Festwoche zum 275. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe
Wie würde man seinen 275. Geburtstag feiern? Vor allem dann, wenn man (zumindest statistisch betrachtet) zu den zehn wichtigsten Deutschen gehört? Ich stelle mir den Geburtstag von J.W.G., der zwar immer noch als der bedeutendste Dichter dieses Landes gilt, aber mit seinem Hauptwerk FAUST kaum noch in den Lehrplänen der Schulen vertreten ist, als eine würdig-steife Haupt- und Staatsaktion vor, die er, der Jubilar, eher mürrisch und wortkarg über sich ergehen lässt:
Der Bundespräsident hält eine gut sortierte Rede, wie so oft in salbungsvollem Tonfall, und verleiht dem Dichter das Große Verdienstkreuz. Im Publikum wird höflich und lang applaudiert, denn was der alte Herr wirklich geschrieben hat, der nun mühsam auf die Bühne des Theaters klettert, dem er ehemals als Intendant vorstand, wissen die wenigsten: Ein wenig mehr als diesen WERTHER, der sich aus Liebeskummer erschießt, ja, ein paar Balladen, Dramen, dann den FAUST, das ist klar. Gott sei Dank, hat er seinem Briefroman schon damals eine Triggerwarnung vorangestellt, sonst würde der heute wohl wieder auf dem Index stehen, überlegt J.W.G., als er mit Schärpe und Orden behängt, auf seinen Platz zurückkehrt.
Er sitzt in der ersten Reihe und denkt ans Mittagsmenü und an einen morgendlichen Spaziergang im Garten hinterm Haus vor langer Zeit, bei dem er, angeregt von Alexander Humboldt, über den Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft nachsann. Seine Dankesrede fällt kurz aus. Nach 275 Jahren ist alles gesagt, findet er.
Die Mittagsgesellschaft trifft sich natürlich im Hotel Elephant. Zuviel flacher, einfältiger Tourismus, murmelt er, als er beinahe über die Samsonite-Rollkoffer einer Seniorenreisegruppe aus China stolpert. Die sehr junge Reiseleiterin, der er wohlwollend zulächelt, hindert ihn am Sturz. An wen erinnert sie ihn? An Ulrike von Levetzow? Nein, dem Gedanken mag er nicht nachhängen, stattdessen konzentriert er sich auf Tafelspitz und Madeira. Er weiß, seine Ess- und Trinkgewohnheiten haben die verschiedensten Biografen festgehalten, und schließlich ist es manchmal leichter in der Öffentlichkeit dem Bilde zu genügen, das diese sich von ihm gemacht hat. Lieber würde er eine Bratwurst am Stand verzehren und ein profanes Bier dazu trinken. Aber das kann er ja später machen, wenn das offizielle Brimborium vorbei ist, nimmt er sich vor. Er schaut die Gäste an der Tafel an, die ihm fremd sind. Was er in seiner ZUEIGNUNG formuliert hat, schießt ihm durch den Kopf: „Was ich besitze, seh’ ich wie im weiten,/Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.“
Er wäre gern zu Hause, aber wo soll das sein, da doch das Haus am Frauenplan jetzt ein Museum geworden ist? Wer betritt schon gern ein Museum, in dem das eigene Leben zum Ausstellungsobjekt geraten ist?
Also zurück in die sogenannte Fürstengruft, wieder in den Schlaf des Vergessens sinken – wie die ganzen 192 Jahre zuvor! Zum 200. Todestag kann ich ja tot sein, denkt er und muss lachen. Den müssen sie ohne mich feiern!
Über die Festwoche
Am 28. August 2024 jährt sich der Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe zum 275. Mal. Dieses besondere Datum nehmen wir zum Anlass, eine festliche Woche in unserem Blog zu gestalten. Vom 26. August bis 31. August erwartet Sie täglich ein neuer Beitrag, in dem verschiedene Autorinnen und Autoren ihre Vorstellungen davon teilen, wie Goethe seinen Geburtstag in der heutigen Zeit feiern würde. Wie würde er diesen besonderen Tag begehen? Wen würde er einladen? Wo würde die Feier stattfinden? Freuen Sie sich auf sechs facettenreiche Beiträge. Feiern Sie mit uns und lassen Sie sich von den kreativen Beiträgen inspirieren!
30. August 2024 || ein Beitrag von Beate Seidel, Chefdramaturgin Nationaltheater Weimar