Lourdes 1940 – Ein Gelübde und ein Bestseller

Der 11. Februar ist der Gedenktag „Unserer Lieben Frau von Lourdes“. 1858 erschien der damals 14-jährigen Bernadette Soubirous in einer Grotte bei Lourdes die Gottesmutter Maria zum ersten Mal. Franz Werfel, der 1940 für mehrere Wochen Herberge in Lourdes fand, las die wundersame Geschichte der heiligen Bernadette. Er gelobte, falls er die Flucht nach Amerika überlebe, ein Buch über sie zu schreiben. Dr. Elisabeth Peters geht der Entstehung des Romans nach.

Man kann den Gedenktag Unserer Lieben Frau von Lourdes, heute am 11. Februar, sicher auf frommere Weise begehen als mit dem Schmökern in einem schon etwas angestaubten Bestseller. Trotzdem möchte ich zum heutigen Marienfest an einen Roman erinnern, in dem die „Dame von Lourdes“ eine wichtige Rolle spielt. Es soll um Franz Werfels Buch „Das Lied von Bernadette“ gehen, das 1941 zunächst in den USA erschien. Die Umstände seiner Entstehung sind dramatisch. Vielleicht dramatischer als die Handlung selbst. Diese setzt ein mit dem 11. Februar 1858. Das war der Tag, als die „Dame“ der vierzehnjährigen Bernadette Soubirous beim Reisigsammeln erstmals erschien. Das Buch endet mit der Schilderung der Feierlichkeiten zur Heiligsprechung Bernadettes in Rom 1933. Nein, nicht ganz. Ganz am Schluss heißt es: „Unter dem Himmel Roms, wo alle Heiligen versammelt sind und die neue Heilige feiern, dröhnt ein Militärflugzeug.“ Hier stößt die damals äußerst bedrohliche Gegenwart des Schriftstellers in die erbauliche Erzählung von den Visionen der Bernadette hinein. Ansonsten treten Persönlichkeit und Lebensumstände des Autors völlig zurück. Nur einmal ist es wohl die Stimme Werfels, mit der eine Nebenfigur die Überzeugung äußert, „daß Zeiten, die den göttlichen Sinn des Universums leugnen, vom kollektiven Wahnsinn blutig geschlagen werden“.

In der Tat war es eine Zeit „kollektiven Wahnsinns“, in der Werfel den Plan zu seinem kommerziell erfolgreichsten Roman fasste. Dies geschah im Sommer 1940 im südfranzösischen Lourdes. Damals lebte Werfel inzwischen seit mehr als zwei Jahren im Exil. Nach dem Anschluss Österreichs hatte er am 14. März 1938 seinem amerikanischen Verleger geschrieben: „Mein lieber Freund, ich schreibe dir heute mit blutendem Herzen. Es gibt kein Österreich mehr. Ich habe den letzten Rest meiner Sprachheimat verloren. Höchstwahrscheinlich werde ich mein Arbeitshaus am Semmering nie wieder betreten […]“. Werfel sollte Recht behalten. Nach abenteuerlicher Flucht über die Pyrenäen würde er letztendlich im Oktober 1940 aus Lissabon nach New York entkommen. Werfel starb am 26. August 1945 in Beverly Hills.

Spätestens seit 1938 empfand er sich als Schiffbrüchiger. Zeitweise hatte er, wie viele namhafte Schriftsteller und Künstler, Zuflucht in Sanary-sur-Mer gefunden. Vielleicht schrieb er das folgende Poem aus dem Umkreis der „Gedichte 1938“ mit Blick auf die malerische Bucht dieses kleinen Badeortes am Mittelmeer:

Ich brech mit seltsamem Geschick
Aus meiner Zeit mir Augenblicke
Und forme mir mit rascher Schrift
Im Schiffbruch, der mich täglich trifft.

Dann schleudr‘ ich meine Flaschenposten
Die Spante bricht, die Planke kracht,
In die zerwühlte Zeitenmacht.

Nichts kann vom Untergang mich retten
Doch wird die Woge einst sich glätten,
Vielleicht spült sie von meiner Hand
Den Hilferuf an fernsten Strand.

Spätestens seit dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 war Frankreich für Juden und Nazi-Gegner keine sichere Zuflucht mehr. Panik erfasste das Land nach dem Zusammenbruch. Werfel beschrieb im Vorwort seines Lourdes-Romans die letzten Junitage aus seiner unmittelbaren Erinnerung:

„Die Départements der Pyrenäen waren zu einem phantastischen Heerlager des Chaos geworden. Die Millionen dieser seltsamen Völkerwanderung irrten auf den Landstraßen umher und verstopften die Städte und Dörfer: Franzosen, Belgier, Holländer, Polen, Tschechen, Österreicher, exilierte Deutsche und dazwischen die Soldaten der geschlagenen Armeen. Nur höchst notdürftig konnte man seinen Hunger stillen. Obdach aber gab es überhaupt keines mehr. Wer irgendeinen gepolsterten Stuhl eroberte, um die Nacht darauf zu verbringen, wurde viel beneidet. In endlosen Reihen standen die mit Hausrat, Matratzen, Betten hochbeladenen Autos der Flüchtlinge unbeweglich, denn Treibstoff war nicht mehr vorhanden. In Pau hörten wir von einer dort ansässigen Familie, Lourdes sei der einzige Ort, wo ein vom Glück Begünstigter vielleicht noch Unterkunft finden könne. […] Auf diese Weise führte mich die Vorsehung nach Lourdes, von dessen Wundergeschichte ich bis dahin nur die oberflächlichste Kenntnis besaß.“

Die Werfels blieben fünf Wochen in Lourdes. Im Roman wird Werfel die Stadt in ihrer prangenden Hässlichkeit schildern: „Wenn man sich umblickt, könnte man denken, man sei in einem ganz billigen Badeort oder im Vergnügungsbezirk einer Hafenstadt, nicht aber im Lourdes der Mirakel. Überall herrscht der Geschmack des kleinen Kurkasinos, des provinziellen Varieté-Theaters und Hippodroms […] Ringsum ist ein Babylon der religiösen Konfektion aufgestapelt. […] Die Zuckerbäcker der kirchlichen Architektur und Kunst siegten auf der ganzen Linie.“

Trotz der etwa 300 Hotels, die der blühende Wallfahrtsort zu bieten hatte, war eine Unterkunft schwer zu finden. Aus der Autobiographie der Alma Mahler-Werfel erfahren wir etwas über die bedrückenden Lebensumstände. Obwohl nicht frei von Selbstüberschätzung, Antisemitismus und politischer Naivität, sind Almas Memoiren überaus lesenswert. Und das nicht nur (aber auch), weil sie darin ihre berühmten Männer und Liebhaber Revue passieren lässt: Gustav Mahler, Walter Gropius, Oskar Kokoschka und eben auch Franz Werfel.

Schließlich wurde doch ein Unterschlupf im Hotel „Vatican“ frei. „Das Gefühl der Erleichterung war unbeschreiblich. Noch unbeschreiblicher allerdings … dieses Zimmer. Es ging auf ein Glasdach, auf dem der Unrat der oberen Stockwerke ab-geworfen wurde. Es war so groß wie ein WC, und in dieser ärmlichen Klause wohnten wir nun vierzehn Tage. Später bekamen wir ein besseres Zimmer […] Am ersten Morgen gingen wir aus: Franz Werfel, um sich rasieren zu lassen, und ich schlenderte die Buchläden entlang und fand ein Büchlein über die kleine Heilige Bernadette. Waren wir schon hier, so sollte man sie doch kennen. Ich gab Werfel das Buch mit der Bemerkung, daß es etwas sehr Merkwürdiges sei, und er las es mit äußerstem Interesse. Nach und nach kaufte ich noch alle Traktätchen über die heilige Bernadette. […] Franz Werfel verschwand am letzten Tag unseres Aufenthaltes in Lourdes für längere Zeit. Ich frug ihn nicht, wo er gewesen war, aber er sagte freimütig: Ich habe gelobt, daß ich ein Buch zur Ehre der heiligen Bernadette schreiben werde, wenn wir glücklich in Amerika ankommen.“

Werfel hielt sein Versprechen und nannte sein Buch ein „erfülltes Gelübde“. Er widmete es allerdings nicht der Bernadette Soubirous oder einem kirchlichen Würdenträger, sondern dem Andenken seiner Stieftochter Manon. Die 1916 in Wien geborene Manon war Almas dritte Tochter und wohl das einzige Kind aus der Verbindung mit Walter Gropius. Nach einjährigem Siechtum starb Manon Ostern 1935 an den Folgen der Kinderlähmung. Der Zauber und die Reife ihrer Persönlichkeit müssen auch in ihren letzten Monaten beeindruckend gewesen sein. Elias Canetti beschrieb sie einst als „Engelsgazelle, nicht von der Arche, sondern vom Himmel“. Alban Berg komponierte 1935 ein Violinkonzert für sie und widmete es „Dem Andenken eines Engels“. Wenn Werfel das „jugendliche Geschöpf“, das der Bernadette in der Grotte von Lourdes erscheint, etwas exaltiert als „schwebend zierliche Mädchenheit“ beschreibt, dann schwingt sicher die Erinnerung an seine verstorbene Stieftochter mit. Alma schenkte nach Manons Tod Franz Werfel die Bibel aus dem Besitz ihrer Tochter. Das ist eine bemerkenswerte Geste, war Werfel doch nach wie vor Jude. Vielleicht ein Appell der inzwischen erzkatholischen Alma? Jedenfalls schrieb der zeitlebens ungetaufte Jude Werfel einen sehr katholischen Roman. Für sich lehnte Werfel die Taufe aus Gründen menschlicher Solidarität strikt ab: „Israel geht durch die Stunde seiner unerbittlichsten Verfolgung. Ich könnte mich nicht dazu bringen, mich in dieser Stunde aus den Reihen der Verfolgten fortzuschleichen.“ Dennoch fühlte er sich dem Christentum und insbesondere der katholischen Kirche eng verbunden. An den Erzbischof von New Orleans schrieb Werfel am 27. Oktober 1942: „Ich sehe in der katholischen Kirche die reinste von Gott auf die Erde gesandte Kraft und Emanation, um die Übel des Materialismus und Atheismus zu bekämpfen und um der armen Menschenseele die Offenbarung zu bringen. Aus diesem Grunde und obwohl extra muros stehend habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, mit meinen bescheidenen und geringen Mitteln den von der katholischen Kirche geführten Kampf gegen diese Übel und für die göttliche Wahrheit zu unterstützen“. So sollte sein „Lied von Bernadette“ weniger ein literarisches Kunstwerk als ein Trostbuch sein. Werfel scheute sich daher auch nicht, gelegentlich die Grenze zum religiösen Kitsch zu streifen. „Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, ein besonders gutes Buch zu schreiben. Eines aber weiß ich gewiß: Der Leser wird durch das Verdienst und Mittlertum meiner Heldin Bernadette Soubirous Gaben des Trostes und der Aufrichtung empfangen, die er in einem anderen und vielleicht besseren Roman nicht finden würde.“

Sollten auch Sie in diesen Zeiten „Trost und Aufrichtung“ brauchen, dann hören Sie doch einfach einmal ins Buch hinein. Ich habe für Sie den Abschnitt, in dem Werfel von der letzten Begegnung Bernadettes mit der „Dame“ erzählt, in meinem Home-Studio aufgenommen.

Bildnachweis

Der 11. Februar 1858 (Foto anonym CC BY-SA 2.0)
Le moulin gris, Werfels Domizil in Sanary (Foto Anima CC BY-SA 3.0)
Amerikanische Farblithographie (Foto gemeinfrei)
Die Erscheinungsgrotte (Foto José Luiz Bernardes Ribeiro CC BY-SA 3.0)

11. Februar 2021 || ein Beitrag von Dr. Elisabeth Peters, Kunsthistorikerin