Gutes Leben in Zeiten wie diesen? Eberhard Ortland im Gespräch mit Anne-Katrin Kleinschmidt

Das gute Leben: Maßstab und erstrebenswertes Ziel wohl für alle Menschen. – Doch, was heißt das genau? Wie werden die Bedingungen definiert oder verändern sich auch im Laufe der Zeit? Und wie erfüllt es sich in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie? In Vorbereitung auf das philosophische Seminar „Gutes Leben in Zeiten wie diesen?“ war Akademiereferentin Anne-Katrin Kleinschmidt im Gespräch Dr. Eberhard Ortland.

Dr. Eberhard Ortland, Sonderforschungsbereich „Recht und
Literatur“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster,
Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft
in Bochum (RUB), Berlin (FU) und Kyōto.

Vorstellungen vom guten Leben bestehen wohl, seit der Mensch philosophisch denkt. Welche Rolle spielen dabei Aspekte wie eine innere Gelassenheit und Zufriedenheit, ein Freisein von negativen Gefühlen?
Vorstellungen vom guten Leben haben die Menschen schon bewegt, lange bevor die Philosophie erfunden wurde und bevor sie in der Lage waren, bestimmte ihrer Fragen als philosophische Fragen zu verstehen. Elementar ist die wertende Unterscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚schlecht‘, dem Wohlbefinden dienlich oder es störend. Womit immer wir es zu tun haben: Stets bewerten wir es, und diese Bewertungen sind praktisch relevant. Wir suchen das Gute – das für uns Gute –, während wir das Schlechte, oder das, was schlecht für uns wäre, zu meiden suchen. Was immer wir tun, tun wir um eines Guten willen, genauer: um eines vorgestellten Guten willen, wie die Philosophen seit Sokrates (oder auch schon vor Sokrates, seit der sophistischen Aufklärung) bemerkt haben. Dies ist der Einsatzpunkt oder zumindest einer der Einsatzpunkte des philosophischen Denkens: die kritische Distanz zu den Sachen, die sich daraus ergibt, dass man darauf aufmerksam wird, dass uns alles – oder doch so gut wie alles, womit wir es zu tun bekommen und was wichtig für uns wird –, nicht unmittelbar gegeben ist, sondern wir uns auf die Sachen und Ereignisse vermittels der Vorstellungen beziehen, die wir uns jeweils davon machen, und dass diese Vorstellungen mehr oder weniger richtig und unter Umständen eben auch falsch sein können.

Das erstrebte Gute ist, solange wir es erstreben und dafür bestimmte Anstrengungen auf uns nehmen, für uns zumeist gerade nicht die erfahrene Wirklichkeit, sondern bloß vorgestellt, erhofft und erwartet – wie andererseits die Übel uns zunächst und zumeist mehr in der Form des vorgestellten, gefürchteten Übels betreffen oder in der Form des erinnerten Übels aus der Distanz des Davongekommenen, des Überlebenden. Das schlechterdings Gute oder Schlechte wird kaum je unmittelbar erfahren. Wir könnten es, wenn es uns denn einmal ausnahmsweise zuteilwerden sollte, vielleicht gar nicht als solches erkennen. Grundlegend ist eher die graduelle Unterscheidung des vergleichsweise besser Erscheinenden vom vergleichsweise Schlechteren. Das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten.

Wie auch immer: Wenn die dringendste, aktuelle Not gelindert ist – wenn wir erst mal gesund und satt sind und genügend Vorräte für den nächsten Winter im Speicher haben –, können wir frei dafür werden, die Perspektive zu weiten und nach dem erstrebenswerten Guten nicht nur für diesen und den nächsten Augenblick zu fragen, sondern uns zu fragen, was eigentlich unser Leben im Ganzen zu einem guten oder erstrebenswerten machen könnte, und was für Gefahren oder Verfehlungen dazu führen könnten, dass unser Leben insgesamt scheitert, dass es unter Umständen erbärmlich, verächtlich, peinlich oder schändlich würde.

Die Wünsche nach innerer Gelassenheit und Zufriedenheit, nach einem Freisein von negativen Gefühlen, sind also vermutlich nicht die ersten Wünsche, nicht die ersten Vorstellungen vom guten Leben, die uns in den Sinn kommen. Es sind Wünsche, die als wesentliche Aspekte des erstrebenswerten Lebens erst dann in den Blick kommen, wenn wir bestimmte Erfahrungen gemacht haben mit anderen Vorstellungen vom guten Leben und damit, was es heißt, sie zu verfolgen und vielleicht sogar zu erreichen. Denken Sie nur an das Gebet von Janis Joplin –

Oh Lord, wonʼt you buy me a Mercedes Benz?

Ja, genau: Meine Freunde fahren Porsche, da muß ich doch dagegenhalten. Ich muß mir jeden Taler hart erarbeiten, meine Freunde können mir nicht helfen. Also bitte, lieber Gott, schenk du mir doch den Benz! Und ʼnen Farbfernseher, bitte, mal ordentlich die Sau rauslassen in der Stadt, und so weiter.
Andere sind ehrgeiziger. Sie möchten beruflich, im Sport oder in der Wissenschaft an die Spitze kommen oder politisch mitgestalten, sich durchsetzen, allgemeine Anerkennung genießen – alles keine verächtlichen Ziele, die aber den Leuten, die sich dafür engagieren, und häufig auch ihren Familien einiges abverlangen. Stress, Entfremdung, Burnout – die Stichworte sind bekannt. Manche finden, wenn sie auf so einem Weg erfolgreich sind, auch tatsächlich ihre Erfüllung darin. Sie genießen die Möglichkeiten, die ihnen offenstehen, vielen anderen aber nicht, und freuen sich jeden Tag, dass sie es geschafft haben. Schön für sie! Aber gerade in hoch kompetitiven Bereichen ist es wenig wahrscheinlich, dass sie sich lange daran freuen können. Wenn sie anfangen, sich auf ihrem Erfolg auszuruhen, beginnt der Abstieg. Die Konkurrenz schläft nicht. Und dann müssen Sie sehen, wie Sie es schaffen, nicht von Selbstzweifeln, Ressentiment, Neid, Eifersucht oder Haß zerfressen zu werden, wie sie ihre Gelassenheit und Zufriedenheit unabhängig von den wechselnden Konjunkturen des ihnen mal mehr, mal weniger holden Glücks stabilisieren können.

Aktuell begegnet uns aller Orten der Trend der Achtsamkeit. Sind wir dem guten Leben damit mehr als je zuvor auf der Spur?
Sie wollen auch gern die beste sein? Weltmeisterin im guten Leben? Besser als je zuvor, besser als alle anderen?
Achtsamkeit ist zweifellos eine gute Sache, auf jeden Fall besser als Achtlosigkeit. Nur inwiefern es stimmt, dass unsere Zeit sich darin hervortut vor früheren Zeiten, weiß ich nicht. Wenn ich mir die Nonchalance anschaue, mit der unsere Gesellschaft in den letzten vierzig, fünfzig Jahren die wiederholt vorgetragenen, dringlichen Appelle zur Vermeidung oder Einhegung der sich anbahnenden Klimakatastrophe und der sich verschärfenden ökologischen Katastrophen in den Wind geschlagen hat, habe ich gewisse Zweifel, inwiefern wir berechtigt sind, dieser Gesellschaft insgesamt eine gesteigerte Achtsamkeit nachzusagen.

Aber es stimmt schon, dass momentan oder in den letzten Jahren deutlich mehr Leute über ‚Achtsamkeit‘ sprechen als vor etwa dreißig Jahren. Damals wurde mehr über ‚Freiheit‘ geredet, oder vor vierzig Jahren über ‚Selbstverwirklichung‘, was in vielen Fällen erst mal aufwendige ‚Selbstfindungs‘- und ‚Selbstbefreiungs‘-Prozesse voraussetzte. Die aktuelle Konjunktur der ‚Achtsamkeit‘ setzt da schon merklich andere Akzente.

Nun ist Ihre Frage, wenn ich Sie recht verstehe, inwiefern das Bemühen um Achtsamkeit zumindest derjenigen, die sich darum bemühen und darüber sprechen, diese Leute selbst einem für sie selbst guten Leben näher bringen mag und inwiefern es vielleicht darüber hinaus auch dazu beitragen mag, das Leben der anderen ein wenig besser oder zumindest nicht schlechter zu machen.

Genau so ist meine Frage gemeint.
Ich weiß nicht, ob ich auf diese Frage eine klare und einfache Antwort geben kann. Offenkundig verstehen verschiedene Leute unter der zu empfehlenden und einzuübenden ‚Achtsamkeit‘ durchaus Verschiedenes. Das Wort wird seit bald hundert Jahren als Übersetzungsausdruck für einen wichtigen Begriff der buddhistischen Lehre verwendet, der in der Pali-Sprache der alten buddhistischen Lehrschriften sati geschrieben und im Englischen meist als „mindfulness“ übersetzt wird. Paul Dahlke hatte dieses Pali-Wort, das allgemein auch für Phänomene der Erinnerung oder des sich etwas wieder Vergegenwärtigens verwendet wird, noch etwas sperriger mit „Verinnerung“ übersetzt; in anderen Übersetzungen findet man auch „Besinnung“. In der Erlösungslehre des edlen achtfachen Pfades wird die „rechte Achtsamkeit“ an siebter und vorletzter Stelle vor der alles vereinigenden „rechten Konzentration“ gefordert oder empfohlen. Es gilt in der buddhistischen Tradition als ausgemacht, dass diese ‚rechte Achtsamkeit‘ eingeübt werden kann und muss. Insbesondere in der Hinayana-Lehrtradition des Theravada-Buddhismus, die in Sri Lanka und Südostasien fortlebt und für die europäische und amerikanische Buddhismus-Rezeption im 20. Jahrhundert (neben dem sino-japanischen Zen-Buddhismus und dem tibetischen Lamaismus) eine große Rolle gespielt hat, gilt die meditative „Übung der Achtsamkeit“ durch Atembetrachtung als grundlegend. Entscheidend für die Aufhebung der leidhaften Existenz ist die klare Einsicht in die drei Daseinsmerkmale der Vergänglichkeit, des Leidens und des „Nicht-ich“ bzw. der Selbstlosigkeit (anatman). Diese Einsicht nun ständig im Blick zu haben, sie bei allem, was einem widerfährt, zu beachten – das ist, was in dieser buddhistischen Tradition unter sati verstanden wird, und das ist wohl auch, was zumindest einige deutschsprachige Buddhisten meinen, wenn sie von ‚Achtsamkeit‘ sprechen.

Mir scheint allerdings, dass in der aktuellen Konjunktur der ‚Achtsamkeit‘ die meisten doch eher etwas anderes im Sinn haben. So propagiert zum Beispiel der in Europa und den USA ziemlich einflussreiche vietnamesische buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh, der stärker durch die Zen-Tradition geprägt ist, wenn er sich auch intensiv um eine Synthese verschiedener buddhistischer Schulen bemüht hat, unter dem Label ‚Achtsamkeit‘  (oder auf Englisch ‚mindfulness‘) vor allem den Anspruch, in jedem Moment ‚geistig präsent‘ zu sein und somit ‚voll und ganz in der Gegenwart‘ zu leben. Die Übenden werden angehalten, jeden einzelnen Augenblick des Tages in gleichbleibend hoher Wachheit mit absichtlich aktivierter Aufmerksamkeit bewusst wahrzunehmen. Wow! Wer kann das schon? Dabei sollen insbesondere gefühlsmäßige Reaktionen aller Art, wann immer sie sich melden, in einer Haltung unerschütterlicher Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen und beobachtet werden; allein dadurch werden ihre Auswirkungen bereits abgeschwächt. ‚Achtsamkeit‘ ist in diesem Sinn also eine Weise, sich zu sich selbst, zur jeweiligen Gegenwart und insbesondere auch zu seinen Gefühlen zu verhalten, sie nicht zu verdrängen, sondern aufmerksam zu registrieren und dadurch zugleich zu verändern.

Schließlich haben wir es in jüngerer Zeit mit einer steigenden Beliebtheit von Achtsamkeits-Schulungsprogrammen zu tun, die seit dem späteren 20. Jahrhundert vor allem in den USA und teilweise auch in Westeuropa in der Psychologie und der Psychotherapie entwickelt worden sind. Diese Programme wurden zwar auch beeinflusst durch die Buddhismus-Rezeption, legen aber den Akzent erklärtermaßen nicht auf die Einsicht in Vergänglichkeit, Leiden und Selbstlosigkeit, sondern sie empfehlen bestimmte Achtsamkeitsübungen als Mittel zu bestimmten Zwecken – zur Heilung bestimmter Leiden und somit zur Verbesserung des Lebens der Übenden. Relativ bekannte Beispiele sind etwa das von dem amerikanischen Mediziner Jon Kabat-Zinn entwickelte Übungsprogramm zur ‚Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion‘ (Mindfulness-Based Stress Reduction) oder auch die Mindfulness-Based Cognitive Therapy zur Behandlung beziehungsweise Prävention von Depressionen.

Also gibt es nicht ‚die‘ Achtsamkeit, die zwangsläufig in Verbindung mit einem guten Leben steht.
(Wie) ist aber das gute Leben lernbar?
Das gute Leben – was immer es für uns jeweils sein sollte – ist kaum in der Weise lernbar wie etwa die Berechnung der langen Seite eines rechtwinkligen Dreiecks, dessen Schenkellängen wir kennen: Den Satz des Pythagoras müssen wir erst lernen, wir wissen das nicht von selbst;  aber haben wir ihn einmal verstanden und gelernt, wie er anzuwenden ist, dann haben wir mit diesem Typ von Aufgaben kein Problem mehr. Die Sorge um unser eigenes Leben und wie es sich möglichst gut entwickeln könnte, ist von grundlegend anderer Art als mathematische oder technische Aufgaben. Sie ist schwieriger und komplexer selbst als etwas so Schwieriges und Komplexes wie gut Geige spielen, was nicht jeder lernen kann und was noch die besten Könner täglich üben müssen, wenn sie drin bleiben wollen.

Dennoch gibt es durchaus einiges, was für das gute Leben unter Umständen relevant werden könnte, was man lernen kann und wohl auch lernen muss. – Aber Vorsicht! Es wäre verfehlt und geradezu gefährlich, so zu tun, als gäbe es feststehende und für jeden gleichermaßen verbindliche Anforderungen des guten Lebens, einen Lehrplan, den wir alle absolvieren müssen, und hat man das geschafft, dann klappt es auch mit dem guten Leben. So geht es nicht.

Grundsätzlich können und müssen wir davon ausgehen, dass unser Leben uns nicht ohne weiteres, nicht einfach von selbst gelingt und gut wird. Wir müssen erst lernen, was wir dafür tun können und wie wir es machen sollten und was wir besser lassen sollten. Aber es liegt nicht ganz und nur in unserer Hand, ob wir unser Leben aktuell oder irgendwann einmal als ein gutes Leben erleben können, oder ob am Ende doch das überwiegt, was wir als bedrückend, quälend oder unerträglich empfinden. Immerhin gehört es, denke ich, ganz wesentlich zu unserem Selbstverständnis und zu unserer Vorstellung von unserem Leben, und daher auch zu einer Vorstellung vom guten Leben, die wir einleuchtend finden können, dass dieses Leben jeweils für uns selbst etwas ist und sein sollte, das nicht irgendwie durch fremde Mächte vorherbestimmt und über uns verhängt wurde, sondern das ganz wesentlich unsere eigene Sache ist – dass es also in unserem Leben und für unser Leben auf unsere Entscheidungen und auf unser Können ankommt. Und dieses Können ist nicht einfach etwas Gegebenes oder halt leider Fehlendes. Sondern wir müssen davon ausgehen, dass es zwar in jedem von uns gewisse Potenziale gibt, die aber jeweils der Entwicklung bedürfen, und da kommt es eben darauf an, wie wir damit umgehen. Daher sind wir, glaube ich, gut beraten, zumindest einige der Fähigkeiten, die wir zur Ermöglichung eines guten Lebens brauchen, als zumindest ein Stück weit lernbar anzusehen. Die spannende Frage ist dann natürlich: Wie können wir das lernen, worauf es ankommt, um unsere Chancen auf ein gutes Leben zu verbessern?

Genau: Von welchen Denkmustern müssten wir uns befreien, welche neu ausbilden?
Zur Anerkennung der eigenen Bedürftigkeit und Verletzlichkeit gehört auch die Einsicht, dass es legitime Sicherheitsbedürfnisse gibt. Aber ich habe den Eindruck, dass manche Leute zu wenig aufmerksam darauf sind, wie sehr sie ihr eigenes Leben beschädigen durch den Stellenwert, den sie dem Wunsch nach Sicherheit einräumen und dem Festhaltenwollen an dem, was sie haben und was sie sind oder zu sein meinen.

Neu ausbilden, einüben, vertiefen und erweitern sollten und müssen wir unsere Fähigkeiten zum Umgang mit Fremdem und mit Fremden. Das heißt nicht, dass wir nun alle möglichst weit reisen sollten, um auch die exotischsten Fremden in den entlegensten Ecken der Welt einmal persönlich gesehen zu haben, und zu sehen, wie man sich zur Not mit Händen und Füßen und vielleicht noch etwas Bargeld verständigen kann. Es heißt auch nicht, dass wir die Fremden idealisieren oder sie alle einladen sollten, zu uns zu kommen. Das würde uns alle überfordern. Zunächst einmal müssen wir lernen, die Fremdheit der Fremden wahrzunehmen und als solche auch bestehen zu lassen, ohne die Fremden zu vereinnahmen oder zu verteufeln.
Der Soziologe Norbert Elias hat seine Erfahrung der Fremdheit bei Gelegenheit einer Reise nach Tanger in Marokko einmal in die Verse gefasst:

           „How strange these people are
How strange I am
How strange we are“

Dieser Dreischritt könnte hilfreich sein: Wie befremdlich sind mir doch die Fremden in der Fremde! – Aber erstmal bin ja ich hier der Fremde; ich muss ihnen mindestens so befremdlich erscheinen wie sie mir. – Ist es nicht merkwürdig, und verbindet es uns nicht in einer tiefen Weise, dass wir einander so fremd sein können?

Offenkundig ist, dass neben der inneren Einstellung äußere Umstände wie ein sicheres Einkommen, eine gute Bildung und vielfältige Sozialkontakte das Wohlergehen steigern.
Mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie sind diese Faktoren allesamt bedroht.
(Wie) verändern sich dadurch die Vorstellungen vom guten Leben?
Die Rede von der Pandemie suggeriert, dass wir gegenüber dieser Krankheit, diesem Virus, alle gleich seien. Das ist auch ein Stück weit wahr – und durchaus bemerkenswert in unserer von Ungleichheit geprägten Welt. Immerhin haben wir gesehen – und das war für viele denn doch überraschend, das kannten wir so nicht –, dass die Reichen und Mächtigen, die Mobilen und Kontaktfreudigen ebenso anfällig sind für dieses Virus wie die Tagelöhner, die in den Schlachtfabriken unter furchtbaren Bedingungen schuften, damit das Filet für jedermann erschwinglich im Supermarkt angeboten werden kann. Und es trifft auch zu, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass aufgrund dieser Krankheit sowie aufgrund der Maßnahmen zur Vermeidung oder Eindämmung der Krankheit sehr viele Leute ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt verloren haben oder noch verlieren werden. Und niemand weiß, wie es in den nächsten Monaten und in den Jahren danach weitergehen mag. Das bedeutet auch für diejenigen, die noch nicht selbst direkt in Not geraten sind, eine erhebliche Erschütterung ihrer Zukunftspläne und unseres Glaubens an die Möglichkeit, ihre Zukunft und ihr Leben selbst gestalten zu können. Wir machen gerade auf breiter Front eine Erfahrung der Zerbrechlichkeit des Guten, wie sie – nach den Analysen der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum – auch in den alten griechischen Tragödien artikuliert und verarbeitet wurde.

Die Frage ist, wie gehen wir damit um? Mit dieser Erschütterung – und mit dem Virus, das wir nicht sehen können, von dem wir aber befürchten müssen, dass es irgendwo in der Luft liegen könnte? Ziehen wir uns zurück, versuchen wir, irgendwie zu überwintern, die Kontakte zur Außenwelt möglichst zu reduzieren? Oder neigen wir zum Tanz auf dem Vulkan? Jetzt erst recht, wer weiß wie lange das noch geht? Verlangt die Verbundenheit zu unseren alten Eltern oder Großeltern, daß wir sie nicht besuchen? Können die das verstehen und fühlen? Oder fühlen sie sich im Stich gelassen? Und wie lange soll das so gehen?

Und wie gehen wir damit um, wie unsere Nachbarn und Mitmenschen sich in der Krise und zu der Krise verhalten? Nach einigen Monaten coronabedingter Einschränkungen verhärten sich die Fronten. Man verlangt nach Bestätigung und viele ertragen es anscheinend immer weniger, wenn ihnen Menschen begegnen, die sich ganz anders verhalten, als sie selbst es für richtig und nötig halten.

Der Soziologe Hartmut Rosa nennt die Resonanz zur Welt maßgeblich für gelungenes Leben; Wettbewerb und Beschleunigung seien hingegen Resonanzkiller, weil sie systematisch Angst erzeugen und damit eine problematische Weltbeziehung darstellen. Mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie wurden nun Wettbewerb und Beschleunigung notgedrungen zumindest für eine gewisse Zeit angehalten. Lehrt gutes Leben richtig verstanden, die „Krise“ als Chance, als besondere Zeit und als Atempause zu nutzen?
Ich glaube, Rosa trifft mit dem Begriff Resonanz etwas sehr wichtiges, wobei es nicht nur darum geht, dass es für mein Leben und meine Glücksmöglichkeiten entscheidend ist, wie ich mich in positiver Resonanz zu meinen Nächsten und zur Welt oder erst mal zu bestimmten, mir wichtigen Gegebenheiten meiner näheren Umwelt einschwinge. Auch die Entwicklungen, die ich gerade angesprochen habe, das verbreitete Bedürfnis, Bestätigung zu erfahren, das sich in Demonstrationen oder auch in den Kommentarspalten der Internetforen zunehmend gehässig Bahn bricht: auch das sind ja Resonanzphänomene. Rosa neigt manchmal dazu, die Resonanz zu idealisieren. Mit der plakativen Gegenüberstellung von guter Resonanz und bösen Resonanzkillern versperrt er sich vielleicht selbst ein Stück weit die Möglichkeit, zu sehen, wie es kommt, dass der Wettbewerb uns in diese schreckliche Beschleunigung hineintreibt. Denn auch das sind Resonanzphänomene, wenn auch anderer Art als die von Rosa bevorzugt Beschriebenen. Ich muss im Takt bleiben, auch wenn es mir vielleicht längst zu schnell geht, auch wenn mir schwindlig davon wird; dieser Resonanz kann ich mich nur schwer entziehen.

Worauf es für das gute Leben ankommt, ist demnach nicht einfach nur eine Aufmerksamkeit – fast hätte ich gesagt, ‚Achtsamkeit‘ – auf Resonanzen und auf die Bedingungen, unter denen sie sich je unterschiedlich entfalten können, sondern auch ein kritisches Unterscheidungsvermögen für das, was die verschiedenen Resonanzen mit uns machen und in uns auslösen. Nicht alles, in das wir durch Resonanz hineingezogen werden, ist gut.

Die Zeit im Frühjahr, als die Schulen, Kitas, Universitäten und fast alle Geschäfte und Ausflugsziele geschlossen, alle Veranstaltungen abgesagt wurde, der Luftverkehr und der Straßenverkehr fast zum Erliegen kam – das war schon eine besondere Zeit, in der drei, vier Wochen lang die Zeit fast wie angehalten schien. Die meisten sind zuhause geblieben und wenn man doch mal vor die Tür ging, erschien es fast unwirklich, wie die Obstbäume blühten.

Es kräftigt unseren Sinn für die Möglichkeit auch tiefgreifender Veränderungen ungemein, dass wir erlebt haben, wie so etwas in kürzester Zeit in unserem Land und mehr oder weniger gleichzeitig in größeren Teilen der Welt beschlossen und durchgesetzt werden kann. Ich bin weit entfernt davon, den ‚Lockdown‘ zu idealisieren; die Folgeschäden werden uns und anderen noch lange zu schaffen machen. Aber dass es möglich war, die doch erheblichen Gründe, die dagegen sprachen, durch eine entschiedene Priorisierung des als vordringlich geltenden Ziels der Pandemiebekämpfung beiseite zu setzen, „das vergisst sich nicht“, wie Kant einst über die französische Revolution sagte.

Umbruchsituationen bieten immer auch besondere Chancen – jedenfalls für Leute, die ein Verständnis dafür entwickeln, was los ist, und die unterscheiden können zwischen dem, was so nicht wird weitergehen können, und den keimhaften Ansätzen des Zukunftsträchtigen. Aber Krisen und gerade auch die aktuelle Situation sind nicht einfach nur Chancen für Glücksritter, sondern vor allem Bewährungsproben, in denen sich zeigen muss, inwiefern wir bereit und in der Lage sind, füreinander und für die Verletzlichsten und Bedürftigsten einzustehen.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Diese und weitere Gedanken zu Fragen des guten Lebens sind Gegenstand des philosophischen Seminars „Gutes Leben in Zeiten wie diesen?“ am 30. und 31. August 2020 in der Thomas-Morus-Akademie Bensberg mit Dr. Eberhard Ortland: Informieren Sie sich hier.

9. August 2020 || ein Interview von Anne-Katrin Kleinschmidt, Akademiereferentin

Diese und weitere Gedanken zu Fragen des guten Lebens sind Gegenstand des philosophischen Seminars „Gutes Leben in Zeiten wie diesen?“ am 30. und 31. August 2020 in der Thomas-Morus-Akademie Bensberg mit Dr. Eberhard Ortland: Informieren Sie sich hier.