„Von diesen Merkwürdigkeiten der Wiederholung“ – Stefan Andres, Hanns-Josef Ortheil und Der Knabe im Brunnen
Dieser Tage unternimmt so mancher, coronabedingt, eine Reise in die Kindheit. Beliebte Urlaubsziele heißen derzeit nicht Toskana oder Türkei, sondern Ostsee und Bayrischer Wald. Ganz wie früher. Oder warum nicht gar Eifel oder Moseltal? Eine ganz besondere Moselfahrt möchte ich Ihnen heute empfehlen, eine literarische Reise auf den Spuren von Hanns-Josef Ortheil und Stefan Andres.
Der 1951 in Köln geborene Schriftsteller und Pianist Ortheil hatte 1963 als Elfjähriger mit seinem Vater eine Wanderung von Koblenz nach Trier unternommen und darüber einen Bericht verfasst. Diese kindlichen Aufzeichnungen, mitsamt der Postkarten, die er damals an seine Mutter schrieb, erschienen 2010 unter dem Titel Die Moselreise, ergänzt durch Betrachtungen des erwachsenen Autors. Schon 1963 hatte der junge Ortheil einen literarischen Reisebegleiter gefunden, eigentlich durch Zufall. In Moselkern bekam der Vater nach einer „famosen“ Weinprobe ein dickes Buch über deutsche Weine geschenkt. Der Autor hieß Stefan Andres. Andres war 1906 in Trittenheim-Dröhnchen zur Welt gekommen und liebte als geborener Mosellaner die edlen Tropfen von den Steilhängen der Mosel sehr. Er war mit seinen Novellen El Greco malt den Großinquisitor und vor allem auch Wir sind Utopia bekannt geworden, aber schrieb eben auch einen beliebten Weinführer. In Moselkern wurde nicht nur der Vater, sondern auch der Sohn mit einem Werk von Andres bedacht. Der Junge nahm den 1953 erschienenen autobiographischen Roman Der Knabe im Brunnen entgegen, der von der Kindheit des kleinen „Steff“ an der Mosel erzählt. Eine wunderbare Reiselektüre, nicht nur für den kleinen Ortheil. Der Elfjährige charakterisiert das Werk sehr treffend:
„Das Buch ist keine richtige Geschichte, sondern eine Lebensbeschreibung. Es gibt in dem Buch also sehr wenig, was richtig spannend ist, dafür aber sehr viel, an das sich der Junge, von dem die Geschichte handelt, erinnert. Der Junge erinnert sich nämlich einfach an alles: Wie er in seinem kleinen Bett gelegen hat, was er seine Geschwister und seinen Vater alles gefragt hat, wo er gewohnt hat. Der Junge hat in einer richtigen Mühle gewohnt, und sein Vater hat ihm erklärt, wie die Mühle arbeitet. Ich glaube, der Junge hat seinen Vater sehr gemocht, denn er erzählt sehr viel von seinem Vater. Der Vater des Jungen war auch ein guter Erklärer (so wie Papa).“
In der Tat ist die Erinnerung das große Thema des Buches. Beim ersten Lesen hatte es mich etwas seltsam berührt, dass Andres sich zu Beginn der fünfziger Jahre, als die Wunden der Naziherrschaft und des Krieges noch klafften, literarisch auf den Weg zurück in seine Kindheit machte, die deutlich idyllische Züge trägt. Aber Andres war kein unpolitischer Elfenbeinturmbewohner. Er hatte Jahre der inneren Emigration mit seiner jüdischen Frau in Positano verbracht und engagierte sich nach dem Krieg gegen atomare Aufrüstung und für den Weltfrieden. Doch ihm war klar, dass die Erinnerung den Menschen formt und leben lässt. Seinem autobiographischen Roman stellt er folgende Sätze voran:
„Das Vermögen, sich tief und gut zu erinnern, ist eine der wesentlichsten Gaben der Musen an den Dichter. Denn die Erinnerung allein schafft den Raum, in dem wir leben […]“
Die Erinnerung ist auch Ortheils großes Thema in Die Moselreise. Der Vater spricht mit seinem Sohn darüber:
„Bleibende Erinnerungen, sagte er auch noch, seien besonders wertvolle Erinnerungen, es sei aber gar nicht so einfach, solche bleibenden Erinnerungen zu bekommen und zu behalten, die meisten Erinnerungen gingen vielmehr recht bald verloren und zurück bleibe im Kopf dann nichts als kahle Platte, rein gar nichts, null. […] Ich fand die Vorstellung, dass in unseren Köpfen von den meisten Erinnerungen rein gar nichts, null, kahle Platte übrig bleibe, sehr schlimm, und ich war so erschrocken, dass ich gar nichts mehr sagte und statt dessen richtig schwieg und darüber nachzudenken versuchte, wie ich möglichst viele bleibende Erinnerungen sammeln und aufheben könnte.“
Im Grunde beschreibt Die Moselreise damit auch die Geburt des Schriftstellers Ortheil. Auch deshalb sind ihm diese Reise und der Bericht darüber so wichtig, dass er sie schließlich publiziert. Aber es ist auch die Erinnerung an den geliebten Vater, die er darin festhält. Und dieses Anliegen teilt Ortheil mit Stefan Andres, der seinen eigenen Vater, den schlichten Müller von der Mosel, als tiefsinnigen und liebevollen Menschen lebendig werden lässt. Lebendig werden aber auch die Landschaft und eine untergehende bäuerliche Welt. Schon nach den ersten Kapiteln des Romans muss die Familie wegen eines Talsperrenbaus die angestammte Mühle verlassen und nach Schweich ziehen. Damit endete für Andres ein wichtiger Lebensabschnitt.
Vor einigen Monaten las ich den großen Roman von Riccardo Bacchelli, Die Mühle am Po von 1938-40. Darin wird die Geschichte einer Müllerfamilie im Ferraresischen über mehrere Generationen hinweg erzählt. Übersetzt hat diesen dicken Wälzer der Müllerssohn Stefan Andres in seinem italienischen Exil. Damals waren die Verdienstmöglichkeiten für einen deutschen Autor in Positano mehr als kärglich. Aber ihm wird wohl auch die Erinnerung an die Mühle seines Vaters über die mühsame Fron hinweggeholfen haben. Ein Teil des Manuskriptes ging übrigens verloren, so dass Andres sich nach Kriegsende mit Unterstützung von Frau und Tochter in seinem neuen Domizil am Rhein nochmals an die Arbeit machen musste. In Unkel hatte die Familie Ende 1950 ihr neu erbautes Haus beziehen können. Dorothee Andres, die tatkräftige Ehefrau des Autors, berichtete in ihrem 2009 erschienenen Buch „Carpe diem!“ Mein Leben mit Stefan Andres:
„Obwohl das Haus zu Weihnachten noch nicht fertig war – es gab zum Beispiel keine Haustür – beschloss mein Mann dennoch wenige Tage vor Weihnachten, wir müssten dieses Fest im eigenen Haus feiern! So zogen wir ein, am Abend wurden die Zimmer notdürftig mit Besen und feuchten Lappen von den Handwerkerspuren gesäubert, jeder legte seine Matraze auf den Boden. Doch das Fest wurde feierlich […]“
Bald darauf verfasste Andres für Westermanns Monatshefte einen kleinen Beitrag unter dem Titel Schweich, der Flecken. Dieser Artikel wurde zur Keimzelle für seinen populärsten Roman, Der Knabe im Brunnen. Das letzte Kapitel beendete Andres im Januar 1953. Schon in den dreißiger Jahren war Andres mit Moselländische Novellen literarisch in seine Heimat zurückgekehrt. Nun aber breitete er ein Panorama seiner ganzen Kindheit bis zum Aufbruch nach Vaals, wo er das Collegium Josephinum besuchen sollte, vor dem Leser aus. Der Roman endet mit den Sätzen:
„Mitten in der guten Stube, in die ich leise eintrat, stand ein großer Koffer. Er war fertig gepackt. Ich merkte es erst jetzt, als ich ihn hochheben wollte. Ich erschrak ein wenig, denn ich bekam ihn nicht von der Stelle.“
Der schwere Koffer ist auch ein Symbol für die reichen Erinnerungen des nun nicht mehr so kleinen „Steff“. Ortheil würde sagen: Die bleibenden Erinnerungen. In seiner Moselreise notierte der Elfjährige am letzten Ferientag, dem 03. August 1963:
„Ich habe das Buch ausgelesen, das Ende war aber seltsam, denn als ich die letzten Seiten des Buches gelesen habe, habe ich gelesen, dass der Junge am Ende von der Mosel, wo er aufgewachsen ist, weg fährt und dass er nach Köln fährt. Am Ende des Buches steht der Junge nämlich in seinem Moseldorf und denkt an Köln, und er denkt sogar an den Kölner Dom und an die großen Säulen des Kölner Doms, die er bald zu sehen bekommen wird. Da habe ich auch an Köln und den Kölner Dom denken müssen […]“
Der „kleine Steff“ wird für Ortheil gewissermaßen zum alter ego. Ortheil nimmt sogar Kontakt zu dem älteren Schriftstellerkollegen auf, der seit 1961 in Rom lebte.
„Ich hatte es nach meiner Ankunft in Rom Ende der sechziger Jahre sogar gewagt, den damals ebenfalls in Rom lebenden Stefan Andres anzuschreiben und ihn um eine Begegnung zu bitten. Stefan Andres hatte mir sehr freundlich geantwortet und mich in seine römische Wohnung eingeladen. Zugleich hatte er mir jedoch auch mitgeteilt, dass er sich vor unserer Begegnung einem kleinen operativen Eingriff unterziehen müsse. Er schien diesen Eingriff nicht sonderlich ernst zu nehmen, denn er verabredete sich mit mir zu einer genau angegebenen Stunde einige Tage nach der Operation. Dann jedoch erhielt ich die Nachricht, dass Stefan Andres an dem operativen Eingriff gestorben sei. Während meiner römischen Tage konnte ich ihn also nicht mehr besuchen, sondern ihm nur noch an seinem Grab auf dem Campo Santo Teutonico direkt neben der Peterskirche die letzte Ehre erweisen.“
Andres war am 29. Juni 1970 in Rom verstorben. Seitdem sind 50 Jahre vergangen. Grund genug, an ihn zu erinnern. Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil zeigt jedoch, dass Andres und sein autobiographischer Roman Der Knabe im Brunnen nie ganz vergessen waren. Ortheil wiederholte als Erwachsener in den späten achtziger Jahren nicht nur minutiös die Wanderung von Koblenz nach Trier im Andenken an seinen Vater, sondern er wiederholte unterwegs auch die Andres-Lektüre von damals. Und er berichtet als Schriftsteller, zu dem er inzwischen geworden war, „von den Merkwürdigkeiten der Wiederholung“. Nur eine einzige Abweichung vom Itinerar der ersten Moselreise erlaubte er sich: Ortheil wollte das Geburtshaus von Stefan Andres im Tal der Dhron besuchen:
„Ich fand die alte Mühle dann wahrhaftig, sie war bewohnt, und auch ihre Bewohner waren so freundlich, dass sie mich schließlich sogar zu dem Brunnen führten, in dessen dunkle Tiefe der junge Stefan Andres früher schaudernd und erschrocken hinuntergeschaut hatte, um im Spiegelbild des Wassers das Bild eines fremden Jungen zu entdecken, der ihn in die Tiefe ziehen wollte. Damals, kurz vor dem Ende meiner zweiten Moselreise, stand ich also vor dem Andresschen Brunnen und schaute in seine Tiefe.“
Ortheil erkennt gleichnishaft im Spiegelbild sich selbst und seine Aufgabe als „Aufschreiber“. Er bezieht sich damit auf die Szene, die dem Roman Der Knabe im Brunnen seinen Titel gab. Bei Andres steht sie, anders als bei Ortheil, ziemlich am Beginn des Buches. Der „kleine Steff“, der mit den Bäumen und den Kühen spricht, lebt noch ganz in der märchenhaften Welt der Kindheit. Er hat Angst vor dem Wassermann, der kleine Jungen in den Brunnen hinabzieht, wo sie dann für immer seine Gänse hüten müssen. Derlei Geschichten sollten neugierige Kinder vom gefährlichen Brunnen fernhalten. Doch Steff wirft eines Tages dennoch einen Blick hinein. Aber noch erkennt er sein eigenes Spiegelbild nicht und sieht in der Tiefe des Schachtes „den Knaben im Brunnen“. Steff lebt noch völlig in der Gegenwart und ist eins mit den Dingen und der Natur. Erst am Schluss des Buches, beim Abschied von Schweich und vom Grab seines Vaters, reflektiert der Halbwüchsige seine „bleibenden Erinnerungen“ und blickt auf sich und seine inzwischen zu Ende gegangene Kindheit:
„Ich seufzte tief auf und weinte plötzlich. Bisher hatte ich nie daran gedacht, daß die Zeit auf der Mühle im Dhrontal wirklich vergangen sei, die Zeit, da ich kleine Blumen aß, weil sie schön waren; die Zeit, da ich in den Brunnen guckte und Vater mich in den Traum gewiegt hatte …“
Haben Sie, liebe LeserInnen, Lust auf eine Begegnung mit dem „kleinen Steff“? Möglicherweise möchten Sie auch eigene Erinnerungen an eine erste Lektüre des Romans vor vielen Jahren auffrischen? Vielleicht interessieren auch Sie sich für „diese Merkwürdigkeiten der Wiederholung“? Dann lauschen Sie doch einfach dem Kapitel „Das Gesicht im Brunnen“, das ich für Sie in meinem improvisierten home-studio eingelesen habe.
Textquellen:
- Stefan Andres: Der Knabe im Brunnen, München 1953
- Dorothee Andres: „Carpe Diem!“ Mein Leben mit Stefan Andres, Bonn 2009
- Hanns-Josef Ortheil: Die Moselreise, München 2010
Bildquelle:
- Wikipedia, gemeinfrei (Urheber: Mosella)
6. August 2020 || ein Beitrag der Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters