erinnerte sich gern an seine Aufenthalte in dieser ländlichen Idylle:
„Stieg man von Gladbach durch schönen Buchenwald, auf lauschigen Waldpfaden hinauf, so erblickte man oben zwischen Nussbäumen, Linden und Eschen, von weiten Wiesen, Feldern und Baumgärten umgeben, ein bescheidenes altes Landhaus, den Igeler Hof. Schaute man von hier nach Westen, so öffnete sich dem Blick die reiche fruchtbare niederrheinische Ebene, und am Horizont erschienen majestätisch die Türme des Kölner Doms. Im Osten aber grüßten von den waldigen Höhen kleine weiße Kirchen und Kapellen und das vieltürmige, ehemals Kurpfälzische Jagdschloss Bensberg. Reizende Waldwege führten hinunter nach der Igeler Mühle und dem reizenden Tal von Herrenstrunden.“
Therese Neissen hatte sogar durch Vermittlung von Bruchs Mutter ein Klavier gekauft, das im Januar 1851 im Saal des Igeler Hofes aufgestellt wurde. Das geschah im Beisein des angehenden Musikers, dem das Instrument fortan beim Komponieren dienlich war. Nach Beratung mit dem Maestro brachte man 1906 eine diesbezügliche Inschrifttafel an: „Max Bruch bediente sich dieses Tafelklaviers auf dem Igeler Hof in Bergisch Gladbach in den Jahren 1851-1888.“ Das Instrument soll sich heute noch am angestammten Ort befinden.
Bruchs „mütterliche Freundin“ Therese Neissen starb 1859. Ihr Tod fand seinen Niederschlag im Kyrie aus den Messesätzen op. 35. Daran erinnerte sich der Komponist auch später noch mit dankbarer Melancholie:
„Wochen und Monate hatte ich bei ihr auf dem Igeler Hof in der schönen Wald-Einsamkeit zugebracht, als Kind und heranwachsender Jüngling – mit ihrem Tode war das alles aus. Mein Schmerz war tief und anhaltend und zum Andenken an die mir so theure Verstorbene schrieb ich im Sommer 1859 in Bonn das Kyrie“.
Doch es war mitnichten „alles aus“ für Bruch in Bergisch Gladbach. Inzwischen hatte er nämlich, vermutlich auch auf dem Igeler Hof, den um zwölf Jahre älteren Richard Zanders kennengelernt. Der junge Papierfabrikant pflegte in seiner kargen Freizeit eine tiefe philosophisch-theologische Neigung und liebte die schönen Künste. Seine Mutter, früh verwitwet, war in den 1840er Jahren eigens nach Bonn gezogen, um ihrem Sohn ein kurzes Studium an der dortigen Universität zu ermöglichen. Die Familie residierte damals im ehemaligen Lustschlösschen Vinea Domini, das sich einst auf dem Gelände des heutigen Beethovengymnasiums befand. Dort pflegte man gute Nachbarschaft mit Ernst Moritz Arndt, der sich noch als Neunzigjähriger 1859 zu Fuß auf den Weg nach Bergisch Gladbach machte, um die Zanders zu besuchen. Arndt ließ sich damals von Richards junger Ehefrau bezaubern. Maria Johanny, die wohlerzogene Tochter eines Hückeswagener Tuchfabrikanten, teilte seit ihrer Hochzeit 1857 die musischen Neigungen ihres Mannes und wurde einbezogen in die Freundschaft mit Max Bruch.
Die Familie Zanders lebte inzwischen wieder in der Schnabelsmühle, die Max Bruch in seinen Briefen gelegentlich schwungvoll-elegant „Becmoulin“ nannte. Er war dort oft zu Gast. Die Schnabelsmühle war zusammen mit der Gohrsmühle die Keimzelle der Papierfabrik Zanders. Von den Mühlen im Strundetal ist wenig geblieben. Auch die Schnabelsmühle existiert nicht mehr. Der Name einer gesichtslosen Umgehungsstraße erinnert an die zu Gunsten eben dieses Straßenbauprojektes Ende des vergangenen Jahrhunderts abgerissene Mühle. Der Spaziergänger auf dem Max-Bruch-Weg wundert sich über die Schamlosigkeit, mit der er hier an den offenen Wunden der Stadt entlang geführt wird. Es ist schwer, sich in die Zeit Bruchs zurückzuversetzen angesichts von Blechlawinen, Parkplätzen und Reklametafeln. Da klingen die traditionsreichen Straßennamen „Schnabelsmühle“ und Gohrsmühle“ wie Hohn.
Aber ein historisches Kleinod verdient umso mehr Beachtung: das Kunsthaus Villa Zanders. Schon 1870 war Richard Zanders auf einer Reise durch die Schweiz gestorben. Seine junge und tatkräftige Witwe wurde Fabrikherrin. Als solche ließ sie für sich und ihre Familie 1873-74 diese historistische Villa errichten, in der immer ein Zimmer für Bruch reserviert war. Während er in Bonn wohnte, kam er einmal wöchentlich herüber. Auch später, in seiner Berliner Zeit, reiste er mehrmals im Jahr an. Die enge Verbindung ist auch durch Kompositionen belegt, die Bruch für die Familie und den von Maria Zanders geförderten Chor schrieb oder bearbeitete. Heute noch kann der sensible Besucher der Villa im Klavierzimmer die Gegenwart Max Bruchs herbeiträumen.
Doch vermutlich liebte Bruch die Einsamkeit und die Natur mehr als die Bequemlichkeit der Villa. Maria Zanders sorgte als aufmerksame Gastgeberin dafür, dass er auch weiterhin in der Abgeschiedenheit des Igeler Hofes arbeiten konnte. Davon zeugt ein Brief aus dem Sommer 1874, der offenbar den durch eine Botin überbrachten Proviant begleitete:
„Da sitzen Sie wie ein Vogel in dem grünen, grünen Wald u. wir hören das innere Singen und Klingen mit u. freuen uns daran aus vollster Seele! […] Ich schicke Ihnen durch Jungfer Hebe (Frau Rodenberg) nicht Ambrosia, aber Roastbeef u. Rothwein u. Eier, diesen Abend sollen Sie ein üppiges Mahl haben. […] Also ist mir auch nahe der, der auf der Igel sitzt u. mit leiblicher Nahrung des Geistes Geschäft fördern wird. Ihre M.“
Vielleicht sollte man dem Komponisten ohnehin nicht auf den Straßen Bergisch Gladbachs nachspüren, wie es der Max-Bruch-Weg streckenweise vorschlägt, sondern lieber im „grünen, grünen Wald“. In den schönen Hohlwegen oder an der still blubbernden Strundequelle versteht man am ehesten die Faszination, die für Bruch von der Natur des Bergischen Landes ausging. Die Strundequelle bei der ehemaligen Malteser-Komturei bildet den nordöstlichsten Punkt des markierten Weges. Die Strunde galt bis ins 19. Jahrhundert hinein als „der fleissigste Bach Deutschlands“. Er trieb zeitweise gleichzeitig 36 unterschiedliche Mühlen an. Zuerst waren es oft Schleif- und Pleißmühlen, wo die Kölner Harnischmacher ihre Werkstücke polieren ließen. Nach dem Niedergang dieses Handwerks wurden sie oft zu Pulvermühlen umgerüstet, seit dem 16. Jahrhundert dann zu Papiermühlen. Maria Zanders hatte 1876 die Dombach gekauft, die bereits seit 1614 eine Konzession zur Papierherstellung hatte. In den historischen Gebäuden betreibt der Landschaftsverband Rheinland heute ein sehr interessantes Industriemuseum.
Das Mühlrad der Dombach dreht sich noch. Viel Wasser ist schon die Strunde herabgeflossen. Vieles hat sich verändert. Max Bruch würde sein geliebtes Bergisch Gladbach heute wohl kaum noch wiedererkennen. Zu tief sind die Wunden, die Industrialisierung und Mobilität der Landschaft zugefügt haben. Vielleicht hat diese Entwicklung für Bergisch Gladbach schon mit der ersten Mühle im Strundetal begonnen? Bruch jedenfalls empfand die Natur dort noch als heil. Für ihn war sie nicht nur Ort der Rekreation sondern der Kreativität und der Beglückung.
„Ganz glücklich fühlte ich mich zu allen Zeiten nur, wenn ich in der Natur und mit der Natur leben konnte. Auch pflegte ich die Pläne zu meinen größeren Werken fast nie im Arbeitszimmer, sondern fast nur im Freien, auf weiten Spaziergängen in Wald und Feld zu entwerfen. Besonders lieb wurde mir schon in meiner Kindheit das benachbarte, von Köln leicht zu erreichende Bergische Land – das Land der singenden, klingenden Berge mit seinen grünen Matten, seinen herrlichen Wäldern und blumigen Wiesentälern.“
Gestorben ist Max Bruch dann ausgerechnet in der Großstadt Berlin, genau vor 100 Jahren, am 2. Oktober 1920.
Quellen:
Faltblatt zum Max-Bruch-Wanderweg
Hildegard Neuhauser: Musikpflege in Bergisch Gladbach im 19. Jahrhundert – die Unternehmerin Maria Zanders und der Komponist Max Bruch, Fernwald 2004 (hier auch die Zitate)
Fotos: E. Peters
2. Oktober 2020 || ein Beitrag der Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters