Hilf mir, es selbst zu tun!“ Maria Montessori zum 150. Geburtstag
Sie gehört zu den Revolutionären der Pädagogik: Maria Montessori. Ihre Arbeit mit alters- und leistungsgemischten Klassen, die vorbereitete Umgebung, das gemeinsame Lernen von nicht behinderten und behinderten Kindern, die Freiarbeit … revolutionierte das Schulsystem. Viele ihrer Innovationen sind heute in das Regelschulsystem eingegangen. „Hilf mir, es selbst zu tun“ heißt einer ihrer Leitsätze, der die Selbsttätigkeit der Kinder in den Mittelpunkt rückte. Die kindliche Entwicklung sah sie als Entfaltung der Kräfte nach einem „verborgenen, aber festen inneren ‚Bauplan‘“. So sei es die wichtigste Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen, dem Kind eine Entwicklung gemäß seinen eigenen ursprünglichen Antrieben zu ermöglichen. Inhalt und Tempo bestimmt das Kind weitgehend selbst, um aus ihnen selbstständige Persönlichkeiten zu machen.
Maria Montessori wurde am 31. August 1870, vor 150 Jahren, in Chiaravalle in Italien geboren. Nachdem sie gegen alle Widerstände Medizin studiert hatte, arbeitete sie in einer römischen Klinik für damals als „schwachsinnig“ bezeichnete Kinder. Sie erkannte dabei, dass deren Schwächen weniger medizinisch als vielmehr pädagogisch begründet waren. Daraus entstand später das gemeinsame Lernen von behinderten und „normalen“ Kindern. Ihr Ansatz war erfolgreich. Die Wissenschaftlerin und bekennende Katholikin folgerte, dass Lehrmethoden wie bei den „Schwachsinnigen“ auch die Leistung anderer Kinder immens steigern müssten. In ihrer praktischen Arbeit mit Kindern und der Forschung entdeckte sie zudem, dass Kinder von selbst leise werden, wenn sie in eine Arbeit versunken sind und ihnen das Lernen Spaß macht. Eine solche Konzentration werde nicht durch äußerlichen Zwang erreicht, sondern durch räumliche und inhaltliche Freiheit für das Kind. Die in vielen Schulen praktizierte Freiarbeit geht auf darauf zurück.
Aus Ihrem pädagogischen Ansatz ist eine weltweite Bewegung entstanden. Allein in Deutschland arbeiten über 1000 Schulen und Kitas nach den Prinzipien der Pädagogin. Seit 1989 kooperiert die Thomas-Morus-Akademie Bensberg mit der Deutschen Montessori-Vereinigung. Neben der Jahrestagung, zu der Pädagoginnen und Pädagogen aus ganz Deutschland nach Bensberg kommen, gibt es auch kleinere Seminare und Workshops zur Montessori-Pädagogik. Dabei werden Grundfragen der Montessori-Pädagogik, aber auch Fragen der Kosmischen Erziehung, Friedenserziehung, religiösen Erziehung oder fächerbezogene Themen erörtert. Die nächste Fachtagung findet vom 25. bis 27. September 2020 (Fr.-So.) in der Thomas-Morus-Akademie statt.
„Montessori war ihrer Zeit voraus“
Interview mit der Kinderhaus-Leiterin Maria Kley-Auerswald
Maria Kley-Auerswald ist Leiterin des katholischen Montessori-Kinderhauses in Kürten-Dürscheid und Dozentin für Montessori-Pädagogik, Leiterin von Diplom-Lehrgängen und zweite Vorsitzende der Deutschen Montessori-Vereinigung.
Im Interview mit Almud Schricke erklärt sie, warum die Pädagogik Maria Montessoris heute aktueller ist denn je und welche Rolle die Religion einnimmt.
Das Interview erschien zuerst in der Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln Ausgabe 34/20 | 21. August 2020.
Warum ist die Pädagogik Maria Montessoris nach so langer Zeit immer noch aktuell?
Maria Kley-Auerswald: Ich würde sagen: Sie ist viel aktueller als zu der Zeit, als Montessori 1907 ihr erstes Kinderhaus gegründet hat. Die aktuellen Bildungspläne für Kindergärten enthalten eigentlich nur noch Montessori-Inhalte, auch wenn sie nicht als solche benannt werden. Bei uns in Nordrhein-Westfalen heißt es zum Beispiel: „Das Kind ist Akteur seiner selbst.“ Das bedeutet für mich übersetzt das, was Montessori gesagt hat: „Das Kind ist Baumeister seiner selbst.“ Oder wenn wir heute von Zeitfenstern sprechen, in denen Kinder bestimmte Dinge gut lernen – die hat Montessori „sensible Perioden“ genannt. So gibt es Zeiten, wo Kinder besonders empfänglich für Sprache sind, und wenn dies der Pädagoge erkennt, gelingt es den Kindern viel einfacher, Dinge zu begreifen. Die Selbstständigkeit, dass das Kind weiß, was das Beste für es ist – das findet man in den Bildungsplänen aller Bundesländer wieder. Montessori war ihrer Zeit voraus.
Was unterscheidet ein Montessori-Kinderhaus von einer anderen Kindertagesstätte?
Kley-Auerswald: Das Vertrauen in das Kind – das Kind trägt schon alles in sich, wir brauchen nichts hineinzugeben, es ist von Geburt an ein einzigartiges Wesen – und die Förderung seiner Selbstständigkeit. Einer unserer Leitsätze ist: Beobachte und handele erst dann – nicht andersherum. Wir stülpen den Kindern nichts über. Wir beobachten sie und versuchen herauszufinden, was ein Kind braucht. Ein Merkmal des Montessori-Kinderhauses ist die vorbereitete Umgebung. Das ist viel Arbeit – und vielen ist das zu viel Arbeit, weil man ständig beobachtet und überlegt, wie man das Kind unterstützen kann, was man ihm anbieten kann. Aber das brauchen die Kinder, um frei und selbstständig lernen zu können. Kinder kennen ihren Weg, und Pädagogen sind ihre Begleiter. Es gibt bei uns Bereiche für die lebenspraktischen Übungen, für Mathematik und Sprache, es gibt Sinnesmaterial und den kosmischen Bereich. Dabei wird viel Wert auf Ästhetik gelegt. Es gibt Blumen, um die die Kinder sich kümmern, teilweise gehört auch Tierpflege mit dazu. Alles ist klar strukturiert und sehr liebevoll, das Material ist nicht kunterbunt, sondern sehr zurückhaltend. Montessori spricht von der Sprache der Dinge.
Heute ist oft von Helikopter-Eltern die Rede. Wie gelingt es da, Kindern Impulse zur Selbstständigkeit zu geben?
Kley-Auerswald: Wir müssen mit den Eltern im Gespräch sein. Ich sage manchmal zu Eltern, die morgens ihrem Kind den Rucksack tragen: Heute wieder als Packesel unterwegs? Das beobachte ich auch, wenn ich an Montessori-Schulen bin. Die Eltern möchten gerne alles für ihr Kind tun. Aber das ist häufig wenig zielführend. Besucher unseres Hauses sind immer erstaunt, wie gut schon die Zweijährigen ihr Geschirr abwaschen und ihren Platz aufräumen. Ein zweijähriges Kind sagt oft „leine“. Das heißt: Ich will es alleine tun. Manche Eltern sagen, die Kinder seien anstrengend, weil sie selbst Kartoffeln schälen oder sich selbst ihr Getränk eingießen wollen. Aber wenn sie zur Schule kommen, finden die Eltern es sehr angenehm, dass die Kinder so selbstständig sind. Montessori fordert von den Pädagogen, „Diener des Kindes“ zu sein. Das bedeutet aber nicht Bediener, sondern Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
Erleben Sie als Montessori-Einrichtung auch Vorbehalte?
Kley-Auerswald: Wir sind die einzige Montessori-Einrichtung bei uns im Dekanat. Da stößt man schon manchmal auf Unverständnis. Viele denken: Was machen die da? Ich sage immer: Kommt und guckt es euch an. Und dann staunen die Leute, was Montessori bedeutet. Man sollte einfach mal hinter die Dinge schauen – wie Kinder das tun. Die Kinder lernen bei uns mit allen Sinnen; dazu gehört auch die Natur. Wir sind viel draußen und gehen in den Wald. Auch Rollenspiele sind ganz wichtig für Kinder. Viele Menschen verbinden damit einen Leistungsdruck, aber den gibt es nicht. Die Kinder lernen wie von selbst – das kann ich in all den Jahren bestätigen. Montessori nennt das: „Einen Lichtstrahl geben und weitergehen.“
Sie sind seit 1974 in der Einrichtung tätig. Was hat sich in der Ausrichtung der Montessori-Pädagogik in dieser Zeit verändert?
Kley-Auerswald: Manche Dinge wie das Mathematikmaterial braucht man nicht zu ändern. Mit den sogenannten goldenen Perlen zu rechnen, ist einfach genial. Das leihen sich manchmal auch Eltern aus, wenn die Kinder schon in der Schule sind und Probleme beim Einmaleins haben. Kürzlich haben wir Johannisbeeren geerntet und entsaftet; natürlich nehmen wir dafür moderne Geräte. Man darf die Technik nicht außen vor lassen. Montessori geht gerade in dem Bereich immer mit der Zeit, ohne von den Grundsätzen abzukommen. Gerade in den letzten Jahren suchen Eltern vermehrt nach Alternativen, da ihre Kinder im herkömmlichen Schulsystem Schwierigkeiten haben. Die Montessori-Pädagogik geht einen anderen Weg: Lernen mit allen Sinnen, in der Gemeinschaft der Jahrgangsmischung, unter Einbeziehung der Natur, einfach ganzheitlich. Bei Montessori gibt es viele Übungen, bei denen Kinder lebenspraktisch und kreativ arbeiten. Diese Übungen vermitteln eine Menge kultureller Werte unserer globalisierten Welt.
Es gibt viele Montessori-Kinderhäuser und Montessori-Grundschulen. Wie kommt es, dass sich bei den weiterführenden Schulen das Montessori-Prinzip nicht so etabliert hat?
Kley-Auerswald: Die deutsche Montessori-Vereinigung bietet mittlerweile auch Lehrgänge für Lehrer an weiterführenden Schulen an; die Nachfrage ist steigend, da gerade in der Sekundarstufe andere Unterrichtsmethoden gefragt sind. Aber man muss auch bereit sein umzudenken. Ein Kollege von einem Kölner Gymnasium hat einmal zu einem Schulleiter einer Montessori-Grundschule gesagt: „Wenn ich deine Kinder bekomme, muss ich mich viel mehr vorbereiten. Die wissen schon so viel.“ Es ist ein anderes Unterrichten und ein anderes Lernen. Ich kann nicht einfach meine Themen abarbeiten. Man muss immer wieder gucken, was die Kinder können und was sie wollen. Wir hatten im vergangenen Jahr einen Jungen, der ganz viel über Raumfahrt wissen wollte. Da musste ich mich erst einlesen. Aber das finde ich das Spannende: immer mit den Kindern auf dem Weg zu sein.
Sie leiten ein katholisches Kinderhaus. Welche Rolle spielt die Religion bei Montessori?
Kley-Auerswald: Maria Montessori hat gesagt: Jeder ist ein von Gott geliebtes Wesen. In jedem Kind liegt etwas tief Göttliches begründet. Religion und Sprache bezeichnet sie als Kennzeichen des Menschen. Wir müssen nicht nur das Kind sehen, sondern Gott in ihm. Und damit meint sie den Gott, der alles geschaffen hat. In der kosmischen Erziehung vermitteln wir den Kindern, die Schöpfung zu lieben und zu bewahren. Und auch Kirchenbesuche und das Feiern der Feste im Kirchenjahr gehören zu unserem Alltag. „Nehmen Sie die Kinder mit in die Kirche – kein Ort ist zu heilig“, hat Montessori gesagt. Die Kinder sollen einen sakralen Raum mit allen Sinnen erfahren. Wenn wir in die Kirche gehen, begleitet uns eine Handpuppe: Amadeus, die Kirchenmaus. Amadeus bringt die Kinder immer dazu, viele Fragen zu stellen. Im Eingangsbereich des Kinderhauses befindet sich das Atrium – eine Art Kinderkirche. Dort bauen wir zum Beispiel eine biblische Szene mit Egli-Figuren auf, nutzen Elemente nach Franz Kett – dieser Ansatz ist ganzheitlich sinnorientiert – oder den Ansatz von Godly Play, dem Erzählen und Spielen der Bibel, auch da finden sich die Wurzeln bei Maria Montessori. Wenn ich eine biblische Geschichte erzähle, sitzen 40 Kinder vor mir und hören gebannt zu. Und dann unterhalten wir uns darüber. Wir nennen das Theologisieren. Kinder können das, sie sind sehr spirituell.
Was begeistert Sie persönlich an der Montessori-Pädagogik?
Kley-Auerswald: Nach all den Jahren, in denen ich nach Montessori arbeite, ist mir eines immer wichtiger geworden – nicht das Material und die Prinzipien, sondern die Philosophie dieser Pädagogik: „Indem man dem Kind dient, dient man dem Menschen.“ Montessoris Idee der kosmischen Erziehung geht von der Bewahrung der Schöpfung aus und mündet in der Erziehung zum Frieden. Wir wollen dem Kind bei seiner Sinnfrage helfen: „Wer bin ich und was ist meine Aufgabe in dieser wunderschönen Welt?“ Wir als Pädagogen sind Begleiter, und ein Ausspruch von Montessori begleitet mich dabei: „Tun Sie alles, was Sie können, und dann vertrauen Sie auf die Gnade Gottes.“
31. August 2020 || ein Beitrag von Andreas Würbel, Akademiereferent
Seit 1990 koordiniert er die Zusammenarbeit mit der Deutschen Montessori-Vereinigung, plant und konzipiert u.a. alle Veranstaltungen mit dem Schwerpunkt Schule, Bildung und Erziehung.
31. August 2020 || ein Interview mit Maria Kley-Auerswald
Sie ist Leiterin des katholischen Montessori-Kinderhauses in Kürten-Dürscheid und Dozentin für Montessori-Pädagogik, Leiterin von Diplom-Lehrgängen und zweite Vorsitzende der Deutschen Montessori-Vereinigung.