Ein Dorf und seine Passionsgeschichte
Es ist wieder soweit. Mit zwei Jahren pandemiebedingter Verzögerung finden in Oberammergau wieder die Passionsspiele statt. Zwischen Mitte Mai und Anfang Oktober führen gut 2000 Oberammergauerinnen und Oberammergauer über 100 Mal die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu auf.
Erwartet werden in diesem Jahr insgesamt etwa 450.000 Zuschauerinnen und Zuschauer aus dem In- und Ausland. Ich bin einer von ihnen. Am 14. Juli habe ich die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu auf einer der größten Freilichtbühnen der Welt gesehen.
Man kann sich dem Ereignis Passionsspiel auf zwei Weisen nähern: über den Verstand oder über die Sinne. Ich habe beides versucht.
Die Entstehungsgeschichte des Passionsspiels von Oberammergau ist legendär: Im Jahr 1634 führten die Oberammergauer erstmals die Passion auf, nachdem ihr Dorf im Jahr zuvor von der Pest heimgesucht wurde. Eine kritische Analyse führt zwar wohl recht schnell zu einigen Ungereimtheiten, aber nicht nur die Oberammergauer halten bis heute an der Legende fest und führen sie im Jahr vor der Passion im sogenannten „Pestspiel“ als Theaterstück auf.
Es wird sich also vielleicht so ähnlich zugetragen haben, wie es auch in diesem Jahr in einem kurzen Prolog erzählt wird: Mit Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges habe für das Dorf eine „überaus bedrängnisvolle Zeit“ begonnen. Zwar habe man sich lange „durch fleißiges Wachehalten“ gegen einen Einbruch der in Schwaben und Bayern wütenden Seuchen schützen können. Doch zum Kirchweihfeste 1632 „brachte ein Mann von hier namens Kaspar Schisler die Pest ins Dorf. In dem großen Leidwesen, welches die furchtbare Krankheit über die Gemeinde gebracht hatte, sind die Vorgesetzten der Gemeinde zusammengetreten und haben das Gelöbnis gemacht, die Passionstragödie alle zehn Jahre zu halten, und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben“. Seither halten die Oberammergauer an dem Gelübde fest.
Über die frühen Aufführungen im 17. und frühen 18. Jahrhundert gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Man vermutet, dass die Oberammergauer die Passion auf die damals weit verbreitete Weise inszenierten, mit Textfragmenten aus den Evangelien, aber auch mit burlesken Elementen. Gespielt wurde auf einer improvisierten Holzbühne, die auf dem Friedhof zusammengezimmert wurde. So war es seit dem Mittelalter in vielen Ortschaften üblich. Das Publikum kam aus dem Dorf, eine besondere überregionale Anziehungskraft geht von der Oberammergauer Passion in diesen Jahren nicht aus. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann sich dies zu ändern. Im Jahr 1760 verzeichnete Oberammergau bereits 14.000 Besucher, die größtenteils aus dem Umland kamen. Doch nur hundert Jahre später waren es bereits 100.000.
Was war geschehen? Der amerikanische Theaterwissenschaftler James Shapiro schreibt in einer sehr lesenswerten Studie, dass die Attraktion nicht von der gesteigerten Qualität des Spiels ausging. Vielmehr sei sie der Tatsache geschuldet, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert zahlreiche Orte in Bayern ihre eigene Passionstradition aufgegeben hatten. Andernorts, etwa in England, waren derartige Aufführungen bereits zur Zeit der Reformation als blasphemisch verboten worden. Reisefreudige Mitglieder der englischen Oberschicht konnten in der langen Friedensperiode nach den napoleonischen Kriegen also nur noch in Oberammergau das Spektakel erleben.
Und sie verfassten enthusiastische Berichte. Selbst die kritischsten protestantischen Pfarrer, die nur wenige Jahre zuvor „eine schiere Abscheu vor Papisten und ihren Praktiken“ gepflegt hätten, brachten – so berichtete der englische Kulturkritiker Matthew Arnold – ihre Bewunderung zum Ausdruck. Auch Sulpiz Boisserrée schrieb begeistert an seinen Freund Goethe. Es dauerte nicht lange, bis Thomas Cook die Sache in die Hand nahm und Oberammergau im großen Stil als Touristenattraktion vermarktete. Um dem Besucheransturm Stand zu halten, baut Oberammergau für die Jahrhundertpassion 1900 eine große teilüberdachte Freilichtbühne, die über 4000 Zuschauern Platz bietet und bis heute steht.
Wirklich ausgefallen ist das Spiel in bald vier Jahrhunderten nur zweimal: Im Zuge der katholischen Aufklärung verbot der bayerische Kurfürsten Max Joseph im Jahr 1770 alle Passionsspiele mit der Begründung, dass „das größte Geheimnis unserer heiligen Religion nun einmal nicht auf die Schaubühne gehört“.
Im Jahr 1940 konnte die Passion während des Zweiten Weltkriegs nicht stattfinden, obwohl Adolf Hitler noch sechs Jahre zuvor im 300. Jubiläumsjahr das „Spiel aus der segnenden Kraft der Scholle“ in den höchsten Tönen als „reichswichtig“ gelobt hatte. Im selben Jahr erlebten übrigens auch der König von Siam, der amerikanische Medienmogul William Randolph Hearst sowie das noch unbekannte französische Intellektuellenpaar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre die Passionsspiele in Oberammergau. Dennoch deutet sich hier eine Entwicklung an, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Geschichte des Passionsspiels für Jahrzehnte prägen sollte.
Als man 1950 die Inszenierung von 1930/34 fast unverändert aufführte, rührte sich erstmals Kritik an der stereotypen und herabwürdigenden Darstellung von Juden. Die Oberammergauer waren dafür jedoch in keiner Weise empfänglich: „Wir haben ein reines Gewissen. Wir müssen ein Gelübde erfüllen, und unser Stück enthält nichts Anstoßerregendes“ befand der langjährige Spielleiter Johann Georg Lang. Dass der Jesusdarsteller Anton Preisinger 1932 der NSDAP beigetreten war und im Zuge der Pogromnacht 1938 bei der sogenannten „Judenaktion“ den einzigen in Oberammergau lebenden Juden gewaltsam aus dem Dorf gejagt hatte, schien niemanden zu stören. Auch 1960 bekam Preisinger die Hauptrolle, bevor er 1970 als Spielleiter agierte.
Unterdessen wurden die Proteste immer lauter. Neben Prominenten wie Billy Wilder, Arthur Miller und Leonard Bernstein traten seit Mitte der 1960er Jahre auch jüdische Organisationen aus den USA auf den Plan. Ihren Boykottaufrufen schlossen sich deutsche Intellektuelle wie Heinrich Böll und Günter Grass an. Die Botschaft war klar: Wenn die Oberammergauer meinen, ihr Gelöbnis nur durch Aufführung eines offen antisemitischen Stückes erfüllen zu können, bleibt uns keine Wahl, als dieses Stück zu verurteilen.
James Shapiro zeichnet den Konflikt in seiner Studie nach. Bei aller Kritik am Starrsinn der Oberammergauer, die jahrzehntelang jegliche Überarbeitung von Text und Inszenierung verweigerten, zeigt Shapiro auch Verständnis für ihr Dilemma: Letztlich muss das Passionsspiel die Frage nach der Schuld am Tode Jesu irgendwie beantworten. Frühere Textfassungen hatten dazu einen Kampf zwischen Gott und den Mächten der Hölle inszeniert, in den neben Teufeln und Dämonen auch die Allegorien Neid, Geiz und Sünde eingriffen. Damit wurden alle menschlichen Beteiligten – die jüdischen Hohepriester etwa, der Apostel Judas, der römische Statthalter Pontius Pilatus und der König Herodes – in gewisser Weise entlastet. Doch einer aufgeklärten Theologie waren Teufel und Dämonen nicht mehr vermittelbar, weshalb sie Anfang des 19. Jahrhunderts bei Revisionen aus dem Skript gestrichen wurden.
„Die Beseitigung der Teufel mag zwar nervöse Kirchenmänner beruhigt haben, führte aber im Stück zu einem strukturellen Problem: Wenn diese höllischen Mächte nicht mehr in Opposition zu Jesus standen, wer dann?“ beschreibt James Shapiro (S. 70, eigene Übersetzung) die inszenatorische Herausforderung. Der Ettaler Benediktinermönch Othmar Weis, der im Jahr 1811 den bis dahin gültigen Text aus der Feder seines Mitbruders Anton Rosner durch einen neuen ersetzen sollte, machte die jüdischen Händler und Priester zu den Hauptwidersachern Jesu, gab ihnen biblische Namen und stattete sie mit stereotypen jüdischen Attributen wie prunkvollen Gewändern und auffallend gehörnten Hüten aus.
Diese Neuausrichtung verlieh nun auch einer Zeile besondere Dramatik, die in den Auseinandersetzungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu den am stärksten als antisemitisch kritisierten werden sollte. Schon Rosner hatte aus dem Matthäus-Evangelium den sogenannten „Blutfluch“ entnommen, mit dem die aufgebrachte Menge eine Kollektivschuld am Tode Jesu auf sich zu nehmen schien: „Sein Bluth über uns, nicht minder / Auch über unser Kindern Kinder“. In einer weiteren Textrevision spitzte der Dorfpfarrer Joseph Alois Daisenberger diesen Konflikt weiter zu und machte den „Blutfluch“ zu einer der zentralen Stellen des Spiels. An Daisenbergers Textfassung hielten die Oberammergauer allen Protesten zum Trotz bis in die 1990er Jahre eisern fest. Die Verantwortlichen akzeptierten allenfalls kleinere Retuschen.
Während der Druck von außen immer weiter zunahm und auch zu einer ökonomischen Bedrohung wurde – die zahlreichen amerikanischen Gäste waren längst zu einer wichtigen Einnahmequelle für das Dorf geworden – scheiterte der Versuch, zum älteren Rosner-Text zurückzukehren. Zwar gingen von der als „Reformpassion“ bezeichneten Inszenierung aus dem Jahr 1977, der Rosners Text zugrunde lag, einige Impulse für die weitere Entwicklung des Spiels aus, doch konnte sich die Rosner-Fassung nicht durchsetzen. Der Erzbischof von München und Freising, Joseph Kardinal Ratzinger, befand, die Reformpassion habe deutlich gemacht, wie begrenzt die heutigen Möglichkeiten seien, Rosners barockes Drama mitsamt Himmel, Hölle und Teufeln mit Leben zu füllen (s. Shapiro, S. 63).
Damit aber steckte Oberammergau in einer Sackgasse. Shapiro zeichnet nach, wie die kommunalen Verantwortlichen in dieser Situation ein ums andere Mal für (zaghafte) Reformen votierten und diese dann wieder zurücknahmen. Als man – wie schon 1980 – im Jubiläumsjahr 1984 wieder den nur leicht veränderten Daisenberger-Text aufführte, waren jüdische Beobachter von der Inszenierung entsetzt. In einem Artikel für die New York Times beschrieb der Rabbiner James Rudin seinen Eindruck: „Langsam und unaufhaltsam treten die Juden als ein korruptes, brutales Volk hervor, das von einem harten und grausamen Gesetz geleitet wird.“ (s. Shapiro, S. 36).
Der Artikel in einer der führenden Tageszeitungen der Welt verfehlt seine Wirkung nicht und wird zum finalen Weckruf für die Oberammergauer. Drei Jahre später dann überträgt der Gemeinderat in einer denkbar knappen Abstimmung die Spielleitung dem erst 25 Jahre alten Christian Stückl – eine Entscheidung, die der Münchner Merkur als „Palastrevolution“ bezeichnet. Stückl und sein Stellvertreter Otto Huber modernisieren die Inszenierung und vergeben wichtige Rollen an junge Schauspieler und – ein Tabubruch – an verheiratete Frauen. Zwar müssen sie am alten Daisenberger-Text festhalten, können aber im Lichte neuerer exegetischer, theologischer und historischer Erkenntnisse gewisse Revisionen am Skript durchsetzen.
Es ist ein zähes Ringen. Bei einer Podiumsdiskussion hat Stückl erzählt, wie er die aus den USA angereisten Rabbiner – darunter auch James Rudin – zu sich nach Oberammergau auf einen Kaffee eingeladen hat, um mit ihnen jene umstrittenen Textstellen zu überarbeiten, bei denen die damaligen Oberammergauer Gemeinderäte partout keine Zugeständnisse machen wollten. „D’r Stückl verkaft uns an die Juden!“ habe der ehemalige Spielleiter Anton Preisinger in einer Gemeinderatssitzung geschrien, woraufhin ihn Stückl an seine Beteiligung an der „Judenaktion“ von 1938 erinnert habe.
Die Vertreter jüdischer Organisationen anerkennen das Bemühen der neuen Spielleitung. „Sie haben Veränderungen vorgenommen“ konstatiert Rabbi Rudin mit Blick auf die 1990er Passion, um dann aber zu relativieren: „Haben sie genug getan? Nein. Werden sie genug tun? Ich bezweifle es. […] Sie haben kein neues Stück geschrieben, wie ich es gefordert habe – vielleicht, weil sie es nicht konnten“ (Shapiro, S. 37).
Obschon die 1990er Passion ein großer Erfolg wird, gehen die Auseinandersetzungen weiter. Die Konservativen im Gemeinderat versuchen mehrfach, Stückl loszuwerden und durch Vertreter der „alten Garde“ zu ersetzen. Letztlich aber gelingt es Stückl und Huber, zwischen den kritischen jüdischen Organisationen in den USA einerseits und den argwöhnischen Vertretern in ihrer Heimatgemeinde Oberammergau hindurch zu navigieren.
Stückl und Huber setzen die wichtigste Veränderung des Textes seit 1860 durch und legen das Passionsgeschehen als innerjüdischen Konflikt an. Im Volk wie auch unter den jüdischen Priestern, ja selbst unter den Jüngern, gibt es verschiedene Lager, stehen sich Befürworter und Widersacher Jesu gegenüber. Judas wird nicht mehr als geldgieriger Schacherer dargestellt, sondern als leidenschaftlicher Aktivist, der zum Opfer einer Intrige, zum verratenen Verräter, wird. Auch die visuelle Gestaltung der Passion und die Musik des frühromantischen Komponisten Rochus Dedler werden verändert.
Im Jahr 2010 inszeniert Christian Stückl, der seit 2002 Intendant des Münchner Volkstheaters ist und 2006 auch die Eröffnungsfeier der Fußballweltmeisterschaft gestaltete, seine dritte Passion. Zehn Jahre später muss das Spektakel nur wenige Wochen vor der Premiere wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Ein sichtlich angefasster Spielleiter Stückl verkündet die Verschiebung um zwei Jahre.
Zu Beginn des Jahres 2022 dann der nächste Schock: Der Workaholic und starke Raucher Stückl erleidet einen Herzinfarkt und muss operiert werden. Er gibt das Rauchen auf, nimmt die Proben zur Passion aber rasch wieder auf. Zwischenzeitlich hat Russland die Ukraine angegriffen, herrscht wieder Krieg in Europa. Schon hundert Jahre zuvor hatten Kriegsfolgen und die Spanische Grippe zur Verschiebung der Spiele geführt. Nun ergeben sich traurige Parallelen.
Als Mitte Mai die Premiere gefeiert wird, berichten sämtliche Medien über das Großereignis. Allenthalben wird die Inszenierung für ihren Zeitbezug gelobt und als Kommentar zur krisenhaften Weltsituation gedeutet. Düsterer als 2010 sei die Inszenierung, die Gewänder weniger farbenprächtig. Der leitende Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier spricht in einem Interview von seinem lange gehegten Wunsch, „eine dystopische Passion zu machen, die vom Weltuntergang erzählt“. Doch angesichts der Weltlage sei es nun wichtig, den Menschen Zuversicht zu vermitteln.
Als ich mich im Mitte Juli auf den Weg nach Oberbayern mache, bin ich gespannt, wie das Team um Christian Stückl diese verschiedenen Motive in der neuen Inszenierung ins Bild setzen wird…
Lesen Sie den zweiten Teil des Berichts in der kommenden Woche.
Literatur
Shapiro, James (2001): Oberammergau: The Troubling Story of the World’s Most Famous Passion Play. Vintage.
Bildnachweise
Oberammergauer Passionsspiel, Kreuzigung, 1871. Foto von Joseph Albert via Wikimedia Commons, gemeinfrei
Passionstheater Oberammergau, frühes 20. Jahrhundert, Postkartenmotiv von Eugen Felle via Wikimedia Commons, gemeinfrei
Der Hohepriester Kaiphas bei den Passionsspielen von Oberammergau. Darstellung von 1863. Wikimedia commons, gemeinfrei
Spielleiter Christian Stückl, 2014. Foto von Harald Bischoff via Wikimedia commons (CC BY-SA 3.0)
Die Bühne des Passionstheaters im Jahr 2000. Bild von Nancy via Wikimedia commons (CC BY-SA 4.0)
30. Juli 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert