Bohuslav Martinůs glückliche Jahre in Basel
Bohuslav Martinů (© Universal Edition)
Martinů gehört zu den engen Freunden des Basler Mäzens Paul Sacher, der ihm und seiner Frau Charlotte sein Landhaus in Pratteln bei Basel zur Verfügung stellt. «Dieses Haus war für ihn eine Oase der Harmonie, der Wärme, der Stille und der Schönheit» schwärmt sie. Die reich dotierte Bibliothek und viele Gespräche mit dem Ehepaar Sacher tragen das Ihrige dazu bei. Hier entsteht 1938 das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, ein Werk von stark pulsierendem Charakter und einem choralartigen, homophon-dissonierenden Mittelsatz.
Nach vielen Reisen in Amerika und Europa trifft Martinů in Zürich auf die Pianistin Margrit Weber, der er sein 5. Klavierkonzert ‘Fantasia Concertante’ widmet, wo er Volksmusikelemente seiner Heimat als hymnische Gesangseinlagen beimischt. – Der belesene Komponist greift zu St. Exupéry’s «Citadelle» und schreibt Les Paraboles, ein Orchesterstück mit viel Schlagwerk zu jenen im Buch dargestellten Parabeln, nicht ohne den Hauch eines nach Dvořák klingenden lyrischen Sounds und den von Debussy inspirierten Parallel-Akkorden:
The Greek Passion
Während eines seiner häufigen Aufenthalte in Nizza entdeckt er den Roman ‘Alexis Sorbas’ und sucht den ebenfalls hier wohnenden Nikos Kazantzakis auf. Ihr Gespräch nimmt im Nu philosophische Dimensionen an und der Dichter empfiehlt Martinů anstelle von ‘Sorbas’ seinen ‘Wieder gekreuzigten Christus’. Dessen englisches Libretto inspiriert Martinů zu einem seiner Hauptwerke: The Greek Passion.
Nach dem ersten Weltkrieg wird Griechenland von der Türkei teilweise besetzt. In Lykovrissi, einem noch freien Dorf wird gerade das nächste Passionsspiel vorbereitet. Der Pope Grigoris verteilt die Rollen: Der Schmied Panaïs soll den Judas spielen, der Hirte Manolios Christus und die Dorf-Prostituierte Katerina Maria Magdalena. Der Pfarrer ermahnt seine Leute, den Charakter ihrer Figuren in der Zwischenzeit zu internalisieren. Da taucht plötzlich eine Flüchtlingsgruppe aus einem von den Türken besetzten Dorf auf, darunter eine total entkräftete Frau, die vor aller Augen zusammenbricht und stirbt. Der Pope verwünscht die Eindringlinge und warnt seine Leute vor der Gefahr einer eingeschleppten Cholera. Das Dorf ist gespalten: Manolios (Christus) weist den Flüchtlingen eine Unterkunft am nahen Berg zu, macht deren Betreuung zu seiner Lebensaufgabe und predigt die christliche Nächstenliebe, was die xenophobe Fraktion des Dorfes verärgert, allen voran den Priester, der von einem ‘kranken Schaf’ spricht, welches die Herde bloss anstecke, was Panaïs (Judas) dazu bringt, Manolios zu töten, derweil sich die schöne Katerina (Maria Magdalena) unter dem Einfluss des ‘heiligen’ Manolios in eine Art Schwester Theresa verwandelt und sich materiell und geistig für die Flüchtlinge einsetzt.
Die Musiksprache verfolgt hier einen überwiegend tonalen Diskurs. Die Chorpartien der Flüchtlinge sind hymnische Unisono-Gesänge mit karger Begleitung, bisweilen an byzantinische Kirchenmusik, an die italienische Renaissance oder an Gregorianik erinnernd. Drei Leitmotive tragen das Werk:
Gleich zu Beginn ertönt eine sakrale Hymne, die die Tiefe des Passions-Gedanken verkörpert (Motiv 1):
Das Kreuz-Motiv (2): ein Halbton-Bogen aus der Tradition der barocken ‘Lamentationes’, dem Bach’schen B-A-C H ähnlich, hier oft in den Szenen mit Manolios, beim Flehen der Flüchtlinge, beim Tod der erschöpften Frau Despinio und letztlich beim Trauergesang Katerinas nach der Ermordung ihres verehrten Manolios eingesetzt.
Der Schrei der sterbenden Despinio
Das Motiv der Läuterung (Motiv 3): ein aufsteigend-synkopierter Melodiebogen, von der unterlegten Sexte fortgetragen:
Die Handlungen der Katerina werden von diesem «Läuterungs-Motiv» begleitet, wie auch Manolios letzte Predigt vor der Kirchentür, bevor er umgebracht wird.
Martinů’s Oper schliesst mit dem wellenartigen Unisono-Gesang eines «Kyrie eleison» der am Ende abgewiesenen Flüchtlinge bei ihrem Wegzug ins Ungewisse…
Die geplante Uraufführung des Werks mit Rafael Kubelik wird von Covent Garden weil zu sprachlastig zurückgewiesen. Paul Sacher rät seinem Freund eine Verschlankung – und so kommt es 1961 in Zürich unter Sachers Leitung zur Uraufführung der deutschen Neufassung (2 Jahre nach Martinů’s Tod). Das bloss Gesprochene wird rezitativisch und im Arioso-Stil vorgetragen. Einzig der böse Judas behält seine Sprechrolle. Er soll keinen Zugang zur Musik haben.
Die letzten Jahre auf Schönenberg in Pratteln ist eine fruchtbare Zeit, trotz einer fortschreitenden Krebserkrankung des Komponisten, der vermehrt die Bilder seiner böhmischen Landschaft, der Stadt Brünn, seines Geburtsortes Policka, aber auch die Klänge der tschechischen Tänze in seinem Innern trägt. Seinem Freund Šafránek schreibt er: «Was mich gerettet hat ist, dass ich im Grunde ein Mann meines Volkes bin.» Die letzten Werke tragen deutlich die Handschrift eines Musikers, der sein Schaffen aus dem Fundus seiner Heimat schöpft: die Kantate Mikesch vom Berge, die Variationen über ein slowakisches Thema für Cello und Klavier, die Madrigale für gemischten Chor über mährische Gedichte, das Fête des Oiseaux für den Kinderchor Brünn und zuletzt das berühmte Nonett zum 35. Geburtstag des ‘Tschechischen Nonetts’. Harry Halbreich nennt es ein ‘Vermächtnis’ und das ‘tschechischste Werk’ von Martinů: Neben wilden Tanzrhythmen scheinen plötzlich filigrane Melodien auf wie hier vom Fagott vorgetragen:
Das Andante führt uns in die Schönheit der böhmischen Hügellandschaft, doch schrille Dissonanzen kratzen an der Idylle – Gedanken an den nahen Tod? – Doch im Schluss-Allegretto überwiegt der Schwung der Tänze mit den wechselnden Takten 2/4 – 3/4 und 5/8 – ein fröhlicher Ausklang.
Villa Schönenberg/Pratteln (© Gemeinde Pratteln)
Noch kurz vor seinem Tod will Martinů mit Charlotte noch kirchlich getraut werden. Er stirbt 1959 im Spital von Liestal und wird zuerst auf Sachers Privatgelände, später an seinem Heimatort Policka beigesetzt.
Q U E L L E N :
Charlotte Martinů, Mein Leben mit Bohuslav Martinů, Orbis, Prag 1978
Harry Halbreich, Bohuslav Martinů, Atlantis Verlag, Zürich 1968
- James Rybka, Bohuslav Martinů, The Compulsion to Compose, Scarecrow Press, Lanham 2011
Robert C. Simon, Bohuslav Martinů, a research and information guide, Routledge, New York/London 2014
Bohuslav Martinů, Griechische Passion, dt. Übersetzung für die Zürcher Aufführung, Universal Edition (Facsimile) – keine Jahresangabe
D I S C O G R A P H I E / Y O U T B E S :
Doppelkonzert für 2 Streichorchester und Klavier: Boston Symphony Orchestra, Rafael Kubelík (youtube audio von 1967)
+ Radom Chamber Orchestra u. Beethoven Academy Orchestra, M. Zóltowski (film 2012)
+ Prager Philharmonie, Charles Mackerras (youtube audio mit Partitur von 1982)
- Klavierkonzert: Margrit Weber, Bayerisches Radio-Symphonieorchester, Rafael Kubelík (youtube audio 1965)
+ Emil Lechner, Tschechische Philharmonie, Jiří Bělohlávek (alle 5 Konzerte, youtube audio)
Les Paraboles: Tschechische Philharmonie, Karel Ančerl (youtube audio 1961))
The Greek Passion : Wiener Symphoniker, Chaber Choir Moskau, Ulf Schirmer (= erste englische Fassung, Festival Bregenz 1999 (Film)
+ Brünner Philharmonie, philharmonischer Chor Prag, Charles Mackerras (= 2. dt .Fassung auf englisch, opulente Verfilmung in griechischer Landschaft – DVD 2007)
Nonett: Ensemble Wien-Berlin (youtube mit Partitur, 1988)
+ Festival Concert Hall, Chamber Music Concert (Film 2017)
17. September 2024 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.
Seit 2021 schreibt Josef Zemp Beitrag für den Blog der Akademie. In dieser Zeit ist eine facettenreiche Reihe von Beiträgen erschienen, die Sie hier nachlesen können.