Wo ist eigentlich… Felicitas Esser?
Danzig (polnisch Gdańsk, kaschubisch Gduńsk)
Wärst du, Kindchen, im Kaschubenlande,
wärst du, Kindchen, doch bei uns geboren!
Sieh, du hättest nicht auf Heu gelegen,
wärst auf Daunen weich gebettet worden.
Nimmer wärst du in den Stall gekommen,
dicht am Ofen stünde warm dein Bettchen,
der Herr Pfarrer käme selbst gelaufen,
dich und deine Mutter zu verehren.
Kindchen, wie wir dich gekleidet hätten!
Müßtest eine Schaffellmütze tragen,
blauen Mantel von kaschubischem Tuche,
pelzgefüttert und mit Bänderschleifen.
Und wie wir das Herz dir schenken wollten!
Sieh, wir wären alle fromm geworden,
alle Knie würden sich dir beugen,
alle Füße Himmelwege gehen.
Nach Werner Bergengruen (Auszug)
Mit sieben Jahren trug ich die ersten vier Strophen dieses polnisch-kaschubischen Weihnachtsgedichts klopfenden Herzens unter’m Weihnachtsbaum vor – die Innigkeit des Heiligabends und des anbetenden Gedichts lassen mich diesen Moment auf immer „behalten“.
In dieses Land – die Heimat der westslawischen Kaschuben in pommerschen Teil von Polen – verbringe ich meine Sommerferien. Ein Ziel wird Danzig sein, die ehemalige Hansestadt mit ihrem Seehafen und ihren Werften – Danzig, das wie alle Städte und Landstriche Polens eine wechselvolle Geschichte erlebte.
Spätestens seit dem 9. Jahrhundert wurde das Gebiet von skandinavischen Seefahrern und Händlern besucht: Die Nähe zu Dänemark und dem Baltikum wird in vielen historischen Zeugnissen, aber auch in Klima, Vegetation oder Landschaft offenkundig. Bewohner der Region waren Handwerker und Fischer, darunter vor allem baltische Prußen, slawische Kaschuben und Skandinavier. Schon in Urkunden des 12. und 13. Jahrhunderts heißt Danzig bereits Gdanczk, Gdansk, Gdanz oder Gedanc. Auf dem Grabstein des 1411 ermordeten Bürgermeisters Letzkau wird sie Danske genannt.
Danzigs Glanzzeit begann im Jahre 1453 mit dem Fall Konstantinopels an die osmanischen Türken. Diese verfügten eine Sperrung des Bosporus, so dass Getreide aus den südöstlichen Kornkammern Europas nun fast ausschließlich weichselabwärts transportiert und qua Stapelprivileg (ius emporium) vor dem Export nach Skandinavien, England und in die Niederlande durch die Danziger Speicher geleitet werden musste. Mit einem maximalen Umschlag von 116.000 Last (mehr als 230.000 Tonnen) im Jahre 1618 wurde die Stadt zum wichtigsten europäischen Umschlagsplatz für Brotgetreide.
Heute lässt sich durch die russische Sperrung der Schwarzmeerhäfen nachvollziehen, welch ungemein große Bedeutung den Transportwegen des Korns zukommen, damals wie heute.
Ab 1522 hielt auch im katholischen Danzig die Reformation Einzug; ab etwa 1534 siedelten sich in und um Danzig auch die aus den Niederlanden und Friesland geflüchteten radikal-reformatorischen Mennoniten und Freikirchler um Thomas Müntzer an. Ein Jahrhundert später, um 1650, als das polnische Einzugsgebiet der Stadt seine Blüte erlebte, war Danzig mit ca. 77.000 -100.000 Menschen – vor Wien, Köln, Hamburg oder Augsburg – die bevölkerungsreichste Stadt mit deutschen Einwohnerschaft.
Nachdem es 1793 an die Hohenzollern – also Preußen – gefallen war, verlor die Hansestadt ihre Freiheit als Stadtrepublik. Die preußische Verwaltung, nach dem Wieder Kongress 1815 fest im Sattel, führte 1831 erstmals eine Erhebung über die Muttersprache der Einwohner des Regierungsbezirks Danzig durch. Der zufolge waren 24 Prozent der Bewohner polnisch- bzw. kaschubisch- und 76 Prozent deutschsprachig. Die Religionsstatistik weist im selben Jahr 71 % Evangelische, 23,7 % Katholiken und 4,1 % Juden aus.
Aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags von 1919 wurde Danzig mit umliegenden Gebieten vom Deutschen Reich separiert und am 15. November 1920 zu einem unabhängigen Staat, der Freien Stadt Danzig, erklärt. Dieser stand unter Aufsicht des Völkerbundes; polnische und britische Truppen gewährleisteten den neuen Status der Stadt.
In einer massiv gefälschten Volkstagswahl im Jahr 1935 versuchten die Nationalsozialisten, die bereits ausgehöhlte Verfassung und damit den Senat zu beseitigen und das deutsche Führerprinzip auch in der Freien Stadt Danzig einzuführen, gewannen dafür aber keine Mehrheit.
Ende August 1939 erklärte sich der nationalsozialistische Gauleiter Danzigs zum Staatsoberhaupt und verfügte am 1. September 1939 völkerrechtswidrig, nachdem reichsdeutsche Streitkräfte das polnische Munitionsdepot auf der Westerplatte angegriffen hatten, den Anschluss Danzigs an das Deutsche Reich. Der deutsche Angriff auf die Westerplatte und die Annexion Danzigs wird heute als Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa gesehen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die deutschstämmige Bevölkerung aus Danzig vertrieben. Danzigs Wiederaufbau in enger Anlehnung an die zerstörten historischen Vorbilder lässt eine Idee davon entstehen, wie Danzig vor dem Krieg ausgesehen haben muss, etwa die Speicherinsel – darauf bin ich gespannt. Gespannt auch darauf, die Wirkungsstätte von Lech Wałęsas Gewerkschaftsbewegung Solidarność zu sehen, deren Wirken schließlich zum Zusammenbruch der Volksrepublik Polen und zur Errichtung der gegenwärtigen Dritten Polnischen Republik führte.
Ich freue mich auf die Marienkirche, die Baltische Oper, das Shakespeare-Theater, den Artushof, die Katharinenkirche, den Dom zu Oliva und bei gutem Wetter natürlich auch die fünf Strände der Großstadt Danzig – zum Beispiel auf der Halbinsel Hel.
Und wer weiß – vielleicht finde ich vor Ort ja auch eine kaschubische Übersetzung meines Weihnachtsgedichts wieder: Dann werde ich berichten!
© Marienkirche in Danzig, Matthias Bethke, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons
6. August 2024 || ein Beitrag von Akademiereferentin Felicitas Esser