Buchtipp: Auf Messers Schneide
Es gibt Bücher, die einen im Kopf um die ganze Welt und quer durch die Zeit reisen lassen. Ein solches bekam ich vor vielen Jahren von einem befreundeten Kaplan in die Hand gedrückt: William Somerset Maughams 1944 erschienener Roman „Auf Messers Schneide“ (Original: „The Razor‘s Edge“). Es ist bis heute eines meiner Lieblingsbücher geblieben. Von Zeit zu Zeit blättere ich darin und lese mich sofort wieder an der ein oder anderen Stelle fest.
Maugham tritt selbst als Ich-Erzähler in Erscheinung und erzeugt so die Illusion, bei seiner Geschichte handele es sich um eine wahre Begebenheit. Er führt uns zunächst in die Salons der oberen Zehntausend im Chicago nach dem Ersten Weltkrieg. Hier lernen wir den jungen und charmanten Larry Darrell kennen, der als Jagdflieger selbst am Kampfgeschehen teilgenommen hat und nun den Weg zurück in die elitäre Gesellschaft nicht findet.
Wir folgen Larry nach Paris, wo er einige Zeit verbringen will, um seine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Diese Entscheidung verstört seine Jugendfreundin und Verlobte Isabel Bradley, die Larry drängt, nach Chicago zurückzukehren und als Börsenmakler in der Firma des gemeinsamen Freundes Gray Maturin zu arbeiten. Larrys Gegenangebot, gemeinsam mit ihm ein einfaches Leben inmitten der Pariser Künstler- und Intellektuellenszene zu führen, kann die verwöhnte Isabel nicht begeistern. Die beiden lösen ihre Verlobung einvernehmlich und gehen getrennte Wege. Larrys Verhalten betrachtet auch Isabels Onkel Elliott Templeton mit Argwohn. Dieser Onkel Elliott, der es in Europa als erfolgreicher Kunsthändler zu beträchtlichem Vermögen gebracht hat, bildet im Roman als zweite Hauptfigur, deren Leben eine einzige Folge großer Feierlichkeiten zu sein scheint, den Kontrast zum materiell genügsamen Bohemien Larry. Während der Ich-Erzähler die anderen in den folgenden Jahren aus dem Blick verliert, hält er Kontakt zu Elliott und erfährt über ihn gelegentliche Neuigkeiten aus dem Leben von Gray und Isabel in Chicago. Larry dagegen scheint von der Bildfläche verschwunden zu sein.
Erst nach dem Börsenkrach vom Oktober 1929 treffen die alten Freunde Larry, Isabel und Gray wie auch Elliott und der Erzähler wieder in Paris zusammen. In einigen großen Rückblenden, die Maugham leichthändig in den Erzählstrang einflicht, erfahren wir von Larrys Abenteuern in den vergangenen Jahren. Der Leser folgt seinem Weg von den Bars und Bibliotheken im Montparnasse über ein Bergwerk in Lothringen, einen Bauernhof bei Darmstadt, eine Bonner Studentenbude und eine Benediktinerabtei im Elsass bis in einen indischen Ashram. Nach Paris und in den Kreis der Freunde zurückgekehrt, gerät Larry nun zwischen zwei Frauen und damit in das Geflecht der alten Leidenschaften.
Maugham berichtet dies alles mit einer gewissen ironischen Distanz, aber zugleich mit warmherziger Anteilnahme. Sein Personentableau ist geschickt arrangiert. Es ist klein genug, um allen Figuren Kontur zu verleihen, und doch so groß, dass es dem Leser dieses durchaus nicht schmalen Romans (die deutsche Ausgabe hat fast 500 Seiten) nie langweilig wird. Auch eine Randfigur wie die Künstler-Mätresse Suzanne Rouvier kann so einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Zwar lebt der Roman von den facettenreichen Beschreibungen der Personen, doch bietet er zudem einen interessanten Einblick in die menschliche Suche nach einem Lebenssinn, ohne dieses Thema direkt zu behandeln. Hier stehen Elliott, Isabel und Gray für den bürgerlichen Lebensentwurf, der um Karriere und materiellen Erfolg kreist, während Larry Erfüllung in immateriellen Werten und Erfahrungen sucht. Maugham verbindet beide Sphären in seiner Erzählung und schafft so ein äußerst farbiges Gesellschaftsporträt, in das der Leser nur zu gerne eintaucht.
Wer also in diesen Zeiten nach einem Stoff sucht, der einen im Kopf an die verschiedensten Orte reisen und dort die Bekanntschaft interessanter Menschen machen lässt, dem sei Maughams Klassiker herzlich empfohlen.
Auf Messers Schneide von W. Somerset Maugham aus dem Englischen von Fritz Bondy im Diogenes Verlag.
Bild: Ohne Titel (1923) von Diogo de Macedo, Foto von Pedro Ribeiro Simões auf Flickr, gemeinfrei
14. April 2020 || Beitrag von Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR