Tanz auf dem Labyrinth
Zu den wohl ältesten Symbolen der der Menschheitsgeschichte gehört das Labyrinth. Auf engen, verschlungenen Wegen sowie unter vielfachem Richtungswechsel führt es zielstrebig zu seiner Mitte. Doch sind auch manche Verzweigungen eingebaut, die in einer Sackgasse enden. So entsteht ein ausdrucksstarkes Sinnbild für den Weg unseres Lebens. Der aber kann ganz unterschiedlich verlaufen.
Wo mir das Leben wenig Widerstände entgegensetzt, wo der Traum von Erfüllung und großem Glück nicht gestört wird, da mag ich die Windungen des Weges wie ein Kinderspiel nehmen. Die Dichterin Marie-Luise Kaschnitz (*1901 †1974) hat dem in ihrem Sonett „Das Labyrinth“ unnachahmlich Ausdruck verliehen:
Traumgärten spielerisch sich zu verirren
Ersannen wir und liebten ihre Schatten,
Und waren stolz die Fäden zu entwirren,
Die wir erfinderisch verschlungen hatten.
Doch wie schnell ist es um diese Unbeschwertheit geschehen, wird aus dem Spiel bitterer Ernst. Wie schnell entfremdet einem die Enttäuschung das scheinbar so Vertraute? Davon handelt die zweite Strophe des Gedichts:
Von andrer Art sind nun die Labyrinthe
Und gleichen Gärten nicht und Heckenwegen
Und lächelnd tritt uns nicht im Laubgewinde
Der Liebste hier und dort der Freund entgegen.
Ständig bleiben wir der Gefahr ausgeliefert, uns im Gewirr zu verlieren. Die Mitte des Labyrinths zu erreichen, ist das Ziel und doch kein Ende. Vielmehr ein Wendepunkt, um verwandelt zurückzukehren in ein neues Leben. Die Dichterin weiß sehr wohl, dass dabei mitunter alles auf dem Spiel steht, dass Wege, die heiter und harmlos begannen, am Ende in einen einzigen, unerbittlichen „Kampf ums nackte Dasein“ münden:
Nur eines ist gemeint. Hindurchzufinden.
Nur eine Richtung und nur eine Kraft,
Und um uns her müht eine Schar von Blinden
In unterweltlich drängendem Bestreben
Mit Stoß und Schlag und Schrei der Leidenschaft
Sich um den einen Ausweg: Um das Leben.
Einst kämpften sich in der Kathedrale von Chartres die Menschen auf Knien durch die Windungen des großen Bodenlabyrinths. Doch einmal im Jahr war alles anders. Sobald die Ostersequenz anhob – das große Loblied auf den ‚Sieg des Lammes‘ begann der Domklerus, über die Irrwege des Labyrinths zu tanzen und sich dabei einen goldleuchtenden Ball zuzuspielen. Der Ball zieht quer über den steinernen Irrgarten, so wie die österliche Sonne ihren Siegeszug über die Finsternis des Todes angetreten hat. Nicht ‚Furcht und Entsetzen‘ sollen uns packen (vgl. Mk 16,8) und in den Sackgassen des Scheiterns und der Resignation festhalten. Die österliche Morgenröte ruft mich heraus aus dem toten Winkel. Sie spielt mir eine Hoffnung zu, mit der ich Mauern überspringen kann. Dieses Licht wird ihn mir sicher weisen: den „Ausweg Leben“.
Das Labyrinth der Kathedrale von Chartres | Anfang des 13. Jahrhunderts (gemeinfrei – aus einem Pfarrbrief)
30. März 2024 || ein Beitrag von Pfarrer Dr. Axel Hammes, geistlicher Berater der Thomas-Morus-Akademie Bensberg