Die Revolution der Heinzelmännchen. Oder: 1968 auf Holländisch
Den Ureinwohnern der Niederlande – dem Land, in dem ich nun seit knapp drei Monaten lebe – wird seit jeher eine heiter-pragmatische Einstellung zur Welt und ihren Dingen nachgesagt. Anstatt lange die beste aller Welten zu ersinnen, verlegten sich die Angehörigen des alten Händler- und Seefahrervolkes darauf, konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt herbeizuführen. Ob bei der Regelung von Hausbau oder Prostitution, ob beim Umgang mit Rauschmitteln oder religiösen Überzeugungen – überall scheint man hier bereit, einer in jedem Sinne befriedigenden und befriedenden Lösung den Vorzug zu geben vor der naturgemäß umstrittenen und mit viel Aufwand verbundenen besten Lösung. Dies mag ausländische Beobachter bisweilen befremden, gelegentlich auch belustigen, wenn etwa Radfahrer erfolgreich eine Durchfahrt durch das vor zehn Jahren runderneuerte Rijksmuseum in Amsterdam durchsetzen – immerhin eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt und Heimat von Rembrandts Nachtwache. Man stelle sich vor, radelnde Pariser hätten einen Durchbruch durch I.M. Peis gläserne Louvrepyramide gefordert!
Ein Klischee?
Natürlich hat es in den Niederlanden auch ideologische Kämpfe gegeben, die bisweilen mit erschreckender Gewalt ausgetragen wurden, man denke etwa an die Ermordungen des rechtspopulistischen Politikers Pim Fortuyn und des umstrittenen Filmemachers Theo van Gogh Anfang dieses Jahrtausends. Auch ließ sich der Gegensatz von Katholiken und Protestanten nur durch die allgemein anerkannte Errichtung von konfessionell geprägten Parallelgesellschaften mit je eigenen Medien, Vereinen, Parteien, Schulen und Universitäten überbrücken, die bis in die 1970er Jahre das gesellschaftliche Leben strukturierte. Dass dennoch an dem Bild der fröhlich-pragmatischen Niederländer etwas Wahres dran ist, lässt sich vielleicht am besten an einem gesellschaftlichen Phänomen illustrieren, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche westliche Industriegesellschaften erfasste: die Studentenbewegung der sogenannten 68er.
Ein Geständnis
Ich bin mir wohl bewusst, dass ich mir unter den Leserinnen und Lesern dieses Blogs nicht nur Freunde mache, wenn ich mich zu meiner jugendlichen Begeisterung für die langhaarigen Kommunarden bekenne. Immer wieder schaute ich mir als 16jähriger eine Fernsehdokumentation über die wilden Jahre an, sah Rudi Dutschke mit Ringelpullover, hörte ihn mit seltsam metallisch-schnarrender Stimme von der historischen Möglichkeit der Weltrevolution reden, sah Bilder von Sit-Ins, Demos und Straßenschlachten.
1968, aber anders
Doch besonders faszinierte mich der Blick über die nahe Grenze: In den Niederlanden, so erfuhr ich, habe es damals auch eine Studentenbewegung gegeben. Sie sei aber anders, fröhlicher aufgetreten als in Deutschland oder Frankreich. Die Wurzeln dieser sogenannten Provo-Bewegung reichen bis in die frühen 1960er Jahre zurück, als der Lebenskünstler Robert Jasper Grootveld mit Aktionen gegen die Tabakindustrie auffiel. Als Zwarte Piet (dem niederländischen Pendant des deutschen Knecht Ruprecht oder Krampus) kostümiert, veranstaltete Grootveld samstagnachts auf einem zentralen Platz in Amsterdam phantasievolle Aktionen, die sich gegen die Gefahren des Tabakkonsums wandten und zugleich das Kommen des Nikolaus herbeisehnten.
Nikotin und Nikolaus
Auf geschickte Weise verband der selbst kettenrauchende Grootveld politischen Protest mit der in den Niederlanden weit verbreiteten Verehrung des Sinterklaas, der für ihn zu einer Messias-Figur geworden war: „Wenn Klaas kommt, wird alles klar. Es wird keinen Ärger und keine Missverständnisse mehr geben“ erläuterte Grootveld auf eine fast kindlich-naive Weise seine Weltsicht. Mitte der 1960er Jahre stießen dann die jungen Aktivisten Roel van Duijn und Rob Stolk zu Grootvelds Happenings. Im Mai 1965 gründeten sie zusammen mit einigen Freunden die Zeitschrift Provo und die gleichnamige Bewegung.
Wie ihre Generationsgenossen in anderen Ländern träumten die Provos von einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft, die sie durch eine Revolution herbeiführen wollten. Allerdings erschien ihnen dazu die Arbeiterklasse, auf die viele marxistisch geschulte Studenten in Deutschland und Frankreich ihre Hoffnung setzten, als völlig ungeeignet. Sie sei viel zu stark in die gefestigte Konsumgesellschaft integriert, sei saturiert und sediert. Anstelle des Proletariats solle vielmehr das „Provotariat“, ein Amalgam aus Studierenden, Künstlern, Halbstarken und anderen Außenseitern, den Umsturz der bestehenden Ordnung mit provozierenden Straßenaktionen einleiten, wie sie Grootveld erfolgreich inszeniert hatte.
Rauchbomben für die Royals
Die von den Provos gestartete Serie von Provokationen erzielte eine starke Medienresonanz und gipfelte in den Störmanövern bei der Hochzeit von Kronprinzessin Beatrix mit dem Deutschen (und ehemaligen Mitglied der Hitlerjugend) Claus von Amsberg im März 1966. Schon im Vorfeld hatten van Duijn und seine Mitstreiter das Gerücht verbreitet, man werde dem Trinkwasser von Amsterdam LSD zusetzen. Bei der festlichen Parade des royalen Brautpaars zündeten Provos dann zahlreiche Rauchbomben. Die Polizei reagierte mit großer Härte, was bei vielen Niederländern auf Ablehnung stieß.
In den darauffolgenden Wochen kam es bei Konfrontationen zwischen Demonstranten und der Polizei zu einem Todesfall. Die konservative Presse schob die Schuld den Provos zu, was zu noch größeren Unruhen führte und schließlich die Amtsenthebung des Bürgermeisters von Amsterdam nach sich zog. Auf verblüffend ähnliche Weise vollzog sich diese Spirale von Gewalt und Empörung ein paar Monate später in Deutschland mit den Attentaten auf Ohnesorg und Dutschke, den Demonstrationen vor den Verlagshäusern des Springer-Konzerns und dem Rücktritt des Berliner Bürgermeisters Heinrich Albertz. Diese Parallelen dürfen aber nicht über die fundamentalen Unterschiede zwischen niederländischen Provos und deutschen 68ern hinwegtäuschen.
Die Revolution im eigenen Leben
Die sonderbare Allianz der Provos war deutlich stärker künstlerisch geprägt als die Außerparlamentarische Opposition in Deutschland. Rückschauend fällt auf, dass unter den führenden Provos wenige Studierende sozialwissenschaftlicher Fachrichtungen waren, die andernorts die Studentenbewegungen anführten. Entsprechend gering schien die Lust ausgeprägt, sich in die dickbändigen Werke von Marx und Engels zu vertiefen und sich auf dieser Grundlage endlose Theoriedebatten zu liefern.
Mögen damals die SDS-Kader in Frankfurt und West-Berlin ihre niederländischen Genossen für ideologisch ungefestigte Leichtmatrosen gehalten haben, so lesen sich die Pamphlete der Provos heute deutlich angenehmer als die Schachtelsatzergüsse der bierernsten deutschen Chefdenker. Wenn also Rudi Dutschke dem Jung-Star der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, vorwarf: „Ihr „begriffsloser Objektivismus erschlägt das zu emanzipierende Subjekt“, rief Roel van Duijn den jungen Holländern zu: „Pak een hamertje en maak met een ontploffing een begin van de revolutie in je eigen leven!“ – „Schnapp dir einen Hammer und starte die Revolution in deinem eigenen Leben mit einem Knall!“
Weiße Fahrräder in Amsterdam
Während sich die deutschen Studenten bewusst als außer- und antiparlamentarisch verstanden, strebten die Provos früh nach demokratischer Repräsentation und errangen bereits 1966 einen Sitz im Stadtrat von Amsterdam. Hier fielen sie mit einer ganzen Reihe von Eingaben auf, die von den etablierten Parteien allesamt abgewiesen wurden. Aus der Rückschau nach über einem halben Jahrhundert erscheinen viele der Initiativen erstaunlich weitsichtig: Besonders bekannt wurde der von dem Provo und studierten Maschinenbauingenieur Luud Schimmelpennink ersonnene „Wittefietsenplan“ („Weißer Fahrradplan“). Dieser sah vor, die Innenstadt von Amsterdam komplett für den Autoverkehr zu sperren. Die urbane Mobilität solle durch ein kommunales System weißer Leihfahrräder gewährleistet werden. In einer Zeit, die allseits noch dem Ideal der „autofreundlichen Stadt“ huldigte, nahmen die jungen Provos bereits Lösungen vorweg, die Jahrzehnte später in allen größeren Städten diskutiert werden.
Nachdem der Stadtrat von Amsterdam den Weißen Fahrradplan erwartungsgemäß abgelehnt hatte, versuchten die Provos ihn in Eigenregie umzusetzen und wurden mit weiß gestrichenen Fahrrädern zum frühen Vorläufer der billigen Leihfahrräder in bunten Farben, die 50 Jahre später europäische Großstädte überfluten sollten. Bereits 1968 ließ Schimmelpennink auf das weiße Fahrrad die „weiße Karre“, das Witkar, folgen: Diese ebenfalls weiß lackierten Elektroautos für zwei Personen (Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h) sollten über ein genossenschaftlich organisiertes Verleihsystem zur Verfügung gestellt werden. Lange vor Car Sharing und Elon Musk waren die Provos ihrer Zeit wieder einmal weit voraus.
Vom Provo zum Kabouter
So erfolgreich die Provos jedoch mit ihren Aktionen auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam gemacht hatten, so wenig schienen sie praktisch zu erreichen. Als sich die Bewegung bereits im Mai 1967 – und damit zwei Wochen vor dem Deutschlandbesuch des persischen Schah – auflöste, fiel ihr intellektueller Kopf Roel van Duijn in eine Depression. Auf einem Biobauernhof in Zeeland kam ihm dann die zündende Idee: Auf die Protestbewegung müsse eine konstruktive Kraft folgen, die im Kleinen die neue Gesellschaft zu errichten versuche. Symbolfigur dieser neuen Strömung wurde der Kabouter, zu Deutsch etwa Gnom oder Heinzelmännchen – eine Gestalt, die in der Kultur lebe, aber zugleich mit der Natur freundlich verbunden sei. In den folgenden Jahren starteten die Mitglieder der Kabouterbewegung zahlreiche Initiativen alternativen Wirtschaftens auf dem Grundprinzip gegenseitiger Hilfe. Sie pflanzten Bäume, kümmerten sich um alte Menschen, gründeten die ersten Bioläden, veranstalteten Tauschmärkte und erfanden so vieles, was heute als „sharing economy“ angesagt ist.
Wie bereits die Provos erzielten auch die Kabouter erstaunliche Erfolge bei Wahlen und konnten 1970 mit fünf Mitgliedern in den Gemeinderat von Amsterdam einziehen. Lange bevor sich die deutschen Kommunarden auf den Marsch durch die Institutionen machten, sammelten ihre holländischen Genossen schon Erfahrungen in den Niederungen der praktischen Politik. Die politische Arbeit setzten van Duijn, Schimmelpennink und Co. mit erstaunlicher Beharrlichkeit fort.
Der lange Tanz durch die Institutionen
Anders als in Deutschland, wo alte Linksradikale wie der RAF-Terrorist Horst Mahler und Dutschke-Intimus Bernd Rabehl plötzlich am äußersten rechten Rand auftauchten, werkelten die alten Provos in verschiedenen progressiven Parteien unverdrossen an der konkreten Umsetzung ihrer alten Ideale. Dabei bewahrten sie sich eine liebenswerte Schrulligkeit: Schimmelpennink wurde 2014 aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen, weil er sich für die Alten-Partei OPA engagierte. Van Duijn widmete sich nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik im Jahr 2008 unter anderem seiner Leidenschaft für Klaviermusik und dem Kampf gegen Liebeskummer. Am heutigen Freitag feiert Roeland Hugo Gerrit van Duijn, der Philosoph der niederländischen Provo- und Kabouterbewegung, seinen 80. Geburtstag. Hartelijk gefeeliziteerd!
Bild 1 Robert Jasper Grootveld
Bild 2 Provo Demonstration gegen den Vietnamkrieg 1966
Bild 3 Roel van Duijn und Luud Schimmelpennink 1967
Bild 4 Luud Schimmelpennink im Witkar 1968
Bild 5 Kabouter-Versammlung 1970
Bild 6 van Duijn im Stadtrat 1975
Alle Bilder gemeinfrei
20. Januar 2023 || ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Politikwissenschaftler und Volkswirt
Matthias Lehnert war bis Ende Oktober 2022 Referent für den Bereich Forum :PGR in der Thomas-Morus-Akademie Bensberg. Seit November arbeitet er bei in Amersfoort.