Frühgeschichte – Krankheit – Evolution
„Multiple Sklerose – Wie eine tödliche Nervenkrankheit nach Europa kam“, so titelte „Die Welt“ am 15. Januar 2024. Zum Hintergrund: Multiple Sklerose (MS) ist eine weit verbreitete Autoimmunerkrankung, die in Nordeuropa allerdings deutlich häufiger auftritt als in Südeuropa. Woran liegt das, wenn die Verbreitung von Krankheitserregern wie Viren oder Bakterien keine Rolle spielt? Wie kommt eine Krankheit irgendwo hin? Heute zur Verfügung stehende Methoden der DNA-Sequenzierung haben eine Fusion von Bio- und Geschichtswissenschaften ermöglicht, die solche Fragen untersuchen kann.
Die Ursachen für MS sind komplex. Sowohl Umweltfaktoren als auch genetische Unterschiede zwischen Menschen spielen eine Rolle. Für Anfang dieses Jahres veröffentlichte Studien wurde die DNA von Menschen sequenziert, die vor mehreren tausend Jahren in Europa und dem westlichen Asien gelebt haben. Aus den Daten zu Sequenzunterschieden lässt sich die Geschichte der Besiedlung unseres Kontinents rekonstruieren. Vor 15.000 Jahren lebten in Europa Jäger-und-Sammler-Kulturen. In den folgenden 10.000 Jahren hat sich dann auch hier eine der großen Revolutionen der Menschheitsgeschichte ereignet, die Umstellung auf eine sesshafte Lebensweise mit Pflanzenanbau und Viehhaltung. Hirten sind vor ca. 5.000 Jahren mit domestizierten Tieren aus dem Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres eingewandert. Diese Population hat auch eine Genvariante mitgebracht, die das MS-Risiko deutlich erhöht. Und in Nordeuropa leben mehr Menschen, die diese Variante in ihrem Erbgut tragen.
Wie lässt sich das erklären? Eine Antwort der Evolutionstheorie ist, dass die Genvariante unter bestimmten Bedingungen vorteilhaft für das Überleben war (oder ist) und deshalb häufiger wurde (selektiert wurde), da mehr Individuen mit dieser Variante Nachkommen hervorgebracht haben. Tatsächlich legen die Daten diesen Schluss nahe. Doch warum sollte ein erhöhtes MS-Risiko vorteilhaft sein? Autoimmunerkrankungen sind oft die Kehrseite eines aktiven Immunsystems. Genetische Faktoren, die das Risiko für solche Krankheiten erhöhen, haben in bestimmten Phasen der menschlichen Geschichte möglicherweise den Vorteil einer robusteren körpereigenen Abwehr gebracht. Ganz sicher war das wichtig als die Menschen sesshaft wurden. Ein enger Kontakt mit Tieren – der in Regionen mit harten Wintern besonders wichtig war – und die allmählich ansteigende Bevölkerungsdichte haben zu einer viel größeren Bedrohung durch Krankheitserreger geführt. Unsere Vorfahren haben das überlebt, aber wohl auch einige Genvarianten vererbt, die unter heutigen Lebensbedingungen nachteilig sein können.
Das Seminar wird u.a. entlang solcher Geschichten die menschliche Evolution beleuchten und fragen, was wir im Lichte dieser Evolution über uns lernen können.
25. bis 26. Mai 2024 (Sa.-So.)
Die Evolution
Ihre Bedeutung für Wissenschaft und Weltbild
Naturwissenschaftliches Seminar
Bildnachweis: M. Garde, CC-BY-SA-3.0-migrated via wikimedia commons
10. April 2024 || ein Beitrag von Dr. Stephan Clemens, Professor für Pflanzenphysiologie und Gründungsdekan der „Fakultät für Lebenswissenschaften: Lebensmittel, Ernährung und Gesundheit“ an der Universität Bayreuth
Der Biologe Prof. Dr. Stephan Clemens ist Referent bei der Tagung
Die Evolution. Ihre Bedeutung für Wissenschaft und Weltbild
25. bis 26. Mai 2024 (Sa.-So.)