Ein Gebet der Sehnsucht in Zeiten der Krise

Ich habe meine Sehnsucht schon lange nicht mehr so intensiv erlebt wie in diesen Tagen der Krise. Natürlich sehne ich mich danach, dass das Leben wieder normal wird. Noch wichtiger ist aber, dass mir meine Sehnsucht, näher zu mir selber zu kommen, mehr bewusst wird. Wenn ich mit mir selber konfrontiert werde wie heute, ist es noch längst nicht gesagt, dass ich Fortschritte mache, im Gegenteil. Die Decke kann mir durch unfreiwillige Einsamkeit auf den Kopf fallen. Ich sehne mich nach meinen Lieben, nach den Menschen, mit denen ich mich verbunden fühlen darf, immer mehr und immer tiefer. Ich kann ihnen längst nicht immer leibhaftig begegnen. Aber das bedeutet nicht, dass das Band, das uns verbindet, dadurch schwächer würde. Ich sehne mich nach Dingen, die ich nicht in der Hand habe, und die ich doch nur allzu gerne unter Kontrolle hätte. Eines ist sicher: Das wird mir nun nicht gelingen. Dann spüre ich meine Sehnsucht umso mehr – und vor allem ihr offenes Ende.

Rituelle Gebetsmomente helfen dabei, das offene Ende der Sehnsucht nicht kaschieren zu wollen, sondern Gott darin zu suchen. Gott wartet im eigenen Innern, das man manchmal, für einen Augenblick betreten darf, mitten in der Krise. Gott wartet auch in den geliebten Menschen, die man vermissen darf, und mit denen man doch verbunden ist. Und Gott wartet in allen Situationen, die man nicht begreifen kann: die guten und auch die tragischen. Halte inne und öffne dein Herz: Das ist Gebet.

Jeder und jede muss selber erspüren, welche die richtigen Gebetsmomente. In unserem Kloster gibt es jeden Tag einen rituellen Parcours, dem ich folgen kann: Das Stundengebet gibt meinem Leben Form und Bedeutung. In den letzten Wochen ist es für mich jedoch fast noch wichtiger, dass ich zwei Mal pro Tag in der schönen Umgebung unserer Abtei wandere. Ich bin in Bewegung, aber manchmal halte ich bei mir selber inne. Alleine, aber manchmal sind meine Lieben mir nahe, auch die Leidenden. Gerade dann fühle ich mich mit allen verbunden, die in diesen Tagen leiden. Die Offenheit, die dadurch entsteht, kommt von Gott. Das folgende kleine Gebet der Sehnsucht ist in dieser Zeit entstanden. Ich teile es gerne mit allen, die wie ich Gott suchen.

Gott – offenes Ende meiner Sehnsucht:
Möge ich stets Raum in meinem Herzen schaffen
Auf dass ich meinem eigenen Innern näherkomme
Wo ich zu Hause bin.
Möge ich stets auf’s Neue Liebe empfinden
Auf dass ich allen weit entfernten Liebenden nahe bin
Die ich in Verbundenheit vermisse
Möge ich grenzenloses Mitgefühl empfinden
Auf dass alle, die leiden, Erleichterung erfahren
Und alle, die arbeiten, Stärkung.
Ich fühle mich in meiner Sehnsucht geborgen
Die Form und Sinn verleiht, gerade in schweren Tagen
Und deren offenes Ende ich Gott nennen darf.

Foto: Peter van Tuijl

6. April 2020 || Thomas Quartier OSB (geb. 1972) ist Mönch der Benediktinerabtei St. Willibrord in Doetinchem (NL) und Professor für Theologie in Nijmegen, Leuven und Rom.

Er war bereits mehrfach Referent und Gesprächspartner in der Akademie und ist auch Buchautor: Heilige Wut. Mönch sein heißt, radikal sein (Herder 2018) und Lebenslieder. Ein Soundtrack für Klosterspiritualität (Kösel 2019) u. a.