Der Real Alcázar in Sevilla

Reif für die Insel? – Das geheimnisvolle Eiland vor der Küste Marseilles

Zugegeben, es ist nur eine sehr kurze Seereise. Man besteigt ein Boot am alten Hafen von Marseille und in wenigen Minuten ist die Felseninsel mit dem sagenumwobenen Château d’If erreicht. Es sei denn, der Mistral bläst. Dann wäre es auch heute noch zu gefährlich, dort anzulegen. Der Ausflug bleibt ein kleines Abenteuer.

Aber die rasche Überfahrt ist auch eine rasante Zeitreise. Ich kehre der modernen Großstadt Marseille den Rücken und steuere eine Insel an, auf der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Falls noch ein paar Minuten vor Abfahrt der regelmäßig verkehrenden Fähre bleiben, kann ich sie mir mit einem unterhaltsamen Vexierspiel vertreiben: Beim Anleger finde ich unter der Ombrière des britischen Stararchitekten Norman Forster wohltuenden Schatten. Die filigrane Stahlkonstruktion wurde 2013 anlässlich des Kulturhauptstadtjahres fertiggestellt. Schlanke Stützen tragen ein etwa 1000 Quadratmeter großes Dach, dessen Unterseite mittels polierter Edelstahlplatten verspiegelt ist. Es scheint zu schweben und tritt in einen interessanten Dialog mit der ebenfalls reflektierenden Wasserfläche des Hafenbeckens. In diesem etwas unwirklichen Licht werden aus den Passanten Akteure, die mit den Spiegelbildern über ihren Köpfen spielen. Die Ombrière ist das kleinste der aufregenden Gebäude, mit denen sich Marseille seit einigen Jahren schmückt.

Abb. 2 „Ombrière“ von Norman Forster

Das höchste ist die Tour CMA CGM, ein Bürohochhaus nach Entwürfen der 2016 verstorbenen Architektin Zaha Hadid. Bei dieser neuesten Landmarke handelt es sich bezeichnenderweise um den Hauptsitz eines der weltweit führenden maritimen Logistikunternehmen. Der Seehandel bestimmte die Geschicke Marseilles von Anfang an.

Abb. 3 Im Vordergrund der alte Hafen, dahinter der Fährhafen und rechts der Büroturm von Zaha Hadit

Und die Geschichte dieser „ältesten Stadt Frankreichs“ ist lang. Massalia wurde im 6. Jahrhundert v. Chr. als griechische Handelsniederlassung gegründet. Archäologen haben eindrucksvolle Spuren des antiken Hafens gefunden. Dieser war die Keimzelle der Stadt. Immer war sie zum Meer hin ausgerichtet. Und so sollte man sie auch vom Meer her entdecken.

Ich besteige also die Fähre zum Château d’ If. Sobald das Boot ablegt, wird der Blick vom phantastischen Uferpanorama magisch angezogen. Ich wende mich gegen die Fahrtrichtung und schaue zurück auf die Bucht von Marseille. Wir verlassen den alten Hafen, in dem heute nur noch Sportboote und Yachten auf den Wellen schaukeln. Längst wurden moderne Hafenanlagen weit draußen vor der Stadt errichtet. Aus der wachsenden Distanz verstehe ich die Topographie Marseilles besser, das sich mir präsentiert wie ein Geschichtsbuch.

Abb. 4 Einfahrt in den alten Hafen, rechts Notre Dame de la Garde, unterhalb davon das Fort Saint-Nicolas

Wie die Perle in der Muschel muss der natürliche Schlupfhafen einst gewirkt haben. Er wurde im Laufe der Jahrhunderte verändert und ausgebaut, aber die Perle weckte stets Begehrlichkeiten. Erst 1481 fiel Marseille, zusammen mit der gesamten Provence, an Frankreich. Doch die stolze Stadt hatte sich viele Freiheiten ausbedungen. Daher musste der französische König, wenn er seine „gute Stadt Marseille“ besuchte, an der Porte Royale beim feierlichen Einzug erst einmal Privilegien bestätigen, bevor man ihm die Schlüssel überreichte.

Vermutlich unterwarf sich auch Franz I. diesem Protokoll, als er am 22. Januar 1516 anreiste. Er kam nicht nur in politischer Mission, sondern auch aus touristischer Neugier. Auf der Felseninsel If in der Bucht von Marseille konnte man damals ein Tier bestaunen, das bis dato in Europa unbekannt war: Ein Rhinozeros aus Übersee war dem portugiesischen König geschenkt worden und er wollte dieses seltene Exemplar zur Beflügelung seiner Kolonialpolitik an den Papst weiterexpedieren.

Auf der sicher beschwerlichen Seereise nach Rom machte das indische Plattennashorn vor Marseille Station. Albrecht Dürer zeichnete es, ohne allerdings das Tier jemals selbst in Augenschein genommen zu haben. Seine als Druck verbreitete Darstellung nimmt sich daher auch etwas wunderlich aus. Übrigens ertrank die arme Kreatur auf der Weiterreise, so dass der Papst lediglich in den Genuss der ausgestopften Überreste kam.

Abb. 5 Das Rhinozeros für den Papst

Bei Gelegenheit dieses Besuches hat Franz I. vermutlich das strategische Potential der Insel, aber auch die Verwundbarkeit der Stadt vom Wasser her erkannt. Ein Angriff durch Truppen Karls V. 1524, seines ewigen Rivalen, ließ den Entschluss reifen: 1529 wurde auf dem felsigen Eiland mit dem Bau des Château d’If begonnen. Das Ergebnis war eine eher mittelalterlich aussehende Burg. Eine Vierflügelanlage mit Ecktürmen gruppiert sich auch heute noch um einen recht engen Innenhof.

Gleichzeitig ließ Franz I. auf dem Festland das Fort Notre Dame de la Garde bauen. Diese Festung ist inzwischen fast verschwunden. Aber der Name blieb: Eine so betitelte Kirche erhebt sich nämlich seit dem 19. Jahrhundert auf dem Unterbau der ehemaligen Verteidigungsanlage. Die pseudo-byzantinische und erstaunlicherweise von einem Protestanten entworfene Pracht der Wallfahrtsbasilika bildet einen Blickfang hoch über der Stadt. Statt der Kanonen sollte nun die Jungfrau Maria Marseille beschützen. Schaue ich vom Wasser aus zurück, sehe ich sie rechter Hand und erinnere mich an den recht beschwerlichen Aufstieg über viele Treppen. Aber man wird durch eine wunderbare Aussicht belohnt.

Der Notre Dame de la Garde gegenüber, auf der anderen Seite der Hafeneinfahrt, liegt die ältere Festung der Johanniter mit ihrem trutzigen, nach dem Patron des Ritterordens benannten Turm. Die Besatzungen dieser drei Militärbauten sollten den Hafen schützen und im Notfall verteidigen. Zu Anfang des 21. Jahrhunderts wurde auf dem lange für Zivilisten verbotenen Militärgelände des Fort Saint Jean das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeeres errichtet. Die in Abkürzungen geradezu verliebten Franzosen nennen es kurz „MuCEM“.

Der Architekt Rudy Ricciotti bezog die historischen Bauten des Forts in seinen faszinierenden Baukomplex mit ein. Elegante Fußgängerbrücken in schwindelnder Höhe verbinden die einzelnen Gebäude. Ein filigraner Vorhang aus Spezialbeton filtert das gleißende Licht, aber erlaubt spektakuläre Blicke nach draußen über Wasser und Himmel.

Abb. 6 Links das MuCEM, dahinter die Kathedrale und rechts ein Teil des ehemaligen Forts Saint-Jean

Als das Boot bei der Insel anlegt, bin ich fast ein wenig traurig, dass meine Seereise schon zu Ende ist. Und dann werde ich auch noch „schikaniert“! Ich muss auf dem kurzen Weg zur Burg eine „chicane“ überwinden. So nennt man den aus strategischen Gründen im Zickzack angelegten Zugang. Doch diese militärische Raffinesse war eigentlich schon seit dem 17. Jahrhundert obsolet. Der Bau war damals längst nicht mehr zur Verteidigung gegen äußere Feinde gedacht.

Ludwig XIV. hatte die einstigen Freiheiten der stets aufmüpfigen Stadt radikal beschnitten. Als man ihm 1660 bei seiner Entrée an der Porte Royale die Schlüssel verweigerte, weil er die Privilegien der Stadt nicht bestätigen wollte, ließ er kurzerhand eine Bresche in die Mauer schlagen. Der Sonnenkönig brauchte keinen Schlüssel. Er ließ die heute noch in Teilen erhaltene und immer noch militärisch genutzte Festung Saint Nicolas errichten und drückte der Stadt seinen Stempel auf. Fortan war das Château d’If ein Gefängnis. Die Touristen lieben den angenehmen Schauder und das wohlige Gruseln, die ein solch finsterer Ort auszulösen vermag. Vor allem, wenn man nachher im heiteren Sonnenlicht ein Eis schleckt. Leider war der „Mann mit der eisernen Maske“, ein angeblicher Zwillingsbruder des Sonnenkönigs, wohl nie hier.

Das gilt auch für den berühmtesten Gefangenen auf der Insel, den „Grafen von Monte Christo“. Sein Schöpfer Alexandre Dumas hat ihn frei erfunden. Dennoch besichtige ich im Château seine Zelle. Die Romangestalt Edmont Dantès soll in diesem Verlies 14 Jahre unschuldig eingekerkert gewesen sein. Ich schaudere und grusele mich pflichtschuldigst. Der Held konnte entkommen, eingenäht in den Leichensack seines verstorbenen Leidensgefährten Abbé Faria. Man warf ihn von der Festung aus ins Meer. (Wieder: Schauder und Grusel.) Mit Hilfe des Schatzes, dessen Versteck Faria ihm verraten hatte, begab er sich als „Graf von Montechristo“ auf einen furchtbaren Rachefeldzug.

Ich besichtige die reale Maueröffnung, die die beiden erfundenen Gefangenen in mühseliger Arbeit zwischen ihren beiden Zellen geschaffen hatten. Auch Dumas konnte sie wohl bei seinem Besuch der Festung in Augenschein nehmen. „Ein enges Loch, das beide Zellen verbindet, war der Anlaß zu seinem Roman, dem gelesendsten der Weltliteratur“, so schrieb der rasende Reporter Egon Erwin Kisch, „um dieses Loch herum schrieb er sein Buch. Angesichts einer kahlen Felseninsel von stöhnendem Kalk, angesichts erbarmungsloser Wälle und finsterer Wölbungen und vergitterter Luken, angesichts einer dreihundertjährigen Vergangenheit von Qualen geschichtsbekannter Kerkersträflinge begann er das Leben eines zu erzählen, der niemals gelebt“ (Kriminalistisches Reisebuch, Erstveröffentlichung 1927).

Abb. 7 „eine kahle Felseninsel von stöhnendem Kalk“

Über dem ungeheuer populären Romanhelden wurden vielen Menschen, die tatsächlich im Château d’If inhaftiert waren, weitgehend vergessen. Mit einer Ausnahme: Honoré Gabriel Riqueti, bekannt als Conte de Mirabeau, war jedenfalls im 19. Jahrhundert noch sehr präsent. Dabei war er gar kein politischer Gefangener. Sein ziemlich verrückter Vater hatte den Sprössling einsperren lassen, um ihm seine angebliche Verschwendungssucht auszutreiben. Von September 1774 bis April 1775 lebte Mirabeau, nicht ohne standesgemäßen Komfort, auf der Insel. Er redigierte daselbst seinen „Essay über den Despotismus“ und fand nebenher noch Zeit, die Köchin zu verführen. Alexandre Dumas schrieb: „Die Insel If ist nichts als ein Felsenriff; aber auf diesem Riff ist eine Festung; und in dieser Festung ist der Kerker Mirabeaus. Daher kommt es, dass die Insel If eine Art politischer Wallfahrtsort geworden ist.“ (Une année à Florence, 1840)

Abb. 8 Statue Mirabeaus im Justizpalast von Aix-en-Provence

Über diesen schillernden Gestalten, historischen oder erfundenen, vergisst man leicht die weitgehend anonym gebliebenen Opfer politischer Willkür. Wer erinnert sich noch an die Namen der Hugenotten, die nach Aufhebung des Edikts von Nantes unter Ludwig XIV. hier eingekerkert waren? Dem schwachen Gedächtnis der Menschen tatkräftig aufhelfen wollten augenscheinlich die einsitzenden Aufständischen von 1848. Ihre in den Stein gemeißelten Inschriften sind heute noch an den Gefängnismauern zu lesen.

Wer entsinnt sich noch der Gefangenen der Comune von Marseille? Wie in Paris wurden die Aufständischen auch hier gnadenlos verfolgt und eingekerkert. Das geschah 1871, vor genau 150 Jahren. Ihr Anführer Gaston Crémieux (1836-1871) wurde hingerichtet. Seine letzten Briefe an Frau und Sohn vermögen heute noch zu rühren. Sein schmales schriftstellerisches Werk erschien posthum, begleitet von einem Brief Victor Hugos. Crémieux verwünschte das Château d’If, „dieses abscheuliche politische Gefängnis, wo die Häftlinge vom Ungeziefer gequält werden, auf Stroh oder vielmehr Mist schlafen […] und die knappe Luft durch ein enges Gitter atmen; wo 80 Gefangene in einer Kasematte waren, die kaum 40 fassen konnte.“

Auf dem Transport vom Gericht zu einem anderen Gefängnis bemerkte Crémieux, zugleich wehmütig und hellsichtig: „Sechs Tage war es her, dass wir in freier Luft geatmet hatten und dieser unbestimmte Duft liebkoste unsere Einbildungskraft und unsere abgestumpften Sinne. Auf dem offenen Meer das Château d’If, wo so viele andere seufzten. Noch weiter draußen, der grenzenlose Luftraum. Und diese Vision von Freiheit wird verschwinden und ich werde nichts weiter mehr sehen, als das feuchte und finstere Gewölbe unserer Kasematte.“

Er sollte Recht behalten. Und nun schaudert es mich wirklich. Wie froh bin ich, als mich nach kurzer Überfahrt wieder das heitere Treiben am alten Hafen umgibt.

Hinweis

Vom 6. bis 11. Oktober 2021 können Sie mit Frau Dr. Elisabeth Peters und der Thomas-Morus-Akademie nach Marseille reisen und auch die das Château d’If erkunden. Hier finden Sie weitere Informationen zur Ferienakademie „Marseille – Stadt der Kontraste“.

Bildnachweise:

Teaserfoto und Abb. 1 Felix Oprian;
Abb. 2 Foto Fred Romero, Paris (CC Attribution 2.0. Generic licence);
Abb. 3 Foto Mike (CC Attribution 3.0 Imported);
Abb. 4  Foto Didier Duforest (CC Attribution-Share Alike 4.0 International licence);
Abb. 5 Foto Metropolitan Museum of Art  (CCO 1.0 Universial Domain Dedication);
Abb. 6 Foto Olena Ilnytska (CC Attribution-Share Alike 4.0 International license;
Abb. 7 Foto Martha Peters; Abb. 8 Foto Rvalette (Attribution-Share Alike 4.0 International license)

 

19. Juli 2021 || ein Beitrag von Dr. Elisabeth Peters, Kunsthistorikerin

Teamleiterin Sandra Gilles